Unterfinanzierung von Kitas: Kaum Herz für Kinder
Gute Bildung beginnt in der Kita. Doch die sind oft unterbesetzt. Ein Lagebericht vor dem Lockdown – und was danach passieren müsste.
Als Paul, Lutz, Jule, Marie und Lenny am Frühstückstisch sitzen, dämmert es draußen noch. Die Zweijährigen, die eigentlich anders heißen, mümmeln an ihren Käsebroten. Sie wirken müde, ihre Augen sind klein, keines der Kinder spricht. Erzieherin Marianne Walther füllt warmen Kräutertee in ihre Becher, ihre Kollegin schmiert Jule ein zweites Brot.
Von der bundesweit knappen Personalsituation in deutschen Kindertagesstätten ist in der Krippe „Torgauer Straße“ in Berlin-Hellersdorf an diesem Dezembermorgen nichts zu spüren – noch nicht. Wenige Minuten später muss Marianne Walther zwei Kinder am Eingang abholen, weil die Eltern pandemiebedingt das Gebäude nicht mehr betreten dürfen.
Gleichzeitig braucht Paul auf der Toilette dringend Hilfe von Walthers Kollegin. Die Zweijährigen im Gruppenraum sind auf sich alleine gestellt. Glücklicherweise passiert nichts, keines der unbeaufsichtigten Kinder verschluckt sich, weint oder fällt vom Stuhl.
Darauf zu setzen, dass gerade noch mal alles gut geht, hat System: Bundesweit fehlten im Jahr 2019 mehr als 100.000 Erzieher*innen, die laut Berechnungen der Bertelsmann Stiftung nötig wären, um das von der Stiftung empfohlene Betreuungsverhältnis von 1:3 für unter Dreijährige und maximal 1:7,5 für Kindergartenkinder umzusetzen.
De facto lag das Betreuungsverhältnis im Bundesdurchschnitt allerdings bei 1:4,2 für Krippenkinder und 1:8,9 für Kindergartenkinder. Quarantänezeiten, erhöhter Krankheitsstand und Sorgeverpflichtungen der Erzieher*innen führten dazu, dass sich die Lage in den letzten Monaten zuspitzte.
Sorge um Sicherheit
War der empfohlene Personalschlüssel vor der Pandemie noch Richtwert, um ein förderndes Umfeld zu schaffen, sorgt sich die Hellersdorfer Erzieherin Marianne Walther inzwischen schlicht um die Sicherheit der Kinder. „Ein- bis Zweijährige müssen eigentlich ununterbrochen beaufsichtigt werden“, sagt Walther, die schon seit 37 Jahren als Erzieherin arbeitet. Doch dafür reicht das Personal nicht. Die 56-Jährige sieht keine andere Möglichkeit, als Überstunden zu leisten. „Ich kann nicht nach Hause gehen, wenn ich weiß, dass meine Kollegin dann zur Abholzeit alleine wäre“, sagt sie.
Auch jenseits der Abholzeiten hatte sich die Situation in ihrer Krippe vor dem zweiten Lockdown zugespitzt. Um die üblichen Betreuungszeiten beibehalten zu können, springen Erzieher*innen häufig in Nachbargruppen ein. „Darunter leiden die Kinder sehr“, sagt Walther. „Gerade für die ganz Kleinen ist es schwer, sich ständig auf eine andere Erzieherin einzulassen.“
Der Personalmangel geht auch an den Erzieher*innen nicht spurlos vorbei – nicht erst seit der Pandemie. Laut einer Erhebung der OECD von 2020 leidet jede dritte Fachkraft in Deutschland unter Stress, weil Kolleg*innen ausfallen; jede vierte überlegt, ihren Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufzugeben. Einer Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge ist es für die Betroffenen besonders hart, wegen des Personalmangels den Erwartungen an die eigene Arbeit nicht entsprechen zu können. Viele Erzieher*innen beobachten an sich selbst, dass sie weniger Empathie für die Kinder haben, nicht mehr auf ihre emotionalen Bedürfnisse eingehen oder autoritär auftreten.
„Es ist eine zusätzliche psychische Belastung, wenn dann auch noch Personen ohne ausreichende Qualifikation in die Einrichtung kommen, sagt Kathrin Bock-Famulla, die den Bereich frühkindliche Bildung bei der Bertelsmann Stiftung leitet. Zudem ist die Bezahlung schlecht. So verlassen viele die Kindertageseinrichtungen, lange bevor sie in Rente gehen.
Für manche Erzieher*innen dürfte der erneute Lockdown seit Dezember gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen sein. Derzeit sind die Kitas in sieben Bundesländern geschlossen und bieten lediglich eine Notbetreuung an. In den anderen Bundesländern ist der Regelbetrieb unterschiedlich eingeschränkt, etwa durch reduzierte Betreuungszeiten oder -plätze. Die Eltern werden aufgefordert, ihre Kinder – wenn möglich – zu Hause zu betreuen.
Wann ist Bildung gerecht?
Doch was Erzieher*innen eine kurzfristige Erleichterung verschaffen könnte, bringt nun Familien an ihre Grenzen. „Ich bin überzeugt, dass die Kita total bemüht ist“, sagte Milena Leszkowicz, als diese noch regulär geöffnet hatte. Sie ist Mutter des fünfjährigen Milo und der einjährigen Pela. „Trotzdem ist es gerade richtig hart.“ Sie arbeitet Vollzeit in einem Start-up. Über ihren Umgang mit Job und Kindern in der Pandemie sagt sie: „Man macht beides nur so halb und wird den Kindern nicht gerecht.“
Zu Hause sprechen Milo und Pela polnisch und hebräisch. „Mir war es wichtig, dass Pela zu ihrem ersten Geburtstag in die Kita kommt, damit sie dort Deutsch lernt“, sagt ihre Mutter. „Das ist jetzt wieder verschoben“ – weil ihre Kita schon nach der ersten Eingewöhnungswoche schließen musste.
Sprachförderung ist nur ein Aspekt dessen, was ein Bildungssystem gerecht macht, damit die Muttersprache oder der soziale Hintergrund nicht über den Bildungserfolg entscheidet. Es geht auch darum, den Kindern emotionale Stabilität zu geben, wenn diese zu Hause fehlt, oder sie in ihrer Entwicklung zu begleiten, wenn Eltern das nicht leisten können. Auch das Vorlesen gehört dazu, sagt Katrin Gramckow, Leiterin der Silberstein-Kita in Berlin-Neukölln. Doch von gemütlichen Leserunden sind sie in der Neuköllner Kita im Dezember weit entfernt.
Kitas bleiben geschlossen
Kindergärten sollen bis zum 15. Februar 2021 grundsätzlich geschlossen bleiben. Das geht aus einer Beschlussvorlage für den Coronagipfel hervor, die der taz vorliegt. Dem Papier zufolge soll es bis dahin bei Notbetreuungsangeboten bleiben. Sobald die 7-Tage-Inzidenzen unter 50 gesunken sind, sollen Kitas wieder regulär öffnen, heißt es in dem Entwurf.
Unterschiedliche Regelungen
Die Bundesländer setzen die Coronamaßnahmen unterschiedlich um. In sieben Ländern sind Kitas derzeit geschlossen, dort wird lediglich eine Notbetreuung angeboten. In den neun anderen Ländern sind die Kitas geöffnet, verbunden allerdings mit dem Appell, die Kinder – wenn möglich – zu Hause zu betreuen.
Pandemiebedingt dürfen die Erzieher*innen hier nur in einer Gruppe arbeiten. Manchmal ist die Personalnot so groß, dass Kinder im Wechsel betreut werden müssen: montags, mittwochs und freitags die eine Hälfte der Gruppe, dienstags und donnerstags die andere. „Unter diesen Maßnahmen leiden vor allem Kinder, die zu Hause nicht gefördert werden“, sagt Gramckow.
Fragt man die Betroffenen, was ihre Situation verbessern würde, fordert Walther aus Hellersdorf zum einen mehr Personal. „Mit einem guten Betreuungsschlüssel könnte viel Unzufriedenheit, psychische Belastung und Abgang aus dem System vermieden werden“, sagt Erziehungswissenschaftlerin Bock-Famulla. Sie sieht zudem Professionalisierungsbedarf bei den Bundes- und Landesministerien, die über Jahre versäumt hätten, den Personalbedarf in Kitas zu prognostizieren.
Kita-Leiterin Gramckow findet, dass auch mehr Wertschätzung in Form eines höheren Gehalts helfen würde: „Bildung beginnt mit der Betreuung der Kinder im Kindergarten, deswegen sollten Erzieher*innen genauso viel wie Lehrer*innen verdienen“.
Viel Stress, wenig Geld
Das Geld fehlt nicht nur, um mehr Personal einzustellen und besser zu bezahlen, sondern schon bei der Ausbildung: Viele Menschen, die sich für den Beruf interessieren, dürften abgeschreckt sein davon, dass es dafür oft keine Vergütung gibt und teilweise sogar Schulgeld bezahlt werden muss. Der Bund stellte mit der „Fachkräfteoffensive Erzieherinnen und Erzieher“ Mittel für 2.500 vergütete Ausbildungsplätze ab dem Ausbildungsjahrgang 2019/20 zur Verfügung. Einige Länder gaben Geld für weitere Plätze dazu. Der Großteil der Auszubildenden bleibt dennoch unbezahlt.
Zudem stellt der Bund im Rahmen des „Gute-KiTa-Gesetzes“ für die Jahre 2020 bis 2022 für Kitas 5,5 Milliarden Euro bereit. Beim Einsatz der Mittel lässt der Bund den Ländern viele Freiheiten: Aus zehn Handlungsfeldern wie der Verbesserung des Betreuungsschlüssels, der Praxisbegleitung von Fachkräften oder Sprachförderung können Länder auswählen, wo sie investieren.
„Das führt dazu, dass Länder wie Mecklenburg-Vorpommern die Bundesmittel fast komplett in die Beitragsfreiheit stecken, während der Personalschlüssel in den Kitas extrem schlecht bleibt“, sagt Bock-Famulla. Laut der Gewerkschaft „Erziehung und Wissenschaft“ reicht das Geld ohnehin nicht: Statt der 5,5 Milliarden für vier Jahre seien 10 Milliarden jährlich nötig, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und den Beruf attraktiver zu machen.
Wie viele Überstunden sie in den letzten Wochen geleistet hat, lässt Marianne Walther ihre Kinder nicht spüren. Beim Spiel lächelt sie ununterbrochen und bleibt auch geduldig, als der sechste Becher Tee auf den Fußboden kippt. „Das ist nicht schlimm, alles gut“, sagt sie mit sanfter Stimme zu Paul und wischt den Tee auf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Kritik an der taz
Wer ist mal links gestartet und heute bürgerlich?
CO₂-Fußabdruck von Superreichen
Immer mehr Privatjets unterwegs
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
SPD nach Ampel-Aus
Alles auf Olaf
Die Grünen nach dem Ampel-Aus
Grün und gerecht?