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Schleppende Impfkampagne in BerlinNach dem Sommer kommt das Delta

Die Impfkampagne stockt, warnt der Chef des Berliner Hausärzteverbands. Dabei müsse man jetzt schneller werden, um eine vierte Welle zu verhindern.

Wer will noch Astrazeneca, denn viele haben noch nicht: Blick ins Impfzentrum Messe Berlin Foto: Michael Kappeler/dpa

Berlin taz | Angesichts der rasch steigenden Infektionszahlen mit der Delta-Variante des Coronavirus werden auch in Berlin die Rufe lauter, sich bereits jetzt für eine mögliche vierte Welle im Herbst zu wappnen. Die momentan niedrigen Inzidenzen – in Berlin lag der 7-Tage-Wert am Dienstag bei 5,9 – sei trügerisch, warnt etwa der Vorsitzende des Berliner Hausärzteverbands, Wolfgang Kreischer. „Wir fahren in diesem Sommer wieder nur auf Sicht, dabei ist klar, dass die Variante sehr schnell hier sein kann“, sagte er der taz.

Problematisch sei dabei vor allem, dass die Impfkampagne langsam ins Stocken gerate. „Da ist eine gewisse Impfmüdigkeit“, konstatiert der Hausarzt mit eigener Praxis in Zehlendorf. Nachdem im Juni, als die Priorisierung aufgehoben wurde, der Andrang zunächst groß war, kämen nun viele nicht zum vereinbarten Termin. In seiner Praxis fänden etwa 20 Prozent von 100 bis 120 gebuchten Impfterminen pro Woche nicht statt, sagt Kreischer.

„Viele sagen, sie wollen erst mal abwarten“, sagt der Mediziner. „Offenbar fällt es gerade schwer, die Gefahr angesichts der niedrigen Inzidenz ernst zu nehmen.“

Das könnte ein Trugschluss sein, wie der Blick über den Berliner Tellerrand hinaus zeigt. In Großbritannien etwa, wo der Anteil der als besonders ansteckend geltenden Delta-Variante 90 Prozent ausmacht, steigen die Infektionszahlen seit einigen Tagen wieder massiv – und es kommen auch wieder mehr Menschen mit schwereren Verläufen in den Krankenhäusern an. Und das, obwohl bereits rund 60 Prozent der BritInnen zweimal geimpft sind. Zum Vergleich: In Berlin haben laut Daten der Gesundheitsverwaltung erst 33,8 Prozent der BerlinerInnen den vollen Impfschutz. 53,8 Prozent haben wenigstens eine Impfung erhalten.

Drei Prozent Delta in Berlin

Zwar ist der Anteil der Delta-Variante in Berlin noch relativ gering: Laut Robert Koch-Institut lag er zuletzt bei drei Prozent. Allerdings sind die Daten relativ alt, von Mitte Juni. Der Bericht erscheint wochenweise, man erwarte die aktuellen Zahlen für den heutigen Mittwochabend, heißt es aus der Pressestelle des RKI. Mit Nachmeldungen sei überdies grundsätzlich „zu rechnen“.

RKI-Chef Lothar Wieler warnte am Montagabend auf der Gesundheitsministerkonferenz der Länder zudem, dass die Delta-Variante bundesweit bereits mindestens 36 Prozent der Neuinfektionen ausmache – vermutlich sogar, mit Blick auf die jetzt erwarteten frischen Zahlen, sogar noch höher liege.

In den Berliner Impfzentren entwickelt sich der Wirkstoff von AstraZeneca derweil weiter zum Ladenhüter: „Die angebotenen Termine mit diesem Impfstoff werden leider nicht so gut wahrgenommen“, sagt Regina Kneiding, Sprecherin des DRK Berlin, das die sechs Berliner Impfzentren koordiniert. Tatsächlich konnte man am Dienstagvormittag im Impfzentrum Messe Berlin, wo AstraZeneca verimpft wird, kurzfristig Termine bereits für den Mittwochmorgen bekommen.

Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt den Impfstoff nur für Menschen ab 60 Jahre, alle anderen können sich auf eigenes Risiko mit Astra­Zeneca impfen lassen.

Bei den Terminen mit Biontech sehe es anders aus: „Da ver­impfen wir quasi alles, was wir haben, und könnten auch noch mehr tun, wenn mehr Impfstoff da wäre“, sagt Kneiding der taz.

Das bestätigt auch Hausarzt Kreischer: „Wir brauchen mehr Biontech in den Praxen.“ Teilweise bekomme er pro Woche nur eine Dose mit sechs Impfungen für die Erstimpfungen, das sei zu wenig – zumal auch bei ihm AstraZeneca sehr wenig nachgefragt sei.

Angesichts der schleppenden Impfkampagne und der Gefahr durch die Delta-Variante wird auch die Diskussion über eine Impfempfehlung für Jugendliche wieder drängender: „Die Stiko ist da vielleicht bisher etwas übervorsichtig“, sagt Hausärzteverbandschef Kreischer. Die Impfkommission empfiehlt den Biontech-Wirkstoff bisher nur für Jugendliche ab 12 Jahren, die Risikogruppe sind. Eltern kämen bisher mit ihren Teenagern auch nur „in Einzelfällen“ zum Impfen in seine Praxis.

Deutlicher als der Hausärzteverband wurde Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne): „Die Ständige Impfkommission muss überdenken, ob sie nicht aufgrund der Delta-Variante eine Impfempfehlung für Jugendliche ausspricht“, sagte sie am Dienstag. Man dürfe nach den Sommerferien nicht wieder die Schulen schließen, damit „Erwachsene entspannt Pizza essen gehen können“.

In Nordrhein-Westfalen fordert eine Elterninitiative angesichts der bereits wieder aufkommenden Diskussion über möglicherweise erneutes Homeschooling im Herbst die unbürokratische Anschaffung von Luftfiltergeräten für alle Schulen. Auch in Berlin erfolgt die Ausstattung bisher nur bedarfsbezogen über Abfragen in den Schulen.

Insgesamt will das Land Berlin bis zum neuen Schuljahr rund 8.000 Luftfiltergeräte für 14,6 Millionen Euro anschaffen – das bleibe allerdings nur eine „flankierende Maßnahme“, hatte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) betont: Man setze weiterhin aufs Lüften. Dabei werden es auch bleiben, trotz der Dynamik der Delta-Variante, hieß es am Dienstag auf Nachfrage aus der Bildungsverwaltung. Das „Lüftungsmanagement“ sei „das Mittel der Wahl zur bestmöglichen Reduzierung virushaltiger Aerosole“, so ein Sprecher. Dieses Konzept werde man in den Sommerferien nicht nochmal in Frage stellen.

Die Ständige Impfkommission muss überdenken, ob sie nicht aufgrund der Delta-Variante eine Impfempfehlung für Jugendliche ausspricht.

Ramona Pop, Wirtschaftssenatorin

Im übrigen habe Berlin „im Vergleich mit anderen Bundesländern recht viele Luftreinigungsgeräte angeschafft“, betonte der Sprecher weiter. Und „bis auf eine kleine Restmenge“ seien die Geräte auch bereits an die Schulen ausgeliefert worden.

Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) will indes die Berliner Impfzentren Ende September nicht schließen, sondern den Betrieb lediglich herunterfahren. Das hatte tags zuvor auch die Gesundheitsministerkonferenz beschlossen. Angesichts einer im Herbst möglicherweise nötigen dritten Impfung sei es aber wichtig, die Kapazitäten auch schnell wieder hochfahren zu können, betonte Kalayci.

Auch Hausarzt Kreischer sagt: „Wir müssen schon jetzt an eine dritte Impfung im Herbst denken.“ Angesichts einer besseren Schutzwirkung gegen die Delta-Variante mache es dann Sinn, zuvor mit Biontech Geimpfte zum Beispiel mit AstraZeneca zu impfen. Das dürfte allerdings noch mal eine Kommunikationsaufgabe für sich werden.

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5 Kommentare

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  • Egoismus pur. Gegen parallele Anmeldungen an sich ist ja nichts einzuwenden, nur sollte man nicht mehr benötigte Termine dann auch freigeben.

  • "Nachmeldungen"

    Hat auch Potential als Unwort des Jahres.

  • Daten wie viele der (nicht) abgesagten Impftermine darauf zurück zu führen sind, dass sich Personen die sich so schnell wir möglich impfen lassen wollten bei mehreren Praxen plus Impfzentren anmeldeten und das schnellste Angebot dann wahrnahmen, gibt es nicht. Gerade vor der Urlaubszeit haben viele so verfahren um wenigstens die erste Impfung noch vor dem Urlaubsflieger zu bekommen und sich halbwegs sicher zu fühlen. Beruflich habe ich mit sonst schwer erreichbaren Personen zu tun, die prekär und teilweise mit geringen Deutschkenntnissen in Deutschland leben. Ihre häufigste Frage seit Wochen an mich war wie bekomme ich einen Impftermin wenn ich keinen Hausarzt habe und wieso gibt es die Infos und Amneldeformulare (meistens) nur auf deutsch oder Online - wenn man kein Geld fürs Internet oder Datenvolumen auf dem Smartphone hat ist das eine hohe Hürde. Bis vor zwei Wochen winkten viele Hausarztpraxen die wir so anfragten ab, sie seien damit beschäftigt die eigenen Patient:innen zu impfen. Daher bin ich gelinde gesagt sehr skeptisch bei nicht belegten "Einschätzungen" angeblicher Impfmüdigkeit.

    • @Nina Janovich:

      Das ist ein guter Punkt. Ich habe Angehörige, auf die das möglicherweise auch zutrifft. Und viele Arztpraxen haben zeitweise gar keine Mitteilungen mehr bearbeitet, konnten also auch keine Abmeldungen bearbeiten.

      Das könnte man wenn man will auch untersuchen, indem man die Interessenten noch mal anschreibt.

      Vielleicht gibt es da noch ganz andere Effekte. Bei meinem Hausarzt zum Beispiel musste man, wie allgemein üblich, einen Einwilligungbogen unterschreiben, und es gab ein Informationsblatt. Beides gab es aber nur auf Deutsch und ich kann mir gut vorstellen, dass dies Leute abschreckt, die Deutsch nicht so gut beherrschen.

      Dabei wären die Kosten, diese Informationsblätter qualifiziert ein mal in sämtliche in Deutschland gesprochenen Sprachen zu übersetzen, wahrlich nicht groß.

      • @jox:

        Die Kosten könnten sogar gegen Null gehen, da sicher genug Leute da ehrenamtlich helfen würden.