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Dramatische Lage in Afghanistan„Zynisch und völlig inakzeptabel“

Die Taliban rücken immer weiter vor. Linken-Abgeordnete Sevim Dağdelen fordert die „rasche koordinierte Evakuierung“ afghanischer Hel­fe­r.

Nach fast 20 Jahren sind die deutschen Soldaten aus Afghanistan abgezogen – geblieben ist Chaos Foto: Torsten Kraatz/Bundeswehr/dpa

Berlin taz | Mit Ratlosigkeit reagiert die Bundesregierung auf den anscheinend unaufhaltsamen Vormarsch der Taliban in Afghanistan. „Die Meldungen aus Kundus und aus ganz Afghanistan sind bitter und tun sehr weh“, teilte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Montag in einer Erklärung mit.

Die Bundeswehr habe am Hindukusch „alle Aufträge erfüllt, die ihr der Deutsche Bundestag gegeben hat“, so die CDU-Politikerin. „Was wir augenscheinlich nicht erreicht haben, ist ein dauerhaft und umfassend zum Positiven verändertes Afghanistan.“ Für die Ziele künftiger Auslands­einsätze „sollten wir daraus lernen“. So kann man ein Desaster auch umschreiben.

Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen Anfang Mai haben die Taliban nach und nach immer mehr Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht. Alleine am vergangenen Wochenende nahmen sie vier Provinzhauptstädte ein. Auch die strategisch wichtige Großstadt Kundus, in dessen Nähe jahrelang die Bundeswehr stationiert war, ist nunmehr weitgehend in der Hand der islamistischen Fanatiker.

Am Montag eroberten sie die Provinzhauptstadt Aibak in der Provinz Samangan. Die afghanischen Sicherheitskräfte sollen die Stadt mit ihren geschätzt 120.000 Einwohnern einfach verlassen haben. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Taliban auch in Kabul wieder die Macht übernehmen.

Immer schlimmere Gräueltaten

„Ich bin extrem besorgt über die sich verschlechternde Lage in Afghanistan“, sagte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths in einer Stellungnahme am Montag. Im Juli seien mehr als tausend Menschen durch Angriffe in den Konfliktprovinzen Helmand, Kandahar und Herat getötet oder verletzt worden.

„Die Gräueltaten werden von Tag zu Tag schlimmer“, sagte der für Afghanistan zuständige Unicef-Repräsentant Hervé Ludovic De Lys. Laut Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen wurden in den vergangenen drei Tagen in den afghanischen Provinzen Kandahar, Chost and Pakria mindestens 27 Kinder getötet. 136 weitere Minderjährige seien verletzt worden.

„Die Bilder vom raschen Vorrücken der islamistischen Taliban belegen nachdrücklich das klägliche Scheitern der Bundeswehrintervention im 20 Jahre dauernden Nato-Krieg in Afghanistan“, konstatiert die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen. „Es ging entgegen allen Kriegslügen nie um Menschenrechte, sondern allein um finsterste Geopolitik“, sagte Dağdelen der taz.

Das zeige sich jetzt auch in eklatanter Weise im Umgang mit den ehemaligen Ortskräften, die für die Bundeswehr und andere deutsche Stellen in Afghanistan gearbeitet haben. Notwendig sei die „rasche koordinierte Evakuierung“ der einstigen Helfer und deren Familien. Stattdessen jedoch verhandele die Bundesregierung mit den Taliban über eine vermeintliche Sicherheitsgarantie für sie. Das sei „zynisch und völlig inakzeptabel“.

„Schäbiges Kalkül der Bundesregierung“

Scharf kritisiert Dağdelen auch, dass die Bundesregierung nur einem begrenzten Kreis der ehemaligen Ortskräfte einen Anspruch auf Ausreise nach Deutschland zubillige. „Möglichst wenig Ortskräfte aufnehmen zu wollen, ist ein weiterer Beleg für das zynisch schäbige Kalkül der Bundesregierung bei ihrem Afghanistanfeldzug“, sagte sie.

Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums haben bisher 333 frühere Ortskräfte mit 1.342 Familienangehörigen nach Deutschland einreisen können. Sie erhalten aber zunächst nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Viele hoffen noch, ihnen folgen zu können.

Als antragsberechtigt gelten allerdings nur diejenigen Ortskräfte, die in den vergangenen zwei Jahren direkt bei einer deutschen Stelle angestellt waren, zum Beispiel dem Auswärtigen Amt oder dem Entwicklungshilfeministerium. Wer für das Verteidigungs- oder das Innenministerium gearbeitet hat, für den gilt ein etwas längerer Zeitraum.

Während die USA und Großbritannien auch nicht direkt Beschäftigte akzeptieren, reicht Deutschland die Tätigkeit für ein Subunternehmen nicht aus – obwohl sich die Taliban nicht für den Arbeitsvertrag interessieren, sondern dafür, ob man den westlichen Kräften geholfen hat.

Für die Ausreise wird ein Visum des afghanischen Staates benötigt. „Es gibt da offensichtlich gerade einen Engpass“, räumte der Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums, Arne Collatz, am Montag ein. „Die afghanischen Behörden schaffen es nicht, die Passpapiere in der nötigen Geschwindigkeit auszuteilen.“

Neuer Lagebericht angekündigt

Dass die Lage in Afghanistan immer unsicherer wird, scheint sich inzwischen bis ins Auswärtige Amt herumgesprochen zu haben. Es bereite „eine Ad-hoc-Aktualisierung des Lageberichtes“ vor, kündigte Ministeriumssprecherin Maria Adebahr am Montag an. Einen genauen Termin zur Veröffentlichung nannte sie jedoch nicht.

Die Lageberichte des Auswärtigen Amts über einzelne Länder sind eine maßgebliche Grundlage für Entscheidungen über Asylanträge und Abschiebungen. Der aktuell gültige Lagebericht zur Situation in Afghanistan zeichnet ein geschöntes Bild der Sicherheitslage und verharmlost den Vormarsch der Taliban.

„Wenn eine Aktualisierung der Lageeinschätzung vorliegt, dann muss man die künftigen Abschiebungen anhand dieser Lageeinschätzung messen“, sagte Innenministeriumssprecher Steve Alter. „Das kann aber erst geschehen, wenn die Analyse vorliegt.“ Bis dahin will das Bundesinnenministerium daran festhalten, Straftäter und Gefährder weiterhin nach Afghanistan abzuschieben.

Bei der Opposition stößt das auf Unverständnis. „Der Fall der ersten Provinz-Hauptstädte zeigt, dass Afghanistan nicht sicher ist und deshalb kein Ziel für Abschiebungen sein kann“, sagte der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour der Deutschen Presse-Agentur. Das sieht die Linkspartei-Politikerin Dağdelen nicht anders: „Auch angesichts der Einnahme größerer Städte durch die Taliban verbietet sich jede Diskussion über Abschiebungen nach Afghanistan.“

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12 Kommentare

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  • Im nachhinein denke ich, dass diejenigen, die vor 20 Jahren unsere Bundeswehr und andere Armeen nach Afghanistan entsendet haben, zu keinem Zeitpunkt die Märchen ("Freiheit für Frauen", "Schulbesuch für Mädchen", "Brunnen bohren" haha..., "Aufbau demokratischer Strukturen" usw.) geglaubt haben, die der Öffentlichkeit hier und in den BW-Camps in Afghanistan erzählt wurden.

    Durch meine Arbeit in der größten Flüchtlingseinrichtung in NRW habe ich viele Menschen aus Afghanstan kennen gelernt, auch BW-Helfer, die dort z.B. im Lazarett als Krankenpfleger gearbeitet haben. Ja, sie wurden noch bis vor kurzem vom BW-Angehörigen ermuntert, nach Deutschland zu kommen, aber hier vor Ort brach der Support schlagartig ab und sie müssen das ganz normale Asylverfahren durchlaufen. Ihre beruflichen und sprachlichen Kompetenzen zählen hier nicht mehr, ihre alten BW-Kontakte melden sich nicht mehr und viele, vor allem alleinreisende Männer, sind in Nacht- und Nebelaktionen wieder abgeschoben worden, obwohl sie nicht kriminell waren, sondern sich hier im Camp durch gemeinnützige Arbeiten oder Dolmetschertätigkeiten hervorragend integriert haben.



    Inzwische ist die Stimmung dieser Menschen auf dem Nullpunkt und neben Frustration kippt die Stimmung leider auch in Aggression bzw. Selbstverletzungen und Drogenmissbrauch. Das ist sehr schade, denn viele von ihnen könnten nach kurzen beruflichen Vorbereitungsmaßnahmen sofort begehrte Jobs in der Pflege machen.

  • > Für die Ausreise wird ein Visum des afghanischen Staates benötigt.



    Es ist Krieg. Sollte da nicht die persönlich unterschriebene Bestätigung des deutschen Dienstvorgesetzten vollkommen ausreichen?

  • Die deutschen Truppen waren nicht in Afghanistan, weil die Bundeswehr (endlich mal richtig) „Krieg spielen“ wollte, sondern:



    „Die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan wurde vom Deutschen Bundestag in zwei Abstimmungen am 16. November und 22. Dezember 2001 auf Antrag der von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) geführten rot-grünen Bundesregierung beschlossen. Sie umfasste die militärische Beteiligung an der Operation Enduring Freedom und am ISAF-Einsatz zur Stabilisierung Afghanistans“ de.wikipedia.org/w...ieg_in_Afghanistan



    Dies nur als Ergänzung, weil es im Beitrag nicht erwähnt ist!

  • Wer wird noch helfen mit der Aussicht abgeschlachtet zu werden?



    Das wird sich bei den Menschen im Gedächtnis wohl einprägen und bei ähnlichen Operationen wird man sich nicht mehr in den Dienst der Bundeswehr stellen. Ehrlich gesagt ist es eine Schande hier nicht zu helfen.

    Auf der anderen Seite, wenn ich mir die zerlumpten Taliban ansehe, mit ihren alte Kalaschnikows auf Mopeds als logistisches Werkzeug, daneben die gut ausgerüstete Armee der Regierung, mit vielen High Tec Waffen der USA.



    Man muss sich fragen warum die Regierungsarmee nicht mit diesen Taleban fertig wird, nach zwanzig Jahren training und dem Genuss doch überlegener Bildung und Instruktion?

    Ja, ein Drama bahnt sich an, aber war man den in der Bevölkerung der Auffassung das die Ausländer ewig die "Kohlen aus dem Feuer" holen? Wer Freiheit und Fortschritt will, der hat das auf dem Planeten noch nie in die Wiege gelegt bekommen und musste darum kämpfen. Sollten das die Ausländer für die Afghanen erledigen?

    Wenn ein Gemeinwesen so zerrüttet erscheint das auch jetzt noch scheinbar mühelos Taliban die Armee infiltriert,



    Bomben im Zentrum platziert und Frauen islamistisch diszipliniert werden , ja dann waren die zwanzig Jahre Versuch, das Land vom Mittelalter ins zwanzigste Jahrhundert( noch nicht mal das einundzwanzigste) zu holen, vergebene Mühe.



    Hilf dir selbst dann hilft die Gott, vielleicht -. Für Kinder und Frauen klingt das zynisch. Aber wer will den finanziellen Kraftaufwand leisten sich dauerhaft in dem Land zu engagieren, wenn scheinbar der Wille bei dem überwiegenden Teil der Bevölkerung fehlt die eigenen Rechte und Freiheiten mit der Waffe in der Hand zu verteidigen?



    Ich denke die Bundeswehr und die Alliierten haben mehr getan als nur das Land militärisch zu besetzen: es war der vergeblich Versuch das Land aus dem Mittelalter in die jetzige Zeit zu holen.

    • @Thomas Rausch:

      Ausgerechnet die Linke, die ihre kurdischen Freunde ungerührt dem IS geopfert hat. Keine Waffen, keinen BW-Einsatz, keine Luftangriffe.

    • @Thomas Rausch:

      "Nach der Rückkehr der letzten deutschen Soldaten aus Afghanistan sind zuletzt rund 1.400 afghanische Helfer der Bundeswehr und ihre Familienangehörigen nach Deutschland eingereist. Die Zahl der ausgestellten Einreisevisa für Berechtigte soll insgesamt 2.400 betragen." Wiener Zeitung

      Die Amis haben auch nochmal tausende geholt. Die Behauptung, Deutschland hilft nicht ist genau das: Eine Behauptung.

  • Welche Aufträge wurden denn erfüllt, wenn unsere Sicherheit am Hindukusch nur temporär verteidigt wurde. Dass hatte uns doch der Verteidigungsminister der SPD 2002 versprochen, die Verteidigung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland amHindukusch. Und nun hinterlassen wir ein Land, welches im islamistischen Chaos versinken wird, für verbrannte Erde sorgt man nun dort selbst.

    Es ist zum vor Scham im Boden versinken. Ein Kollege von uns ist Afghane, ein Teil seiner Familie ist hier, ein Teil lebt in Kabul und im Land verstreut. Er hat keine ruhige Minute mehr.

    • @Ber.lin.er:

      Der Spruch 2002 bezog sich wohl auf Al-Qaida.

      Wenn man es so betrachtet, ist dieser Auftrag wirklich erfüllt, weil Al-Qaida aktuell international quasi irrelevant geworden ist.

      Das interessiert nur heute keinen mehr, weil der IS eher mehr Probleme verursacht.

      Im "islamistischen Chaos" wird Afghanistan nicht versinken.

      Die Taliban sind recht gut organisiert. Das waren sie schon vor dem Einmarsch.

      Es ist nur nicht die Organisationsform, die man sich hier gemeinhin wünscht.

      Die Bundeswehr hat es im Verbund mit anderen Armeen versucht und ist gescheitert.

      Es gab durchaus damals Stimmen, die dieses Scheitern prognostizierten.

      Wofür schämen Sie sich jetzt genau?

      Weil die Bundeswehr es probiert hat und gescheitert ist?

      Würden Sie sich weniger schämen, wenn sie es gar nicht erst versucht hätte?

  • Der Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums Collatz sagt, so lese ich hier: „Die afghanischen Behörden schaffen es nicht, die Passpapiere in der nötigen Geschwindigkeit auszuteilen.“



    Organisierte Verantwortungslosigkeit! Diese völlige Inkompetenz und fehlende Proaktivität Dinge vorausschauend zu bearbeiten wäre ein Grund ganze Stäbe disziplinarisch zu belangen; für mich grenzt das an Sabotage die quasi eigenen Leute im Dreck sitzen zu lassen. Seit Jahren ist bekannt wie die Taliban mit Dolmetschern usw. umgehen. Jedem ein entsprechendes Papier bei Dienstbeginn zu beantragen und auf dem Laufenden zu halten... ? Geht wieder gar nicht, ich weiß.



    Ansonsten, Frau Dagdelen, die kann einem letztlich nur Leid tun. Schlimm, im Ungenauen keinerlei Idee anzubieten aber martiaische Töne anzustimmen. Mal sagen wie es richtig gehen würde, gegangen wäre(!), aus ihrer Sicht, also mal konstruktiv? Geht auch nicht, Grundsatzopposition, ist nicht deren Geschäft, ich weiß.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    "Sevim Dağdelen fordert die „rasche koordinierte Evakuierung“ afghanischer Hel­fe­r".

    Alles andere wäre eine Schande! AKK ist dafür als Ministerin verantwortlich.



    Die Frage ist auch, hat diese Frau irgendetwas in ihrer politischen Laufbahn richtig gemacht? Ich sehe nur komplettes Scheitern auf ganzer Linie.

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Warum hacken Sie den auf die Frau ein? Und warum soll sie auf der ganzen Linie gescheitert sein? Hatte sie den bis jetzt ein Regierungsamt inne? Ihre Kritik erschließt sich mir nicht.



      Ansonsten hat die Frau völlig Recht und ist eine verantwortungsvolle Kritikerin der türkischen Politik, etwas was man bei Amtsträgern leider vermisst, die eher dien Kriechgang üben in ihrer Willfährigkeit gegenüber Diktatoren.

      • @Thomas Rausch:

        Ich will doch wohl mal stark hoffen, dass die Kritik sich auf AKK und nicht auf meine Parteigenossin Selim bezog.