Neuer Roman von Robin Robertson: Endlich Kalifornien
„Wie man langsamer verliert“ von Robin Robertson ist ein emphatischer Großstadtroman. Ein vom Krieg Traumatisierter wandert durch Los Angeles.
Von New York nach Los Angeles, von Los Angeles nach San Francisco und wieder zurück, es sind die später vierziger und die erste Hälfe der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Und allein schon anlässlich der kurzen Schilderungen der einzelnen Fahrten, die Robin Robertsons fantastisches Epos „Wie man langsamer verliert“ strukturieren, möchte man schwelgen und schwärmen.
Von Manhattan nach Kalifornien geht es mit dem „Golden State“, dem „silbern roten Stromlinienzug“: „Langsam wichen Kakteen Palmen, als sie den Colorado bei Yuma / kreuzten, und dann kam, endlich, Kalifornien: mit Kurs Nordwest / und Bergen auf der einen Seite, auf der andern einem See, / gleißend wie ein Kettenhemd. Er sah schärfer hin –“
Endlich Kalifornien! Die Versbegrenzungen zeigen es an: Dieser Roman ist über weite Strecken als Langgedicht geschrieben, ein epischer Fluss aus Schlaglichtern auf einzelnen Beobachtungen, im Ganzen gut lesbar, kurze, kursiv gesetzte erzählerische Passagen sind in ihn eingefügt, Tagebucheinträge ebenso.
Robin Robertson: „Wie man langsamer verliert“. Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag. Hanser, München 2021, 254 Seiten, 25 Euro
Von Los Angeles nach San Francisco fährt Walker, so heißt die Hauptfigur, später per Autostopp den Highway 1 entlang, die legendäre Küstenstraße. Ed (von dem wir dann nie wieder etwas lesen werden) nimmt ihn mit: „Eine halbe Stunde später auf der Strecke, um Point Sur herum, / bremste Ed hart auf dem Randstreifen ab und warf die Tür auf. /,Blauwale!', schrie er,ein Paar …' / Sie standen dann bloß am Klippenrand, / und schauten so scharf hin, dass ihnen die Tränen kamen. / Wischten sich lachend die Augen, Seite an Seite.“
Es ist kein Zufall, dass auch an dieser Stelle das scharfe Hinschauen thematisiert wird. Das ist auch bei den Szenen, in denen Walker einfach durch die Straßen läuft, so. „Wie man langsamer verliert“ ist ein teilweise wie losgelassener, dabei hochkontrollierter und immer wieder überraschender Roman über die Wahrnehmung von Großstädten, ihrer Lichtwechsel, ihres Lärms, ihrer Gerüche. Nein, nicht von Großstädten, sondern von der jeweils einzelnen, konkreten Stadt, wobei New York, Los Angeles und San Francisco in dieser Zeit die Hauptstädte des 20. Jahrhunderts waren.
Bunker Hill
Bei diesem Beobachtungsstrom kommen stets zwei unterschiedliche Linien zusammen und erzeugen dabei Spannung. Zum einen werden die Innenstädte, Bunker Hill in Los Angeles, die Hafengegend in San Francisco, mit einer Dringlichkeit geschildert wie zum ersten Mal erlebt. Zum anderen kennt auch Walker viele Schauplätze schon, bevor er sie betreten hat: Er hat sie im Kino gesehen.
Auch das wird direkt thematisiert. Filmszenen aus „Criss Cross“, „Kiss Me Deadly“, „D.O.A.“, „The Lady from Shanghai“ legen sich auf die realen Eindrücke, die Film-Noir-Zeit. Das ist eine Amerika-Erfahrung, die beim heutigen Leser und der Leserin Vorwissen abruft. Wie die Straßen und die Häuser aussehen, wie die Menschen reagieren, weiß man immer schon aus den Medien, bevor man überhaupt dagewesen ist.
Zwei Gegenorte zur Großstadt gibt es in dem Buch, sie tauchen zwischendurch immer wieder in Erinnerungen auf: der geruhsame kanadische Fischerort, aus dem Walker stammt, und die Front in der Normandie, von der er traumatisiert aus dem Krieg in die USA zurückgekommen ist. Und natürlich gibt es in die Heimat kein Zurück, und ebenso natürlich lässt Walker der Krieg nicht los.
Die Autobahn wie ein Lavafaden
Von San Francisco nach Los Angeles zurück geht es schließlich mit dem Flugzeug. Dass Robin Robertson also drei verschiedene Fortbewegungsarten beschreibt, Zug, Auto, Flieger, sagt viel darüber aus, wie sorgfältig dieser Roman konstruiert ist. „The Long Take“ heißt er im Original (der deutsche Titel leitet sich vom Untertitel „A Way to Lose More Slowly“ her). Tatsächlich wie in einer langen Filmeinstellung folgen wir den Wahrnehmungen der Hauptfigur, doch hat das eben nichts Gleichförmiges.
Unterschiedliche Perspektiven, städtebauliche und gesellschaftliche Entwicklungen sind eingebaut: „Von oben betrachtet / war die Stadt ein Netz aus heißen, roten Drähten / wie ein Grill; / eine Geometrie rechtwinkeliger, paralleler Linien / auf einen Fluchtpunkt zu. / Die Scheinwerfer auf der Autobahn: / ein Lavafaden durch die Hollywood Hills.“
Die Figur des einsam durch die Großstadt streifenden Veteranen hat eigentlich etwas längst Abgenudeltes (ich habe da zum Beispiel schnell Iggy Pops „Passenger“ im Ohr: „He sees the city’s ripped backsides and he rides and he ride“). Doch Robin Robertson verleiht dieser Figur Dringlichkeit und Vitalität. Das liegt an der Schönheit und Genauigkeit dieser Beschreibungen, in denen Robertson die Eindrücke nie breit ausmalt, sondern eher aufblitzen lässt wie Einschläge.
Schuss, Gegenschuss, Jump Cut
Schuss, Gegenschuss, Jump Cuts, Schlaglichter von der Seite. Der Text nimmt einen mit in einen vorm inneren Auge ablaufenden Film. Zugleich beglaubigen die wie Überfälle auf die Hauptfigur einschlagenden Beobachtungen ihre Traumatisierung.
Es liegt auch daran, dass Robertson die Figur so stark mit Realitäten auflädt, dass das Buch gleich in doppelter Hinsicht als historischer Roman funktioniert. Er erzählt vom Umbau von Los Angeles zur ausgreifenden Autometropole. Unter hohem Einsatz von Korruption und Polizeibrutalität werden gewachsene Innenstadtbereiche abgerissen, Stadtautobahnen ohne Maß werden gebaut, während zeitgleich ganze Straßenzüge von Obdachlosen bevölkert werden.
Und zugleich erzählt der Roman, wie der Film Noir entstand. Der Expressionismus der deutschen Exilanten traf in Kalifornien auf den amerikanischen Traum und wurde, angetrieben durch Kriegstraumatisierungen, zusammengeschmolzen zu Bildern von zynischen, mit harten Onelinern gepanzerten Männern mit Pistolen in der Hand und Frauen, die sich in einer Rüstung aus Desillusioniertheit und sorgfältigen Frisuren versteckten.
Die Rettung
Die den Roman bevölkernden männlichen und weiblichen Nebenfiguren sind unbedingt längst historisch geworden, doch „Wie man langsamer verliert“ versetzt einen an den historischen Punkt, an dem – ausgespuckt aus der Maschinerie des Krieges, hineingeworfen in die galoppierende Gentrifizierung – hardboiled zu sein die einzig mögliche Rettung versprach.
Robin Robertson ist in der englischsprachigen Literaturwelt ein bekannter Name, nicht nur als Autor vor allem von Lyrik, sondern fast noch mehr als Verleger und Lektor. 1993 brachte er „Trainspotting“ von Irvine Welsh heraus. Die Karriere solcher Autor*innengrößen wie A. L. Kennedy, Anne Enright, John Burnside sind mit ihm verbunden.
Der 1955 geborene Schotte steht dabei für einen überaus emphatischen Literaturbegriff. „Ich will überrascht werden. Ich will die Wörter nie zuvor in dieser Form gesehen haben. Ich suche nach etwas Fremdartigen, einer Art elektrischer Spannung, sowohl in meinen eigenen Sachen als auch in denen von anderen“, zitierte ihn die FAZ vor einigen Wochen in einem schönen Porträt.
Die Erregung, der Glamour
Sozusagen im Maschinenraum seines aktuellen Buches vibrieren eigene Erfahrungen, man liest sie heraus (und projiziert eigene hinein), so viele historische Kulissen Robertson auch vor sie geschoben hat. In dem Porträt berichtet Robertson von den ambivalenten Erfahrungen seines eigenen Umzugs von Schottland nach London. Da gab es „die Erregung, den Glamour. Aber auch das Gefühl der Isolation und den Schrecken darüber, in einer derart großen Stadt allein zu sein“. Nur hatte er keine Lust, über das ihm inzwischen „allzu vertraute“ London zu schreiben, und verlegte die Handlung ins Kalifornien der Nachkriegszeit.
Zum Glück. Was herausgekommen ist, ist toll. Man kennt das alles schon und liest es doch wie zum ersten Mal. Man sieht den historischen Abstand und spürt doch die Auswirkungen bis heute. Man empört sich über die gesellschaftlichen Zustände und lässt sich doch auch in die dunkle Romantik der einsamen Nächte und wie aus den Augenrändern beobachteten Mitmenschen, der Straßenecken und Tresenszenen fallen.
Im letzten Viertel verändert sich der sprachliche Atem. Robertson lässt den einzelnen angerissenen Szenen weniger Raum und die Wahrnehmungen als Klimax auf eine Parallelisierung von schlimmen Kriegserlebnissen (die Landung in der Normandie sowie ein von einer Einheit der Waffen-SS ausgeübtes Massaker an Kriegsgefangenen stehen im Zentrum) und dem Abriss der alten Innenstadt von Los Angeles zulaufen.
Das hätte es gar nicht gebraucht. An diesen Stellen schimmert so etwas wie gewollte Dramaturgie durch. Doch das ändert nichts mehr an der Intensität, mit denen einen dieses Sprachkunstwerk aus Härte und Schönheit erwischen kann.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!