Sexuelle Gewalt im Judo: Wir waren bescheuert
Warum melden sich so wenige Opfer sexueller Gewalt im Sport? Gesehen wird viel, nur gehandelt nicht. Eine Judoka erzählt aus einer komplizierten Welt.
Die Birken zuckten im Fenster. Je näher wir auf der B4 in Richtung Braunschweig kamen, umso birkiger wurde es. Licht und Schatten in den Autofenstern. Wir waren auf dem Weg zum Trainer-C-Lehrgang und hörten Schlager von Katis Kassette. An jeder Raststation überreichte mir die schöne Blondine eine Marlboro light. „Wir waren schon bescheuert“, sagte sie mir kürzlich.
Ich hatte sie auf einen Forenbeitrag im Judo Forum hingewiesen. 1999 hatte ich ein Gespräch über Essstörungen angeregt. So richtig stieg da kaum wer drauf ein. Obwohl Judo wie viele Sportarten nach Gewichtsklassen segmentiert ist. Heute ist das ein Thema.
Wir waren bescheuert und machten, was uns gefiel. Beim Lehrgang machten wir Witze über ältere Ehepaare und über die Ehefrau des einen Trainerausbilders. Abends in die Disco, Kati entschied sich für ein Bananenbier, auf der Karte stand „BaBi“, sie sprach es wie „Barbie“ aus. Mit Henry, die ich von den Sommerlagern kannte, machte ich gern Telefon- und Klingelstreiche.
Dieses Mal klingelten wir bei der Weltmeisterin, die uns am Tag zuvor noch ihr weltmeisterliches Judo beigebracht hatte. Wir waren auch Zeuginnen einmaliger Ereignisse geworden. Zufällig war die Weltmeisterin, noch unverheiratet, während des Lehrgangs 30 geworden und musste daher das bei Licht betrachtet peinliche Ritual des Klinkenputzens über sich ergehen lassen. Man sah dem Trainerausbilder an, wie es ihn erregte, er sabberte bei dem Gedanken an die klinkenputzende und Fremde küssende Weltmeisterin wie ein Hund.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Praktische Teilnehmerlisten
Später klingelten wir und durften tatsächlich in ihre Wohnung. Die Weltmeisterin, die uns vor wenigen Stunden noch mit „Rhythm is a dancer“ animiert hatte, erzählte uns 17-Jährigen von ihrer frauenpolitischen Arbeit und wirkte plötzlich gar nicht mehr so fröhlich und kraftvoll wie auf der Matte. Sie versuchte uns einzuschärfen, dass wir wichtig und wertvoll seien und dass uns das keiner ausreden könne.
Wir waren schon bescheuert. Das haben die älteren Männer ausgenutzt. Geholfen haben dabei Teilnehmerlisten mit Daten. Als ich 1999 allein in Halle an der Saale lebte, erhielt ich eines Tages eine SMS von dem Trainerausbilder. Ob ich nicht in eine Nachbarstadt zu einem Turnier kommen wolle. „Wo hast du denn meine Handynummer her?“, schrieb ich halb verärgert, halb geschmeichelt. Und fuhr am Wochenende natürlich zu dem Turnier.
Nach dem Turnier kam der mit seiner Trainingstasche um die Ecke, ich stand da, rauchte Cabinet würzig, mit einem anderen, den ich aus meinem Landkreis kannte. Er war als Fotograf bekannt. Verschmitzt lächelnd zog der Trainerausbilder Dosenbier aus seiner Trainingstasche. Der Fotograf sagte: „Wo hast du das denn her?“ „Tankstelle“, grinste der Trainerausbilder. Die beiden wirkten fast wie ein eingespieltes Paar.
Später waren wir, scheinbar plötzlich, in deren Jugendherbergszimmer. Vier Dosenbier waren mehr als der eine Liter, den ich damals vertrug. Ich und der Trainerausbilder nackt auf dem linken Bett, rechts der Fotograf. Ich saß auf dem Trainerausbilder, seine dicken, prallen Oberschenkel. Sein Penis wie ein Pinsel. Er hob mich hoch und runter. Ich bemerkte ein Klicken.
Der Fotograf hatte seine Kamera zwischen den Knien. Klick, klick. Erschrecken. „Küss mich!“, sagte der Trainerausbilder, um abzulenken. Später hatte ich auch seinen pinselhaften Penis im Mund. Ekelhaft, Trainerausbilder, sagte ich später zu ihm bei Facebook. Eine Klärung war da nicht möglich.
Verbände wissen Bescheid
Das war nicht der einzige Vorfall. Zuvor bei einem Sommerlager, wo ich als Betreuerin eingesetzt war, war ich mehrmals ausgenutzt worden. Ich erspare dem geneigten Leser die Details. Sie liegen dem Niedersächsischen Judo-Verband vor, genau wie dem Deutschen Judo-Bund.
Der Lehrreferent des Niedersächsischen Judo-Verbandes hat hingesehen bei dem, was sein Trainerausbilder gemacht hat. Er hat mir mal ungefragt gesagt: „Was der Trainerausbilder alles so macht, das finde ich auch nicht so gut.“ Eine Kultur des Hinschauens allein hilft nicht, es muss gehandelt werden.
Im konkreten Fall des Niedersächsischen Judo-Verbandes kann sich keiner damit rausreden, dass es zu wenige gute Leute gebe, die man mit der Trainerausbildung betrauen könne. Mir sind Vorzeigesportler bekannt, die jahrelang nicht eingebunden wurden. Dafür scharte der Lehrreferent Schwache um sich, die ihm nicht gefährlich werden können. „Jetzt muss ich wieder Politik machen“, jammerte er manchmal.
Er jammerte und beteiligte sich an sexistischen Sprüchen gegen die Weltmeisterin. „Da saß die auf diesem 18-Jährigen und saugte ihn aus.“ War wohl der pure Neid, Gejammer, dass sie ihn selbst nicht ranließ. Alle haben gesabbert und dann sexistische Sprüche gemacht. Dagegen fallen die Puffbesuche, die mich erschreckten, als ich von ihnen bei dem Deutschlandpokal hörte, dem Auswahlkampf der Landeskader, kaum mehr ins Gewicht.#
Cola-Flaschen in den Anus
Die Weltmeisterin ist von den frauenfeindlichen Zuständen im NJV so krank geworden, dass sie sich frühpensionieren lassen musste. Sie hat versucht, uns zu warnen, als wir bei ihr Klingelstreich machten. Die Mädchenarbeit war ihr immer ein Anliegen. Vielleicht auch ein Anliegen in eigener Sache. Aber der Verband förderte lieber jammernde Männer als starke Frauen.
Der Lehrreferent jammerte auch, als es im Jungenkader zu einem Vorfall kam. Jungen wurden Cola-Flaschen in den Anus gesteckt. Mit sichtlich angeekeltem Gesicht erzählte er. Wieder der Trainerausbilder. Kein harter Hund, sondern ein lustiger Spaßmacher. Hüpft mal hier mal da und sieht sich selbst als Mobbingopfer. Er hatte die Aufsicht gehabt. „Das ist vom Bundeskader eingeschleppt worden“, redete er sich raus, als ich ihn im Rahmen meiner eigenen Recherchen bei Facebook darauf ansprach.
Als ich beim Deutschen Judo-Bund nachfragte, was es mit diesen Ritualen im Bundeskader der Jungen auf sich habe, erhielt ich keine Antwort. Für mich war es verstörend, dass die Person, die mich sexuell ausgenutzt hat, wenn nicht genötigt, also nach alter Rechtslage vergewaltigt (nach alter Rechtslage wurde eine sexuelle Nötigung automatisch zu einer Vergewaltigung, wenn es zur Penetration kam), auch für die schlechte Aufsicht beim Jungenkader verantwortlich sein sollte. Was waren das für Zustände?
„Das war in den 90ern schon unprofessionell, teilweise kriminell“, sagt einer, der damals dabei war. Alle wissen es. Der eine hat Abrechnungsbetrug gemacht und der andere Schlimmeres. Der eine musste aufhören und der andere nicht. Gerade in Randsportarten scheint es, dass man als Trainer nehmen muss, wen man bekommt, und eine vergleichsweise junge Sportart wie Judo musste sich in Deutschland erst entwickeln, gerade im Frauenbereich. Leidtragende der Zustände waren vor allem Mädchen, Frauen und Jungen. Auch die Klassenfrage spielte eine Rolle.
Erfahrungen wie die mit den Cola-Flaschen kann man gewiss auch als Mann verarbeiten, entweder als degeneriertes Kaderritual brandmarken und später ein ordentliches Leben führen, oder man fetischisiert die Erfahrung. Bislang hat keiner der Betroffenen den Mut gefunden, über den damaligen Vorfall zu sprechen.
Warum melden sich so wenige Opfer? Weil der Sport kompliziert ist. Komplizierter als viele andere Strukturen. Und weil wir alle wissen, dass wir einfach bescheuert waren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht