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Freilassung aus GuantanamoDa waren es noch 39

Erstmals unter US-Präsident Biden kommt ein Guantanamo-Häftling frei. Der Marokkaner Abdellatif Nacer sitzt nun in der Heimat in Gewahrsam.

Gefangene im US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba, Aufnahme von 2002 Foto: Shane T. McCoy/US Navy/dpa

New York taz | Mehr als 19 Jahre nach dem Beginn seiner Internierung in Guantanamo Bay und ohne je angeklagt worden zu sein, ist Abdellatif Nacer entlassen und nach Marokko ausgeflogen worden. Der 56-Jährige ist der erste Guantanamo-Häftling, der das Lager seit Amtsantritt von US-Präsident Joe Biden verlassen konnte. „Ein Schritt in die richtige Richtung“, kommentierte die New Yorker Menschenrechtsgruppe „Center for Constitutional Rights“ am Montag, „aber die Regierung hat noch viel zu tun, um das Gefängnis zu schließen und die Menschenrechte zu respektieren, wie von Biden angekündigt“. Im Lager Guantanamo sind jetzt noch 39 Männer interniert.

Der letzte Marokkaner in Guantanamo wurde in der Nacht zu Montag von der US-Militärbasis im Osten Kubas nach Casablanca ausgeflogen. Nach Auskunft seines langjährigen Chicagoer Anwalts Thomas Durkin kam Nacer in Marokko in Polizeihaft. Durkin rechnet aber damit, dass sein Mandant in seinem Heimatland schon bald frei gelassen werde. „Uns ist ein Felsbrocken von den Schultern genommen worden“, sagte der Anwalt. Er nennt die 19-jährige Internierung seines Mandanten eine „Verhöhnung des Rechtsstaates“. Ein Bruder von Nacer sagte: „Nach fast 20 Jahren sind unsere Gebete erhört worden“.

Das US-Verteidigungsministerium dankte der marokkanischen Regierung für die Aufnahme Nacers und für die Zusage, die persönliche Sicherheit Nacers als auch die „nationale Sicherheit der USA“ zu garantieren. Ministeriumssprecher Ned Price pries Marokko als Vorbild für andere Länder. Details sind nicht bekannt, aber Experten gehen davon aus, dass Marokko zugesagt hat, Nacer zu überwachen, die USA weiterhin über ihn zu informieren und ihn nicht ins Ausland reisen zu lassen.

Nacer musste fünf Jahre warten

Nacer war Ende 2001 von pakistanischen Kräften im Tora-Bora-Gebirge in Afghanistan gefangen genommen worden, als mutmaßlicher Talibankämpfer. Anfang 2002 kam er in dem berüchtigten Lager Guantanamo an, das George W. Bush nach den Attentaten vom 11. September 2001 als Teil des „Kriegs gegen den Terror“ eingerichtet hatte. Nachdem er 2016 vor dem „Periodic Review Board“ – einer Kommission des Verteidigungsministeriums zur Evaluierung der Gefangenen – Reue zeigte, kam sein Name auf eine Liste von elf Gefangenen, die „keine Gefahr mehr für die nationale Sicherheit der USA“ darstellten und freigelassen werden sollten – vorausgesetzt, es fände sich ein Aufnahmeland.

Auf diesen Transfer musste Nacer fast fünf Jahre warten. „Er wurde ein Kollateralschaden von Trump“, sagt sein Anwalt Durkin. Donald Trump beendete sämtliche Bemühungen zur Auflösung des Lagers und erklärte stattdessen, dass er es auffüllen wolle. „Es gibt genügend böse Kerle“, sagte Trump bei Wahlkampfmeetings. Trump löste auch die Abteilung im Verteidigungsministerium auf, die sich um aufnahmewillige Länder bemüht hatte. Noch in den letzten Tagen von Trumps Amtszeit unternahm das Justizministerium Schritte, um zu verhindern, dass Guantanamo-Gefangene von unabhängigen Ärzten untersucht werden können.

780 Männer sind in den fast 20 Jahren seit der Eröffnung des Lagers in Guantanamo interniert gewesen. Sie gelten als Kriegsgefangene. Aber nur zwei wurden je verurteilt. Die meisten anderen haben nie eine Anklage bekommen. Nach jahrelangen Protesten gegen Misshandlung, Folter und Isolation der Gefangenen versprach Barack Obama 2008, er werde das Lager in seinem ersten Amtsjahr schließen. Er scheiterte.

Sein ehemaliger Vizepräsident Biden agiert nun ohne große Ankündigungen. Statt eines global aktiven Sonderentsandten lässt er regionale US-Diplomaten und das Außenministerium die Arbeit erledigen. Bei einem Besuch in Paris Ende Juni sagte Außenminister Antony Blinken: „Wir suchen einen Weg in jedem Einzelfall“.

Unterdessen ist Guantanamo dabei, ein extrem teures Alterspflegeheim mit wachsenden medizinischen Problemen zu werden. Viele Internierte haben psychische Probleme, der älteste ist ein 73-jähriger herzkranker Pakistaner. Die Kosten für jeden Insassen belaufen sich auf 13 Millionen Dollar pro Jahr.

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25 Kommentare

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  • Hier in den Kommentaren ist immer die Rede von den Taliban:



    Die USA behaupten, Abdellatif Nacer sei Al-Kaida-Kämpfer gewesen. Mit den Taliban hat Al-Kaida kaum etwas gemein.

    • @Bernd Berndner:

      " Mit den Taliban hat Al-Kaida kaum etwas gemein."



      Das ist nun wirklich Unsinn. Nur mit Rückendeckung durch die Taliban konnte al Qaida von Afghanistan aus den Massenmord am 11.9.2001 planen und durchführen.

  • Die „nationale Sicherheit der USA“ zu garantieren

    Ich denke ich werde es noch erleben das die USA für Ihre Verbrechen bezahlt...

    Wer vor Guantanamo kein Terrorist war, dürfte es jetzt sicher sein. Und die Leute haben Familie....

    Und es ist ja nicht so das es nicht genug andere gibt.



    Rechnen wir einfach mal die Verwandten der über 2000 Menschen zusammen, die die USA völkerrechtswidrig jedes Jahr seit mindestens einem Jahrzehnt mit Drohnen ermordet. PS: die meisten davon sind unschuldige Zivilisten.

  • Wenn die Amis ein Lang bitten die aufzunemen würde sich eins finden. Gegen Geld sogar viele. Echte Feinden bilden die Taliban in 12 Monaten aus, immer neue.



    So wird das nichts mit "Frieden für die Welt" aber den will auch keiner, denn damit verdient man kein Geld

  • "Sie gelten als Kriegsgefangene. Aber nur zwei wurden je verurteilt. "

    Kriegsgefangene werden nicht verurteilt, sondern nach Abschluss eines Friedensvertrages freigelassen. Leider hatten auch die Taliban kein Interesse an den inzwischen alten und deshalb für sie wertlosen ehemaligen Kämpfern, sonst hätten sie die zum Thema ihrer Verhandlungen gemacht.

    • @Martin74:

      @"Kriegsgefangene werden nach Abschluss eines Friedensvertrages freigelassen". Da hatten ja zigtausend (nicht nur) deutsche Soldaten Glück das sie OHNE Friedensvertrag freigelassen wurden.



      Und Menschen jahrzehntelang ohne Gerichtsverfahren einzusperren, hat mit Menschenrechten (die ja an anderer Stelle so hochgehalten werden) nichts mehr zu tun! Die Menschen werden in Guantanamo und nicht in den USA festgehalten, damit sie nicht einmal unter die US-Gerichtsbarkeit fallen wo sie wenigstens ein Recht auf ein Verfahren hätten!

    • @Martin74:

      "eider hatten auch die Taliban kein Interesse an den inzwischen alten und deshalb für sie wertlosen ehemaligen Kämpfern"

      Und woher wissen Sie das die Gefangenen Taliban sind? Nur weil das die USA behauptet?

  • Wenn der Rest frei kommt und sich einer von denen Rächt dann können sich die Amerikaner nicht rausreden sie hätten sich ihre Terroristen nicht selbst geschaffen.

    • @Sven81:

      Falsch. Der war schon Terrorist, die Freilassung erst ermöglichte seine Rache.

      • @mem tack:

        Wenn eine Regierung so handelt wie die Amerikaner wird es Zeit das wir Ihre Politiker ächten und keinem mehr die Einreise nach Deutschland gestatten. Denn Sie sind Ganoven übelster Sorte. Regierungen die alle Menschenrechte misachten sollten auch von der Welt genauso behandelt werden.

      • @mem tack:

        Auf jeden Fall wird ihn der Aufenthalt in Guantanamo nicht weniger radikal gemacht haben.

  • „Die Kosten für jeden Insassen belaufen sich auf 13 Millionen Dollar pro Jahr“



    Das ist wohl der eigentliche Grund für diese Freilassung und nicht die tatsächliche oder vorgespielte „Reue“ von Herrn Nacer. Dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht, kann man glauben oder auch nicht. Wenn er es darauf anlegt, wird ihm der Wiedereinstieg bei den Taliban gelingen, da mögen die marokkanischen Behörden noch so wachsam sein. Genügend motiviert für die Planung der nächsten „Projekte“ dürfte er sein, dank der 20 Jahre Guantanamo.



    Apropos 20 Jahre: Hätte er einen regulären Prozess bekommen, wäre er wohl auch nicht mit weniger davongekommen.

    • @Pfanni:

      "Hätte er einen regulären Prozess bekommen, wäre er wohl auch nicht mit weniger davongekommen."

      Wie kommen Sie darauf? Wem keine Schuld nachgewiesen wird, der ist unschuldig. Vor Jahren gab es mal eine Studie: jeder 10te in der Todeszelle hat das Verbrechen für das er zu Tode verurteilt wird nicht begangen. Und Sie glauben das das US Militär und CIA jetzt bessere Arbeit leisten?

      • @danny schneider:

        Sie sprechen da ein großes Dilemma unserer Rechtsprechung an. Die Unschuldsvermutung ist natürlich richtig und verhindert, dass unschuldige einer Tat überführt werden die sie gar nicht begangen haben, allerdings schützt sie auch Verbrecher.

    • @Pfanni:

      Die Kosten wären ein Argument für Trump gewesen - Biden versucht politische Lasten der Vergangenheit loszuwerden und diese Last stammt ja noch von der Vor-Vor-Vorgänger-Administration.

    • @Pfanni:

      Der Unterschied ist ja wohl, dass in einem regulären Prozess geprüft worden wäre ob ihm überhaupt etwas zur Last gelegt werden kann.

      So bleibt halt die Möglichkeit dass pakistanische Soldaten sich einfach das Kopfgeld verdienen wollten, dass von den Amerikanern ausgelobt wurde. Solche Fälle gab's ja genügend.

  • Vergessen wir nicht, dass DE an der Misere mitgewirkt hat, auf unsere übliche charmante Art [1a] [1b]. Einer, der damals intensiv weggeguckt hat macht jetzt auf Elder Statesman und hält salbungsvolle Reden.

    [1a] de.wikipedia.org/w...all_der_22_Uiguren



    [1b] de.wikipedia.org/w..._Fall_Murat_Kurnaz

    • @tomás zerolo:

      Auch der, unser Werter Bundespräsident: (Spiegelartikel)



      Frank-Walter Steinmeier war von 1999 bis 2005 Kanzleramtschef und Geheimdienstkoordinator der rot-grünen Bundesregierung. Kurnaz wirft ihm vor, ein inoffizielles Angebot der Amerikaner, ihn schon im Jahr 2002 freizulassen, nicht angenommen zu haben. Steinmeier erklärte später im Rückblick: "Ich würde mich heute nicht anders entscheiden."



      Wiederholt forderte Kurnaz eine Entschuldigung Steinmeiers. Nach dessen Wahl äußert sich der frühere Guantanamo-Häftling im Interview enttäuscht darüber, dass der künftige Bundespräsident sich dazu nicht durchringen konnte.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Es ist wirklich beschämend, wie in einem angeblichen Rechtsstaat so etwas möglich ist.



    "Land of the Free" bezeichnen sich die Amis ja gerne selbst. Eine Farce angesichts von Guantanamo und nicht zu vergessen JULIAN ASSANGE, der in London im Gefängnis sitzt, nur weil er seinen Job gemacht hat! Edward Snowden nicht zu vergessen.



    Was ist daran weniger schlimm als das was die Chinesen treiben? Gut, die Quantität!

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Richtig ist, dass die Amerikaner solche Themen etwas knackiger nehmen.

      Aber die USA in ihrem Verhalten angesichts einer freien Presse mit China gleichzusetzen, ist absurd. Schon die von Ihnen zugegebene höhere Quantität, sondern auch die Qualitäten sind andere. Ein Uiguren-Problem haben die USA nicht - Tibet usw. -

      • @mem tack:

        "Aber die USA in ihrem Verhalten angesichts einer freien Presse mit China gleichzusetzen, ist absurd."

        Übliche Internet-Reflexe, alles gleichsetzen (auch wenn es völlig absurd ist), immer noch einen drauf setzen. Und vor allem: Man ist Universal-Experte.

      • @mem tack:

        Aber die Amis hatten und haben ein Indianer Problem.Sie haben dieses Problem nie ehrlich gelöst.Ich würde sagen ganau so schlecht wie jetzt die Chinesen mit den Uiguren

        • @Rolf Turboheizer:

          ... nur dass man das in den USA offen sagen darf und dafür nicht gleich eingekerkert wird. Ein kleiner, feiner Unterschied ... (z.B. zu China) :-)

    • @17900 (Profil gelöscht):

      Dem ist nichts mehr hinzu zu fügen!