piwik no script img

96-jähriger Uni-AbsolventDie Freiheit der Seniorstudenten

Archie White hat mit 96 Jahren sein Studium der Bildenden Kunst abgeschlossen – frei von finanziellen Zwängen und Zukunftsängsten.

2018 hat Archie White sein Studium am East Sussex College in Hastings begonnen Foto: hastingsobserver.co.uk

Das Jurastudium mit guten Jobaussichten schmeißen, um endlich Kunst zu studieren? Diese Frage, die junge Menschen aus der Generation Prekär sich heute zweimal überlegen, stellte sich Archie White nicht.

Sein Jurastudium schloss er bereits vor Jahrzehnten ab und arbeitete dann bis zur Rente – mit 92 Jahren – als Anwalt in einer eigenen Kanzlei in der englischen Stadt Hastings. Mit 96 Jahren und 56 Tagen hat er nun auch sein Zweitstudium abgeschlossen. White war am East Sussex College für den Bachelor Bildende Kunst eingeschrieben. Auf dem Stundenplan standen Töpfern, analoge Fotografie und das Grafikprogramm Photoshop.

Archie White, der sein Berufsleben schon hinter sich hat, sorgt sich nicht darum, ob irgendjemand seine Bilder kaufen will. „Wenn irgendwer blöd genug ist, meine Bilder zu kaufen, freue ich mich, wenn nicht, ist es auch egal“, sagt er.

Er sorgt sich allerdings um seine Kommiliton:innen: „Ich selbst hatte eine lange und erfüllende Karriere, was mich traurig macht, ist, dass viele Absolventen unweigerlich Schwierigkeiten haben werden, über die Runden zu kommen.“ Was sich ein bisschen nach der Narrenfreiheit eines unbeschwerten Seniorstudenten anhört, kommt dem Humboldt’schen Bildungsideal sehr nahe: Lernen und sich bilden, frei von finanziellen Zwängen und dem bangen Blick, was der angestrebte Abschluss auf dem Arbeitsmarkt wert sein wird.

Kunst und Philosophie

Ebenfalls mit 96 Jahren schloss letztes Jahr der Italiener Giuseppe Paternò ein Philosophiestudium an der Universität Palermo ab. Bei Paternò lagen die Dinge allerdings etwas anders. Aufgewachsen im Sizilien der 1930er Jahre konnte sich seine Familie die Finanzierung eines Studiums nicht leisten. Paternò wurde Eisenbahnarbeiter, mit seinem Studium holte er einen lang gehegten Lebenstraum nach. Den Platz des ältesten Uniabsolventen weltweit haben die beiden übrigens knapp verpasst.

Den nimmt der Japaner Shigemi Hirata ein, der vor fünf Jahren mit 96 Jahren und 200 Tagen sein Studium an der Universität Kioto abschloss. Eines haben die drei Seniorstudenten gemeinsam: Sie haben die Fächer Kunst oder Philosophie studiert, also Fächer, mit denen die Jobaussichten für junge Ab­sol­ven­t:in­nen in der Regel nicht besonders rosig sind.

Aber mal ehrlich, wer würde mit Anfang 90 auch auf die Idee kommen, noch mal Business Administration zu studieren.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • Nu ja, mit 96 könnte man schon mal ein bisschen Zukunftsangst haben.

  • Egoismus pur. Mit dem Humboldt’schen Bildungsideal hat das nichts zu tun.

    • @el presidente:

      Egoismus? Das erklären Sie mal bitte. Ist Studium jetzt pauschal etwas egoistisches oder weil er mit 96 nochmal etwas gemacht hat, was viele nie vermochten? Oder spricht da einfach nur der Neid?

  • Der Mann sollte jedem ein Vorbild sein. Erst einmal etwas studieren um den Lebensunterhalt zu sichern und dann erst das was Spaß macht. Hieran hätten sich all die Soziologen (und alle anderen die am Ende nicht mal Lehrer werden können) ein gutes Beispiel nehmen sollen.

    Glückwunsch und viel Spaß mit der Kunst.

    • @DiMa:

      Was die 1980er Jahre angeht, muss eine Gegenrede hier sein. Lehrer (habe nicht auf Lehramt studiert): Dass sehr viele von den Lehramtsstudierenen amals nicht Lehrer werden konnten, tatsächlich "konnten", lag nicht an denen. Man hat sie schlicht nicht genommen. Und nicht unbedingt, weil schon genügend im Schuldienst waren. Nur eben keine Stellen. Ich weiß nicht, wie alt Sie sind. Wenn jünger: Stellen Sie sich bitte nicht die "Boomerzeiten" so rosig vor. Waren sie nicht. Ich habe so einige von den Lebensläufen der Nicht-Lehrer teilweise mitverfolgt.

      • @Moon:

        Mein Kommentar betrifft auch eher diejenigen die irgendein Hobbyfach studieren und dann halt Lehramt noch mitnehmen, weil man sonst halt nix anständiges damit anfangen kann.

        Das werden dann in der Regel auch nicht die besten Lehrer, weil sie möglicherweise ihr Traumstudium abgeschlossen haben um dann vom Alltag des Lehreramtes auf den Boden der Tatsachen geholt zu werden.

        Daher Augen auf bei der Wahl des Studienfaches.

        • @DiMa:

          Das muss natürlich berücksichtigt werden, was Sie anführen.



          Zu den Lehrern u. Lehrerinnen: Wir wurden Mitter der 1970er Jahre noch "ermuntert" Lehrer zu werden. Wegen des Mangels. Der "Trend" kehrte sich um und auch gegen die, die den Beruf in Kenntnis um sich selbst wirklich anstrebten. War dann wirklich nicht schön, mit zu verfolgen, wie ausgerechnet die dann kämpfen mussten.

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    Ja, ihr jungen Leute habt doch die Freiheit zu studieren, die meine Generation nicht unbedingt hatte. Wo ist das Problem? Das ihr keine reichen Eltern habt und für euer Brot arbeiten müsst?

  • Busniess Administration? Das ist auch eher ein sog. Pflastersteinstudium. Es gab und gibt davon schon so viele Absolventen, dass die Jobaussichten hier auch nicht mehr als rosig dargestellt werden können.