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Missstände in der Hamburger JugendhilfeHilferuf der Helfer

Mitarbeiter aus Hamburger Jugendhilfeeinrichtungen beklagen „desaströse Zustände“. Unter anderem würden wieder mehr private Wachleute eingesetzt.

Wenn Kinder einen sicheren Ort jenseits des Elternhauses brauchen – wo landen sie dann? Foto: picture alliance/dpa/Off Roads Kids/Mario Hausmann

Hamburg taz | Hamburg setzt wieder verstärkt Wachleute beim Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB) ein. Das geht aus einer Anfrage der Linken hervor. So ist seit dem 25. Februar der Wachdienst auch wieder in einer Kinderschutzgruppe für Sechs- bis Zwölfjährige in Harburg präsent. Außerdem arbeitet der Sicherheitsdienst in sieben Jugendeinrichtungen, zwei Mutter-Kind-Häusern und beim zentralen Kinder- und Jugendnotdienst (KJND).

Anlass für die Anfrage war ein anonym gehaltener „Hilferuf“ über die „desaströsen Zustände im LEB“, der am 10. März bei der Linken einging. Darin berichtet ein Hinweisgeber vom verstärkten Wachleute-Einsatz.

Darüber hinaus würden Mitarbeiter des mit rund 700 Beschäftigten größten Jugendhilfeträgers der Stadt von ihren Vorgesetzten und Abteilungsleitern angewiesen, „über Leitungsversagen (Erniedrigung von Kindern und Anwendung schwarzer Pädagogik) zu schweigen“. Zudem würden Elternrechte nicht beachtet. Die Zustände seien dramatisch, heißt es weiter in dem Schreiben, das auch der taz vorliegt. Es herrsche ein „Klima der Angst“ und die Geschäftsführung bekomme davon leider nichts mit.

Der LEB-Geschäftsführer Klaus-Dieter Müller wollte sich zum anonymen Schreiben gegenüber der taz nicht äußern und verwies auf die Antworten des Senats auf die Linken-Anfrage.

Auch die Sozialbehörde ließ vor Ostern Fragen der taz zu diesem Thema unbeantwortet. Die Linke-Jugendpolitikerin Sabine Boeddinghaus hatte den Senat am 10. März nach Missständen beim LEB gefragt, da sie Informationen über „schlechtes Betriebsklima und Missachtung sowohl von Kinderrechten als auch von Rechten der Eltern“ erreicht hätten. Sie wollte unter anderem wissen, wie und wo sich Mitarbeiter des LEB über Missstände beschweren könnten.

Man muss darüber nachdenken, den Kinder- und Jugendnotdienst zu regionalisieren

Sabine Boeddinghaus, Die Linke

In der Antwort schreibt der Senat, in Betreuungseinrichtungen mit Schichtbetrieb seien belastende Situationen „unvermeidbar“. Die LEB-Beschäftigten seien sogar „aufgefordert, Kritik vorzubringen, damit diese aufgegriffen und bearbeitet werden kann“. Es sei auch Aufgabe der Vorgesetzten, dies aufzugreifen. „Sanktionen zur Unterdrückung berechtigter, kritischer Äußerungen sind nicht erlaubt.“ Konkret hätten seit Anfang 2020 zwei Teams Überlastungsanzeigen gestellt. Darüber, wie oft sich Mitarbeiter beschwerten, werde „keine Statistik“ geführt.

Auch über Elternbeschwerden gebe es keine Statistik. Bei der LEB-Leitung seien zwei Beschwerden zur Coronabesuchsregel eingegangen, von denen eine per Gericht korrigiert und die andere per Einigung behoben sei. Und auch über die Beschwerden von Kindern gebe es keine Statistik, deren Kritik würde im Alltag bearbeitet und bei Bedeutung im pädagogischen Tagebuch vermerkt.

Was allerdings dokumentiert ist, sind die „Besonderen Vorkommnisse“ beim LEB. Hier sticht vor allem der KJND hervor, jene Anlaufstelle mit 36 Plätzen in der Feuerbergstraße, an die Minderjährige sich wenden können, die von zu Hause weggelaufen sind, dem aber auch Kinder und Jugendliche zugeführt werden, die außerhalb der Öffnungszeiten der Jugendämter durch die Polizei aufgegriffen werden und nicht zur Familie gebracht werden konnten.

Dort sind sogar drei Security-Leute rund um die Uhr anwesend. Es gab dort laut der Senatsantwort 2020 über 400 Vorkommnisse, unter anderem 13-mal Körperverletzung, 19 Polizeieinsätze, acht Übergriffe auf Betreuer, 13-mal Drogenmissbrauch, fünf Überfälle, viermal Misshandlung, sechsmal Bedrohung, einmal Vernachlässigung und 179-mal „Entlaufen“ von Kindern und Jugendlichen. Das Weglaufen wurde in einem Dutzend Fällen auch aus anderen LEB-Einrichtungen, darunter sogar einem Kinderschutzhaus, vermeldet. Für Sabine Boeddingshaus ist jedoch die Häufigkeit des Entlaufens beim KJND ein Hinweis dafür, dass dort etwas nicht stimmen könnte.

Zwei Sozialarbeiterinnen, die mit ehemaligen Nutzern arbeiten, aber namentlich nicht genannt werden möchten, berichten, dass insbesondere junge Mädchen sich beim KJND oft nicht wohl fühlten und beeinträchtigt seien von der Anwesenheit der Security. Auch gilt es als ungünstig, dass dort Kinder und Jugendliche ganz verschiedenen Alters und mit ganz unterschiedlichen Problemen zusammenkommen. „Schon als ich vor 20 Jahren studierte, wurde dort diskutiert, ob es nicht sinnvoller ist, diese Stelle auf die Bezirke zu dezentralisieren“, sagt die eine Sozialarbeiterin. Der KJND sei für Viele zu groß und nicht der Ort, wo sie sich geschützt fühlen. Auch ein Mitarbeiter des Jugendamts berichtet, er habe erlebt, dass Jugendliche diese Einrichtung meiden.

„Für uns gehört der KJND aus fachlicher Sicht auf den Prüfstand“, sagt Sabine Boeddinghaus. Man muss darüber nachdenken, ihn zu regionalisieren oder zumindest eine Studie darüber zu machen.“ Aus Sicht der Linken gehöre die Security nicht in Kinder- und Jugendeinrichtungen. „Ein Problem ist, dass es zur Vermischung mit der pädagogischen Arbeit kommt.“

Eine solche Dezentralisierung des KJND war schon Thema in der Enquete-Kommission „Kinderschutz und Kinderrechte stärken“ von 2017 gewesen, fand aber keinen Niederschlag in deren Empfehlungen.

Allerdings gab es in Folge der Enquete im November 2019 unter dem Titel „Jugendamt in Bewegung“ von Wissenschaftlern geführte „Qualitätsdialoge“ mit Jugendlichen und Eltern, die Erfahrungen mit Hamburgs Jugendhilfesystem haben. Dieser Bericht liegt seit Mitte 2020 als Entwurf den am Projekt Beteiligten vor und soll auch Hinweise auf Missstände beim KJND enthalten. Auf eine Anfrage der Linken von Anfang Februar, wann er das Licht der Welt erblickt, erklärte der Senat, zunächst seien aus Datenschutzgründen noch „redaktionelle Abstimmungen“ nötig.

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