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Corona-Lockerungen in BerlinDas völlig falsche Signal

Kommentar von Stefan Alberti

Der Senat hatte angekündigt, weitere Lockerungen erst bei einem stabilen Trend nach unten zu beschließen. Davon kann aber keine Rede sein.

Draußen ist wieder was los: Schlange vor einer Eisdiele in Prenzlauer Berg Foto: dpa

W egen der – alternativ formuliert – stark oder dramatisch oder drastisch zurückgehenden Corona-Ansteckungszahlen hat der Senat am Dienstag dieses gelockert und jenes wegfallen lassen. Was konkret vor allem heißt: seit Freitag keine Testpflicht mehr in Biergärten und Geschäften und auch drinnen erlaubte Treffen von bis zu drei Haushalten. Die Sache ist bloß: Die Zahl der Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche sinkt nicht mehr schnell.

Weil das auch schon am Dienstag gut erkennbar war, stellt sich die Frage, ob eine weitere Woche des Abwartens nicht besser gewesen wäre. Hätte der Senat vergangene Woche gelockert, hätte sich diese Frage nicht gestellt. Da hatte sich die 7-Tage-Inzidenz binnen neun Tagen fast halbiert, von 64 auf 34, der Trend schien unaufhaltbar. Jene Lockerungen passierten aus einem ganz praktischen Grund nicht: Wegen des vorangehenden Pfingstfests tagte der Senat nicht.

Nun sieht das anders aus. Während die Zahlen in Brandenburg weiter stark gesunken sind und mittlerweile unter 20 liegen, hat sich die 7-Tage-Inzidenz in Berlin bis Mitte dieser Woche kaum weiter verringert, bis Donnerstag nur auf 31,4. Zwischenzeitlich war die Zahl gegenüber dem Vortag sogar mal gestiegen.

Jetzt kann man natürlich relativieren: Ja, aber guck doch mal, woher wir kommen, wir lagen in Berlin doch mal fast bei 200, da ist 30 doch fast nichts mehr. Absolut betrachtet aber gilt: Bei einem 30er-Wert leuchtet die Corona­warnampel des Landes weiter rot, für Grün braucht es Werte unter 20.

Ein Blick nach Großbritannien, wo die Mutante Delta die Infektionszahlen wieder ansteigen lässt, wäre ein guter Grund für Vorsicht.

Wer bei dem zunehmend schönen Wetter dichte Menschenmengen weitgehend ohne Maske zusammenstehen sah, musste sich ohnehin fragen, wie die Ansteckungszahlen so drastisch sinken konnten. Immer mehr Geimpfte und Tests dürften entscheidend gewesen sein.

Jetzt aber sieht es so aus, als mache sich das oftmalige Ignorieren der Corona­regeln bemerkbar, als stoße die Entwicklung im dicht besiedelten Berlin anders als in Brandenburg an ihre Grenzen. Und auch ein Blick nach Großbritannien, wo offenbar die stark ansteckende Mutante Delta die Infektionszahlen wieder deutlich ansteigen lässt, wäre ein guter Grund für Vorsicht.

Als der Senat erste Lockerungen vor zweieinhalb Wochen vorstellte, band er weitere Öffnungen an einen festen Trend, also nicht an ein bloßes Stagnieren unterhalb eines bestimmten Werts. Nun aber kommt die Lockerung in genau so einer Situation – und damit lautet die Botschaft für viele, auch wenn es Senatsmitglieder am Dienstag mehrfach bestritten: Corona ist eigentlich vorbei, wir haben’s hinter uns.

Schön, wenn es letztlich so wäre – aber die Werte geben es nicht her. Und auch wenn die Intensivstationen auf besagter Ampel wieder im grünen Bereich sind: Weiterhin sterben täglich Menschen an Corona. Gefordert ist vom Senat jetzt eine klarere Ansage denn je, die Regeln zu Abstand und Maske einzuhalten, und noch mehr zu Tests aufzurufen – und im Zweifel der Mut, eine Lockerung wieder rückgängig zu machen, wenn sich zeigt, dass sie nicht funktioniert.

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Redakteur für Berliner Landespolitik
Jahrgang 1967. Seit 2002 mit dreieinhalb Jahren Elternzeitunterbrechung bei der taz Berlin. Schwerpunkte: Abgeordnetenhaus, CDU, Grüne.
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7 Kommentare

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  • Die Inzidenz liegt aktuell bei unter dreißig und damit steht die Ampel auf gelb. Die Gefahren der Außengastronomie sind gering.



    Und ja, Menschen sterben. Aber abgesehen davon, dass das Menschen sind, die sich vor Wochen angesteckt haben, werden Menschen weiterhin sterben. Die Bedrohung ist nicht mehr wesentlich gravierender als die, die eben mit dem Leben verbunden sind. Wir müssen damit klar kommen, dass einige von uns viel zu früh durch Infektionskrankheiten, Krebs oder Unfälle aus dem Leben gerissen werden. Da hilft auch kein Kontrollzwang.



    Die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems, was ja eigentlich die Begründung für die massiven Grundrechtseinschränkungen war, ist fürs Erste gebannt. Ab wann sind die Corona-Zahlen denn niedrig genug, um zu lockern?



    Im Übrigen scheint der Artikel zu implizieren, dass die Regeln nicht wieder verschärft werden können, falls es nötig sein sollte.

  • Im letzten Jahr sind die Zahlen nach dem Shutdown bis Mitte Juni ab ca. Mitte Juli wieder unaufhaltsam gestiegen. Dieses Jahr könnten wir Glück haben und das Rennen gegen steigende Zahlen an Infektionen durch mehr Impfungen knapp gewinnen, aber sicher ist das noch lange nicht.

    Ist aber immer mehr Menschen völlig egal. Die jungen Leute nehmen auch Infektionen in Kauf (die Verläufe sind ja auch fast immer sehr leicht), die alten sind geimpft oder verkriechen sich halt. Solange die Intensivstationen nicht überlaufen und Leute auf den Fluren ersticken, wird das einfach ignoriert werden. Und solange es keine Mutationen geben wird, die die Immunität aushebeln, ist das womöglich sogar irgendwie vertretbar, wenn auch nicht optimal.

    Ich schütze mich jetzt bis zu einer Impfung nur noch selber. Ich kann und will nicht anderen sagen, was sie zu tun haben. Das sind mir einfach zu viele und sie sind zu irrational, dagegen kommt man nicht mehr an. Und bei all dem politischen Gemurkse weiß ich auch beim besten Willen nicht mehr, auf wessen Seite ich mich da schlagen sollte, das ist ja zum Fremdschämen.

    • @Mustardman:

      "oder verkriechen sich halt". Aha. Also es freut mich wenn es bei Ihnen so aussieht, dass alle mit Impfpriorisierung und Risikogruppe geimpft sind. Bei uns im Landkreis gibts gerade nur 2. Impfungen. Das heißt wohl für alle die Angst vor Long Covid haben, Angst sich anzustecken und zu sterben etc., dass sie sich eben verkriechen müssen. Nett. Ist ja auch egal ob die Schwachen aus dem öffentlichen Leben gedrängt werden, die haben ja eh nichts zu sagen, ne?

      • @curiouscat:

        Sorry, ich wollte nicht sagen, dass ich das gut finde. Ich wollte nur feststellen, wie es aktuell aussieht.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    "Das völlig falsche Signal"

    für Neukölln und Mitte - richtig!

  • Ja, Herr Alberti, vorausschauende Politik sieht anders aus.



    Wie gewonnen, so zerronnen - hatten wir das nicht schon? Der pandemische Schweinzyklus, oder: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

    Und sie haben recht: es sterben immer noch täglich Menschen - in Berlin alle 4 Stunden ein Mensch. Und die Überlebensrate von denen, die an Beatmungsgeräte angeschlossen sind, liegt meines Wissens bei 50%.

    "100 Patienen sind wegen einer Covid-19-Erkrankung im Krankenhaus, davon werden 30 intensivmedizinisch betreut, hiervon müssen 25 beatmet werden. Sechs neue Todesfälle im Zusammenhang mit einer Covid-Erkrankung kamen hinzu." [1]

    Daß die Intensivbetten im grünen Bereich sind, sollte auch genauer betrachtet werden: meines Wissens sind weniger die Betten als das völlig überlastete Pflegepersonal der Engpaß.

    Aber vielleicht verstehen wir das auch nur falsch, und so zielt vielleicht die Maßnahme, vor den Ferien, die Schüler sich noch einmal kräftig durchinfizieren zu lassen, auf die Herdenimmunität.

    Wie wäre es mit einer Superspreader-Techno-Party im Olympia-Stadion?

    [1] www.tagesspiegel.d...ssen/25655678.html

  • Für Leute, die Menschen nicht mögen, bricht jetzt wieder eine harte Zeit an.