Neue Dokumentation über Noise-Musiker: Ein Weg raus aus den Zwängen
Am Anfang war der Schuss: Das Filmfest „Unerhört!“ streamt die Dokumentation „My Life Is a Gunshot“ über den Noisemusiker Joke Lanz.
Joke Lanz war 13 Jahre alt, als sich sein Vater erschoss. Der Junge war nicht direkt dabei, aber er hörte den Knall des Sturmgewehrs. Dieses Ereignis prägte Lanz, nicht nur als Menschen, sondern auch als Künstler.
“My Life Is a Gunshot“ heißt der Dokumentarfilm, der über ihn entstanden ist. Alles, was aus dem Leben und von der Arbeit des seit vielen Jahren in Berlin lebenden Musikers aus der Schweiz gezeigt wird, kreist immer wieder um diese Urszene von damals, die ihn zu dem hat werden lassen, der er heute ist.
Das wunderbare Portrait, das dem Schweizer Regisseur Marcel Derek Ramsey hier gelungen ist, kann man nun glücklicherweise nochmals ein paar Tage lang im Rahmen des Hamburger Musikfilmfestivals “Unerhört!“ sehen. Wie dessen Berliner Partnerfestival “Soundwatch“ musste es das Programm aus den Kinos nehmen und dafür streamen. “My Life Is a Gunshot“, der Anfang des Jahres ein paar Tage lang bereits im Berlin Wolf Kino und in der Brotfabrik lief.
Es kann gar nicht genug Möglichkeiten geben, diesen kraftvollen Film zu sehen, der einen auch mitreißt, wenn man mit der extremen Kunst von Lanz nur wenig anfangen kann. Und man dessen Musik unter dem Namen Sudden Infant nicht für Musik hält, sondern nur für Krach. Was freilich auch okay wäre, denn Lanz ist ja auch ein sogenannter Noise-Musiker, für den Geräusche interessanter sind als irgendwelche Melodien.
Mehr als nur ein Künstlerportrait
Regisseur Marcel Derek Ramsay kennt Joke Lanz seit Jugendtagen. Der Musiker ist als Kind mit seiner Familie von Basel in das Kaff Wohlen im Kanton Aargau gezogen. In einem Filmgespräch, das das Festival “Unerhört!“ dankenswerterweise online gestellt hat, sagt Ramsey, dass Lanz damals als Punk ein “Held in Aargau“ gewesen sei, als die beiden sich anfreundeten.
Ramsay, wie Lanz Mitte 50, ist eigentlich kein Filmregisseur, “My Life Is a Gunshot“ ist sein Erstlingswerk und ist beinahe komplett ohne Fördergelder entstanden. Er hat den Freund und Helden seiner Geschichte einfach mehrere Jahre lang mit der Kamera begleitet und dabei viel Material angesammelt, wie er selbst sagt. Ursprünglich sei es ihm mehr um die Studie eines solitären Künstlers gegangen, doch dann wurde schnell klar.
Im Stoff steckt mehr als bloß ein klassisches Künstlerportrait. So fuhr er gemeinsam mit Lanz nochmals zurück in dessen Elternhaus, in dem zur Drehzeit noch dessen Mutter lebte, und lässt den Musiker die Ereignisse von damals erneut vor der Kamera verarbeiten. Er bringt vor allem dessen Sohn Céleste mit ein, dem Lanz auf seine Weise der Vater sein möchte, den er selbst viel zu früh nicht mehr hatte. Obwohl der mit Noise-Musik so gar nichts anzufangen weiß, wie er zugibt, Jura studiert und seinen Vater nur selten sieht.
Ein super Leben
Der Film ist fast eine Bildercollage – Lanz in seiner Berliner Wohnung, dann im Zug in die Schweiz, in den Bergen, bei einer Performance. Dabei schält sich langsam die Geschichte heraus, die Ramsey erzählen will, von einem, dem klar geworden ist, dass sein Vater durch seinen Suizid einen Weg raus den Zwängen suchte, denen er sich wohl unterworfen sah.
Der Vater liebte die Berge, die Natur und die Freiheit, die er dort fand. Und musste dann doch immer den Ernährer seiner Familie geben. Diese Last, an der sein Vater zerbrochen ist, das hat Lanz beschlossen, möchte er selbst in radikaler Abkehr zu dessen Leben, nicht schultern. “Ich habe mir mein eigenes Universum aufgebaut“, sagt er an einer Stelle im Film.
In diesem Universum lebt er alleine in seiner erstaunlicherweise noch nicht sanierten Wohnung im Prenzlauer Berg. Er reist um die Welt als international gefeierter Performance- und Musiker, was freilich nur knapp für die Miete reicht. Am Ende des Monats werde es schon manchmal knapp, sagt er und meint dennoch: “Ich habe ein super Leben“.
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