Identität in Sachsen-Anhalt: Ewig auf Suche nach dem Wir
Das Image als Schlusslicht prägt Sachsen-Anhalt. Nicht mal mit glorreicher Historie kann man sich trösten. Aber vielleicht ist anderes wichtiger.
Nach dem Wahlsieg wolle man als Erstes das Land Sachsen-Anhalt abschaffen, grinst eine Sprecherin der rotbeschlipsten Satiretruppe „Die Partei“ ins Mikrofon. Hinter der Bemerkung steckt mehr Tiefgang, als man der „Partei“ zutrauen würde. Denn das Bindestrich-Bundesland konstruiert seit 30 Jahren Identitäten und ringt um sein Image. Den Menschen, denen man hier begegnet, merkt man es auf den ersten Blick wenig an. Verglichen mit den Sachsen nebenan wirken sie spontan vertrauenerweckender und geradliniger. Und nicht nur beim Idiom klingt manches nach der „Berliner Schnauze mit Herz“. Aber das ist schon Teil des Identitätsproblems.
Vor allem in der Zeit der Umbrüche und Verunsicherungen, die dem Aufbruch 1989 in der DDR folgten, bot der Rückgriff auf Traditionen und Geschichte überall im Osten zumindest eine mentale Orientierung. Wie wichtig immaterielle Werte waren, zeigte im Nachbarland die Beschwörung eines Sachsen-Mythos´ in der Ära von „König“ Kurt Biedenkopf. Der sächsische Übermensch hatte über Jahrhunderte Rückschläge wie den Niedergang des Bergbaus kreativ verkraftet, also würde er sich auch diesmal aufrappeln.
Auf ein solches stützendes Narrativ konnte Sachsen-Anhalt nicht zurückgreifen. Der moralische Schub einer glorreichen Vergangenheit blieb dem künstlichen Land verwehrt. Vorgängerterritorien waren seit dem Wiener Kongress von 1815 die 1944 von den Nazis aufgeteilte preußische Provinz Sachsen und der Freistaat, später das Land Anhalt. Nach der Kapitulation wurde in der Sowjetischen Besatzungszone 1947 das fusionierte Land Sachsen-Anhalt gegründet. 1952 hob die DDR die Länderstruktur schon wieder auf.
In der Phase der Länderneubildung verunsicherten sächsische Pläne die potenziellen Sachsen-Anhalter zusätzlich. Variantenvorschläge sahen auch ein Groß-Sachsen-Thüringen und ein Groß-Brandenburg vor. Die Restitution des 1952 aufgelösten Landes kam gar nicht mehr vor. In den Grenzen der bisherigen DDR-Bezirke Halle und Magdeburg wurde es schließlich doch wiederhergestellt, nunmehr mit der Hauptstadt Magdeburg.
Ungünstige Startbedingungen
Eine Selbstfindung des heterogenen Neulandes erschwerten ungünstige Startbedingungen. Im Norden, in der Börde und in der Altmark, herrschten ohnehin Äcker und Wälder vor. Im Süden waren Kohle- und Kaliabbau sowie Chemiegebiete wie der Raum Bitterfeld besonders stark von der Deindustrialisierung nach der Währungsunion betroffen. Eine Erfolgsgeschichte, und sei sie nur suggestiv inszeniert wie in Sachsen oder Thüringen, konnte niemand glaubwürdig erzählen. Bei fast allen statistischen Kennziffern rangierte das Land im Bundesvergleich am Ende.
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Höchste Arbeitslosigkeit, geringste Gründerneigung, Niedriglöhne und demzufolge geringste Kaufkraft, dramatische Abwanderung und Überalterung bewirkten ein Rote-Laterne-Image, das wie ein kollektives Trauma wirkte. Manche der hartnäckigen Negativnachrichten tragen bis heute skurrile bis makabre Züge. Spitzenplätze auf der bundesweiten Angst-Skala etwa, und noch in diesem Wahlkampf-Mai fand das Bundeskriminalamt heraus, dass bei Straftaten in Sachsen-Anhalt am häufigsten geschossen wird.
Am Selbstbild hat sich wenig verändert
Wie in anderen ostdeutschen Ländern auch konnten in den vergangenen zehn Jahren in Sachsen-Anhalt einige Trends wie Abwanderung und Niedrigentlohnung gestoppt oder sogar umgekehrt werden. Am Selbstbild der 2 Millionen Einwohner hat das offenbar wenig geändert. Entsprechende Erhebungen hinterließen in den vergangenen 20 Jahren einen auffallend schwankenden Eindruck.
Negative Konnotationen schienen 2009 überwunden, als eine Zeitung feststellte, zwei Drittel der Sachsen-Anhalter fühlten sich ihrem Land „innig verbunden“. 2014 behauptete der Sachsen-Anhalt-Monitor ebenfalls, zwei Drittel der Bürger seien im Grunde zufrieden. Ein Jahr später waren es nur noch 28 Prozent.
Beim seit eineinhalb Jahren laufenden Online-Meinungsbarometer „MDRfragt“ erhärteten die Teilnehmer in diesem Mai das Schlusslicht-Dauerimage ihres Landes. 69 Prozent der jungen Menschen halten dieses für unattraktiv. Im Vergleich mit Sachsen und Thüringen wird Sachsen-Anhalt auch bei Gewerbeansiedlungen, medizinischer Versorgung, Umwelt- und Klimaschutz oder bei der Anbindung ländlicher Räume am schlechtesten bewertet.
Hoher Erlösungsbedarf
Die Folge ist ein anhaltend hoher „Erlösungsbedarf“, mit dem sich auch das volatile Wählerverhalten erklären lässt. Wie überall im Osten ruhten 1990 die Hoffnungen zunächst auf der CDU. Mit dem Magdeburger Modell übernahm 1994 eine Minderheit von SPD und Bündnisgrünen die Regierung und ließ sich von der PDS tolerieren – ein bundesweiter Skandal. Ein noch größerer waren vier Jahre später die 12,9 Prozent der rechtsradikalen und völlig politikunfähigen Deutschen Volksunion DVU. Das Politikbeben, das die 24,3 Prozent der AfD 2016 nur drei Jahre nach deren Gründung auslösten, fällt in die gleiche Kategorie.
Die Spitzenkandidat*innen in Sachsen-Anhalt
Nachweisbare Erfolge haben offenbar sowohl das Selbstbild als auch das Image Sachsen-Anhalts nicht entscheidend aufbessern können. Seit jeher galten hier Kinderbetreuung und Ganztagsanspruch als vorbildlich, Hochschulen und Universitäten sind wettbewerbsfähig, aus Drecklöchern wie Bitterfeld oder den Braunkohletagebauen sind touristische Attraktionen wie die Goitzsche oder der Geiseltalsee geworden.
„Wir stehen früher auf“
Wie konnte die wenig beneidenswerte Landespolitik gegensteuern? Parallel zu den begrenzten Möglichkeiten konkreter Programme hat sie immer wieder versucht, ideelle und Imagedefizite in eine offensive Hauruck-Stimmung umzumünzen. Der spätere Finanzminister Jens Bullerjahn, eine schillernde SPD-Figur, prophezeite 2002 dem Land eine „Spitzenposition“ schon im Jahre 2010. Frohbotschaften sollte auch die „Heimatschachtel“ verbreiten, mit der ab 2006 vor allem junge Leute zur Rückkehr bewogen werden sollten. Mit dem Slogan „Wir stehen früher auf“ erntete Sachsen-Anhalt Respekt, aber auch Spott.
Wichtiger für die Identitätsbildung war und ist die Vergangenheitsbeschwörung. Der Rückgriff erfolgt auf Zeiten, die mit dem Landesnamen noch gar nichts zu tun haben konnten, dafür mit großer deutscher Geschichte. Drei Millionen Euro kostete 2012 die Magdeburger Landesausstellung „Otto der Große und das Römische Reich“. „Wir möchten, dass die Menschen erkennen, in welch lange Läufe der Geschichte wir eingebettet sind“, erklärte der Direktor des Kulturhistorischen Museums, Matthias Puhle, damals.
Heiligtum in Stonehenge-Dimensionen
Die Himmelsscheibe von Nebra bekam ein Heiligtum in Stonehenge-Dimensionen. In frischer Erinnerung ist noch der Riesenhype um 500 Jahre Reformation in Wittenberg oder das Bauhaus-Jubiläum 2019. Stolz ist das Land zu Recht auf seine sechs Unesco-Welterbestätten.
Eine ungewollte aktuelle Allianz zwischen SPD und AfD zeigt, dass dieses Engagement für das Landeserbe nicht unumstritten ist. Beide bemängeln, dass Mittel aus dem Kohle-Umstrukturierungs-Fonds für den Naumburger Dom und das Wörlitzer Gartenreich abgezweigt worden sein sollen. Mit der Gegenwartskunst tut sich Sachsen-Anhalt schon schwerer. Theater und Orchester haben schmerzhafte Kürzungsrunden hinter sich.
Unter den Publikationen des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt entdeckt man zwar vieles zu historischen Details, aber keine Gesamtschau zur Identitätsproblematik. Geschäftsführerin und Ethnologin Annette Schneider-Reinhardt macht sich darüber auch keine Sorgen. Vor allem Jüngere hätten „kein Problem mit der Landesidentität“. Diese Erörterung sei überhaupt mehr „eine Zuschreibung von außen“. Wie anderswo auch würden Selbstzuordnungen zuerst regional erfolgen.
So gesehen erscheinen Kampagnen zur Erweckung eines sachsen-anhaltischen Nationalbewusstseins müßig. Wichtiger sind positive Erfahrungen der Bürger, die dem Bindestrichland aus der gefühlten Defensive heraushelfen.
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