Weltarbeitsorganisation zu Coronafolgen: Long Covid auf dem Arbeitsmarkt
Corona hat laut ILO global über 100 Millionen Arbeitsplätze vernichtet. Betroffen sind vor allem gering Qualifizierte und Frauen im globalen Süden.
Wegen der Pandemie fiel 2020 weltweit jede elfte Arbeitsstunde aus, zusammengerechnet ergäbe das 255 Millionen Vollzeitstellen. Während manche nur vorübergehend nicht beschäftigt waren, etwa wegen Kurzarbeit, verloren 114 Millionen Menschen ihr Arbeit ganz. Noch einmal 30 Millionen Stellen wurden wegen der Pandemie nicht geschaffen. Für 2021 rechnet die ILO mit weiteren 75 Millionen, für 2022 mit 23 Millionen Arbeitslosen.
„Wir erwarten im zweiten Halbjahr 2021 zwar ein deutliches Wachstum an Arbeitsstellen, aber das wird nicht genug sein, um den Schaden der Krise zu beheben“, erklärt Ryder. Grund für die düsteren Aussichten ist einerseits das Aufflammen der Pandemie in einigen Regionen, andererseits die schleppende Impfkampagne in vielen Ländern.
Besonders dramatisch ist die Lage auf den Arbeitsmärkten Lateinamerikas und der Karibik, Asien und die Pazifikregion kamen bisher am glimpflichsten davon. Westeuropa liegt dazwischen, konnte vor allem wegen staatlicher Unterstützungen aber mehr als vier von fünf Arbeitsverträgen erhalten.
Dramatische Lage auch für Menschen mit Arbeit
Angesichts der ungerechten Impfstoffverteilung – 75 Prozent aller bisher gegen Covid Geimpften kommen aus nur zehn Ländern – überrascht es kaum, dass vom erwarteten Stellenwachstum nur wenige Staaten profitieren. „Wir gehen davon aus, dass die Arbeitssituation in armen Ländern sich weiter verschlechtern wird, während die Länder mit hohem Einkommen die Kluft am schnellsten überwunden haben werden“, so Ryder. In armen Ländern ist die Lage sogar für diejenigen, die Arbeit haben, dramatisch: 108 Millionen Menschen weltweit arbeiten zwar, verdienen aber weniger als 3,20 US-Dollar am Tag.
Mit Sorge sieht die Organisation die Zunahme selbstständiger Arbeit. Gerade im globalen Süden sei dies kein sozialer Aufstieg, sondern das Gegenteil. Selbstständigkeit bedeute für die meisten Betroffenen Arbeit im informellen Sektor, vom Autowaschen über den Straßenverkauf bis zur Garküche am Straßenrand.
Drei von fünf Beschäftigten weltweit, zwei Milliarden Menschen, arbeiten in solchen informellen Verhältnissen. Für sie gab und gibt es im Lockdown keine Unterstützung, Bankkredite ohnehin nicht. Viele informell Beschäftigte sind in den vergangenen 18 Monaten pleitegegangen, andere stehen vor einer ungewissen Zukunft. Pläne zum Wiederaufbau der Wirtschaft müssten deshalb unbedingt den informellen Sektor einbeziehen, fordert Ryder.
Das von der ILO errechnete globale Einkommen fiel 2020 um 8,3 Prozent, und auch diese Verluste sind ungleich verteilt. Auf der ganzen Welt sind die Verliererinnen der Krise mehrheitlich weiblich. Einerseits ging die Beschäftigung von Frauen weltweit während der Pandemie um 5 Prozent zurück, bei Männern liegt die Quote bei 3,9 Prozent. Die ILO prognostiziert zudem, dass nur jede zehnte Frau auf den Arbeitsmarkt zurückkehren wird, was auch daran liegt, dass die Zahl der Stunden, die Frauen unbezahlt arbeiten – etwa in Haushalt und Familie –, deutlich zugenommen hat.
Auch Jugendliche stark betroffen
ILO-Chef Ryder fürchtet, dass diese Entwicklung „antiquierte Geschlechterrollen wiederbeleben“ werde. Besonders betroffen sind außerdem Jugendliche, gerade dann, wenn sie während der Pandemie am Übergang zwischen Ausbildung und Arbeitsleben standen. Erfahrungen zeigten, dass solche Vorkommnisse die Karrieremöglichkeiten und das Lohnniveau für Jahrzehnte beeinträchtigten – vorausgesetzt, die Jungen finden in der Nach-Covid-Wirtschaft überhaupt Arbeit. Die Zahl junger Arbeitsloser in der Pandemie ist laut ILO zweieinhalb Mal höher als die der erwachsenen; bei vielen von ihnen sei vollkommen ungewiss, wann und ob sie je wieder Arbeit fänden.
Am kommenden Montag beginnt die Internationale Arbeitskonferenz. Regierungen, Arbeitgeber und Gewerkschaften werden dort auch darüber sprechen, wie die Zukunft der Arbeit nach der Pandemie aussehen kann. Corona habe gezeigt, wie unverzichtbar soziale Sicherungssysteme seien, sagt ILO-Chef Ryder. Nur eins schließt er aus: dass die Arbeitswelt jemals wieder so wie vor der Pandemie sein wird. Ob das eine gute Nachricht ist, muss sich zeigen.
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