piwik no script img

Kostenlose Ausweise für ObdachloseRaus aus dem Abseits

Im Hamburger Bezirk Mitte bekommen Obdachlose ihren Personalausweis ab dem 1. Mai kostenlos. Das erleichtert Jobsuche und Behördenkontakte.

Obdachlosigkeit in Hamburg: Jürgen Pfeuffer vom Mitternachtsbus bringt ein Lunchpaket Foto: Christian Charisius/dpa

Hamburg taz | Ausweisdokumente kosten Geld. Ist halt so, sagen sich die meisten und denken nicht weiter drüber nach. Man geht zum Amt, zahlt, fertig.

Jan Korte, Bundestagsmitglied von Die Linke, findet aber, Ausweise seien „keine Extra-Leistung der Behörden, sondern eine notwendige allgemeine Dienstleistung für alle Bürgerinnen und Bürger, die der Ausweispflicht unterliegen“. Das Dokument solle „einmal innerhalb der jeweiligen Gültigkeitsdauer kostenlos ausgestellt werden“.

Ob das jemals bundesweit so kommt, steht in den Sternen. Aber es gibt Beispiele, die zeigen, dass es geht: Ab dem 1. Mai stellt das Bezirksamt Hamburg-Mitte Menschen ohne festen Wohnsitz gebührenfreie Personalausweise aus, erst mal für ein Jahr. Bisher mussten oft Hilfsorganisationen die Kosten aus Spendengeldern decken.

Der Antrag kam von der SPD-, CDU- und FDP-Koalition. Die Grünen, Die Linke und die AfD stimmten zu. „Freiheit ist kein leeres Versprechen, das nur für Reiche gilt“, sagt Timo Fischer, Vorsitzender der FDP-Bezirksfraktion in Mitte. „Wir wollen allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.“

Hamburg-Mitte nimmt unter den Bezirksämtern eine Sonderrolle ein. Es ist zuständig für alle alleinstehenden wohnungslosen Menschen, die zuvor nicht in der Stadt gemeldet waren. Zudem leben von den – einer Studie von 2018 zufolge – mindestens 1.900 obdachlosen Menschen in Hamburg die meisten in Mitte; rund 600 von ihnen beantragen jährlich einen Personalausweis. Dazu kommen Menschen, die nach länger Abwesenheit zurückkehren und nicht registriert sind. Für sie alle sieht das Bezirksamt „Handlungsbedarf“.

Einstimmigkeit bei der Abstimmung für das Projekt

Angesichts dessen wertet Fischer die Einstimmigkeit des Beschlusses für das Projekt als wichtiges Zeichen. Bei dem „dicken Brett, dass da zu bohren ist“, brauche es „einen breiten Konsens, nicht nur politisch“. Und eine bloße Bekämpfung der Obdachlosigkeit reiche nicht. „Wir müssen sie beenden!“ Der kostenlose Personalausweis sei da nur ein Baustein. „Immerhin gibt er den Betroffenen ein wenig Würde zurück.“

Und es geht nicht nur um Würde, sondern auch um Sozialleistungen. Eine Inanspruchnahme sei „ohne Personalausweis oder ein anderes Ausweisdokument faktisch nicht möglich“, sagt Malte Habscheidt, Sprecher der Diakonie Hamburg. Ohne Sozialleistungen wiederum bekämen obdachlose Menschen „kein Bein auf den Boden, an eine Wohnung oder gar Arbeit ist ohne Ausweis nicht zu denken“, so Habscheidt weiter. Die Diakonie begrüßt das Pilotprojekt deshalb als einen „wichtigen Schritt, Hürden für obdachlose Menschen abzubauen und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen“.

Arm machen die so anfallenden Kosten das Bezirksamt wohl nicht: Rund 33.000 Euro werden pro Jahr anfallen. „Der erforderliche Mittelansatz ist verschwindend gering“, sagt Fischer. Er hofft, „dass von diesem Projekt eine Signalwirkung ausgeht“. Für die vielen Probleme, vor denen obdachlose Menschen stünden, müsse man pragmatische und schnelle Lösungen finden – nicht nur in Hamburg-Mitte. Zudem dürfe man Entscheidungen „nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg“ treffen. Deshalb tausche man sich mit Vereinen wie „Leben im Abseits“ aus.

„Leben im Abseits“, gegründet, um „über das unakzeptable und menschenunwürdige Leben auf der Straße aufzuklären“, bestätigt, dass der interfraktionelle Vorstoß in die richtige Richtung zielt.

Im März 2022 soll dann eine Auswertung des Pilotprojekts vorliegen, zudem eine Empfehlung des Bezirksamts, wie es weitergeht. Vielleicht setzen sich dann auch die übrigen sechs Bezirke ins Boot.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • taz: „Freiheit ist kein leeres Versprechen, das nur für Reiche gilt“, sagt Timo Fischer, Vorsitzender der FDP-Bezirksfraktion in Mitte. „Wir wollen allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.“

    In "Freiheit" sind diese armen obdachlosen Menschen ja schon. Wie wäre es denn einmal mit Würde (Art, 1 GG) und auch eine kleine Wohnung, für die mittlerweile 52.000 Obdachlosen in Deutschland? Leider fallen jedes Jahr viele Sozialwohnungen in Deutschland aus derPreisbindung heraus,können dann also teurer vermietet werden, und damit werden die ohnehin schon wenigen Sozialwohnungen noch weniger.

    Timo Fischer (FDP) kann ja mal in Hamburg vom Rathaus über die Mönckebergstraße zum Hamburger Hauptbahnhof gehen (ca. 1 Km). Ab 22 Uhr liegen da Dutzende von Obdachlosen, die von den Prachtbauten (z.B. die Elbphilharmonie), die in Hamburg gebaut wurden und immer noch gebaut werden sollen ("Elbtower" – ein 200 Meter hohes Hochhaus, das bis zu eine Milliarde Euro kosten soll), allerdings nichts haben. Die Reichen feiern ihren Reichtum in Prachtbauten und die Armen werden obdachlos und "leben" und "schlafen" schon auf der Straße. Das ist die bittere Realität in Deutschland. Vielleicht sollte die FDP mal weniger von Freiheit schwadronieren, sondern sich die Armut in Deutschland endlich mal anschauen.

  • Der kostenlose Ausweis erleichtert auch die Gängelung der Obdachlosen und macht diese kalkulierbarer, schützt sie aber nicht wirklich, sobald bestimmte Straftaten sich addieren, werden sie immer noch festgenommen, weil sie ja keinen festen Wohnsitz haben. Die Frage ist dann sowieso das größte Problem, wo lebt ein Obdachloser wirklich? Was steht denn auf dem Ausweis. Nun ja, was da auch steht, es wird so kaum stimmen.

  • Weiterdenken und das Ding ganz abschaffen? In anderen Ländern gibt's auch keinen Perso. In D ist der erst von den Nazis eingeführt worden.

    Zweitbeste Lösung: Kostenlos für alle...

    • @kditd:

      Die zweitbeste Lösung wäre angesagt. Es ist ohnehin ein Unding, das man als Steuerzahler die Verwaltung schon finanziert und trotzdem extra für einen Ausweis zahlen muss, der ja verpflichtend ist (Perso oder Reisepass). Das ist gelinde gesagt einfach staatliche Abzocke. Da hat Herr Korte völlig Recht.