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Psychologin über Krisenintervention„Ich bin demütig geworden“

Die Hamburger Psychologin und Krimi-Autorin Angélique Mundt spricht über ihre Arbeit im Krisen­interventions­team. Da kann man oft nur schweigen.

Sieht im Menschen erst mal das Gute: Angélique Mundt Foto: Miguel Ferraz
Interview von Petra Schellen

taz: Frau Mundt, was macht ein Kriseninterventionsteam?

Angélique Mundt: Wir sind rund 40 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Roten Kreuzes, die zum Beispiel die Polizei begleiten, wenn sie Angehörigen von Unfall- oder Verbrechensopfern die Todesnachricht überbringen muss. Wir betreuen auch überlebende Opfer nach Vergewaltigung, Geiselnahmen, Raubüberfällen oder anderen Gewaltdelikten. Aber wir begleiten auch Augen- und Ohrenzeugen anderer katastrophaler Ereignisse: Jemand springt vom Hochhaus oder vor die U-Bahn und Menschen sehen dabei zu. Wir kommen immer dann, wenn Unvorstellbares passiert und Menschen davon potenziell traumatisiert werden.

Wie genau arbeiten Sie?

Das Kriseninterventionsteam (KIT) bleibt, wenn die Polizei gegangen ist. Wir versuchen, die Betroffenen zu halten, zu stabilisieren, Verwandte herbeizuholen, gemeinsam zu überlegen, wo sie Hilfe bekommen können – sei es psychologisch, sei es für die Bewältigung des Alltags. Wir leisten psychosoziale Notfallversorgung. Erste Hilfe für die Seele.

Warum muten Sie sich das schon seit zwölf Jahren zu?

Weil es mir sehr viel bedeutet, Menschen über diese schwersten Stunden hinwegzuhelfen. Außerdem fand ich als Psychotherapeutin die Idee bestechend, dass ich nicht erst aktiv werde, wenn die Menschen bereits traumatisiert sind. Sondern dass ich mein Know-how einsetzen kann, um zu verhindern, dass sie krank werden. Es hat eine andere berufliche Wucht, wenn man mal nicht nur heilt, sondern präventiv handelt.

War das der einzige Grund für Ihr Engagement beim KIT?

Zugegeben, Neugier war auch dabei. Schließlich geht es um Polizeiarbeit, um echte Grenzsituationen. Und thematisch bin ich natürlich nah dran: Auch in der Psychotherapie bin ich mit intensiven Gefühlen wie Trauer, Verlust oder Scheitern konfrontiert.

Aber KIT-Arbeit ist härter.

Allerdings. Gleich bei den ersten Einsätzen habe ich gemerkt: Hier geht es um etwas ganz anderes. Hier geht es um Menschlichkeit im wahrhaftesten Sinne. Denn wenn ich nach einem Tötungsdelikt zu den Angehörigen komme oder überlebende Opfer betreue oder Kinder tödlich verunglückt sind – da gibt es keinen Trost. Sondern wir können nur sagen: „Wir lassen euch mit dieser Katastrophe nicht allein. Wir helfen euch, durch die ersten Stunden dieser Katastrophe zu kommen.“ Das kann viele Stunden dauern, aber wir bleiben so lange, bis wir das Gefühl haben: Wir können jetzt gehen. Diese Familie kommt zur Ruhe. Vielleicht sagen die Menschen noch: „Wenn Sie nicht dagewesen wären, hätte ich das nicht überlebt.“ Das macht etwas mit einem.

Im Interview: Angélique Mundt

Jg. 1966, Psychologin, arbeitete zunächst in der Psychiatrie und hat seit 2005 eine eigene psychotherapeutische Praxis. Seit 2009 arbeitet sie zudem ehrenamtlich im Kriseninterventionsteam des Roten Kreuzes. Neben Büchern wie „Erste Hilfe für die Seele“ schreibt sie in der Psychiatrie angesiedelte Krimis.

Inwiefern?

Ich bin ich sehr demütig mit meinem Leben geworden. Ich tue nicht mehr so viele Dinge, die ich nicht tun möchte – weil ich sehe, wie schnell es vorbei sein kann, wie tragisch manche Unfälle sind. Da räumen Sie zum Beispiel Ihren Geschirrspüler aus, halten den Korb mit den Bestecken in der Hand, und ein wichtiges Messer steht mit der Klinge nach oben. Ihr Kind tobt rein, stolpert, fällt, und das Messer bohrt sich so unglücklich in den Körper, dass das Kind stirbt. Oder Sie setzen mit dem Auto zurück und überfahren aus Versehen Ihr eigenes Kind.

Neue KIT-Mitwirkende werden geschult. Aber kann man sich auf solche Katastrophen vorbereiten?

Ich finde schon. Zunächst lernen wir viel über die verschiedenen Rollen. Wir haben ja nicht nur eine Rolle den Betroffenen gegenüber, sondern auch gegenüber der Polizei und den Rettungskräften. Oder im Krankenhaus. Da musste ich auch schon mal sagen: „Nein, die Familie hat sich noch nicht ausreichend von ihrem Kind verabschiedet, und wir geben den Raum noch nicht frei – auch wenn Sie jetzt Schichtwechsel haben.“ Oder ich sage dem Bestattungsinstitut: „Fahren Sie bitte Ihren Wagen hier weg, denn gleich kommt die Tochter mit dem Taxi. Sie soll nicht als Erstes den Leichenwagen vor der Haustür sehen.“

Müssen Sie als KIT-Angehörige das Opfer ansehen?

Ich muss gar nichts. Aber wenn möglich, schaue ich mir das Opfer alleine an, bevor ich es gemeinsam mit Angehörigen tue. Erstens, damit ich mich im Beisein der Angehörigen nicht erschrecke, weil die Tote vielleicht aussieht wie meine Tante. Zweitens, damit ich die ersten Fragen der Angehörigen beantworten kann. Bei Verkehrsunfällen besorge ich mir auch immer die Telefonnummer des Notarztes. Denn vielleicht will ihn ein Angehöriger fragen: „Hat er noch was gesagt?“ Oder: „War er sofort tot?“ Kinder haben mich schon gefragt: „Wie sah er aus?“

Sagen Sie da immer die Wahrheit?

Ich würde zunächst keine grausamen Details anbieten, sondern sukzessive berichten. Einmal war zum Beispiel ein junges Mädchen durch Messerstiche getötet worden. Die Mutter fragte: „Wie viele Messerstiche?“ Soll ich jetzt sagen: „115“? Dann frage ich: „Wofür ist das wichtig? Ändert das etwas? Es waren viele. Der Täter war verrückt. Und Ihre Tochter – das sehen Sie an den Verletzungen am Arm – hat sich sehr gewehrt.“ Das ist es doch, was die Mutter interessiert. Im Übrigen bekommen die Angehörigen nicht alle Verletzungen zu sehen. Ich sage dann: „Die Rechtsmedizin hat über die linke Körperseite ein Tuch gelegt und ich möchte nicht, dass Sie das hochnehmen.“

Halten sich die Menschen dran?

Immer. Denn sie wollen ja etwas ganz anderes. Sie wollen sehen: Ist es wirklich mein Liebster? Meine Liebste? Sie wollen das Gesicht sehen, die Hand halten, noch mal sprechen.

Sprechen alle?

Es spricht nicht zwangsläufig jeder, jedenfalls nicht laut. Aber ausnahmslos jeder hat berührt. Das Begreifen im wahrsten Sinne des Wortes hat mit Greifen zu tun. Um zu begreifen, dass da der eigene Ehemann liegt, der gerade mal 30 war, muss die Ehefrau ihn einfach anfassen.

Welches ist der schwerste Moment beim KIT-Einsatz?

Wenn ich den Klingelknopf gedrückt habe, und mir wird geöffnet. Dann bekomme ich Herzrasen, weil ich weiß, das Leben dieses Menschen verändert sich jetzt brutal – und ich kann nicht mehr zurück. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Öffnet mir ein Kind, platze ich in einen Kindergeburtstag? Öffnet mir jemand, für den eine Welt zusammenbricht?

Sind Sie wirklich mal in einen Kindergeburtstag geplatzt?

Ja. Jemand hatte sich das Leben genommen, und wir standen bei den Angehörigen vor der Tür. Auf unser Klingeln öffnete ein kleines Mädchen, strahlte uns an und hielt uns Schoko-Muffins hin. Dann kam die Mutter – und ihr konnte ich ansehen, dass sie Bescheid wusste. Denn es fehlte ja jemand.

Verfolgen Sie diese Bilder?

Nein. Ich kann mich an fast alles erinnern, und spektakuläre Fälle verfolge ich in der Presse weiter. Aber nichts davon hat mich ungewollt in Bildern oder im Traum noch mal aufgesucht. Es sind vielmehr bewusste Erinnerungen, die ich abrufen kann oder eben nicht.

Wie schaffen Sie das?

Das hat mit Psychohygiene zu tun. Um einen sehr beeindruckenden Einsatz zu verarbeiten, brauche ich ein paar Tage, das ist harte Arbeit. Es fängt damit an, dass ich ausführliche Einsatzberichte schreibe, die nicht zwangsläufig ans KIT-Büro gehen, sondern nur für mich sind. Außerdem überlege ich: Wie belohne ich mich nach einem Einsatz? Ich habe einen Zweitwohnsitz an der Ostsee, direkt am Strand. Das ist Balsam für meine Seele. Da ruhen mein Mann und ich uns aus.

Ihr Mann hat als Hauptkommissar auch mit Toten zu tun. Hilft Ihnen das?

Mein Mann ist bei der Wasserschutzpolizei und hat nur mit Tod zu tun, wenn es schwere Arbeitsunfälle oder Verkehrsunfälle gibt oder jemand von der Köhlbrandbrücke springt. Im Moment ist er in einer anderen Dienststelle. Aber ja, ihm ist das Thema vertraut – was für mich insofern entlastend ist, als ich mit ihn anders darüber sprechen kann als mit Freunden. Die halten das oft nicht aus. Mein Mann schon.

Jederzeit?

Nein. Ich neige dazu, gleich morgens auf dem Handy nach den KIT-Einsatzberichten zu schauen. Ich sitze dann am Frühstückstisch und sage: „Da ist der und der getötet worden...“ Da hat mein Mann irgendwann gesagt: „Tu mir den Gefallen: keine Leichen zum Frühstück!“ Daran halten wir uns bis heute.

Und in Ihren Krimis verarbeiten Sie Ihre KIT-Einsätze?

Nein. Mit dem Krimi-Schreiben habe ich schon vor meiner Zeit beim KIT angefangen. Auslöser waren meine Erlebnisse als Therapeutin in der Psychiatrie. Auch da kommen Menschen zu mir, die mit intensiven Gefühlen kämpfen. Ich muss das alles durcharbeiten, die Patienten im übertragenen Sinne halten. Wenn ich diese Emotionen versprachliche, kann ich mich besser davon distanzieren.

Gibt die Psychiatrie so viel an Romanstoff her?

Ja. Da sind so viele Dinge passiert, so skurril, so furchtbar, so lustig, spannend – ich musste das einfach aufschreiben. So war unheimlich viel Material zusammengekommen, das mir die Freude am Schreiben vermittelt hat und diese gute emotionale Distanzierung. Deshalb habe ich meinen ersten Roman geschrieben, der in der Psychiatrie spielt. Dann kam die KIT-Arbeit dazu, und die brachte den Aspekt der Polizeiarbeit mit hinein.

Allerdings durchschaut die Psychologin in Ihren Krimis nie die Täter. Ist das ein Problem Ihres Berufsstands?

Wenn überhaupt, würde ich mir nur anmaßen, mich selber zu kritisieren. Und ja, ich neige dazu, erst mal das Gute im Menschen zu sehen. Das ist hilfreich, weil mir nicht jeder, der in die psychotherapeutische Praxis kommt, die ich inzwischen führe, auf den ersten Blick sympathisch ist. Wenn da ein Narzisst reinkommt – das ist nicht lustig. Bis ich das finde, was ich an diesem Menschen wertschätzen kann. Dann ist der Narzissmus nur noch ein Symptom, und ich kann wunderbar mit demjenigen arbeiten. Und ja, vielleicht kritisiere ich in meinen Büchern, dass ich, wenn ich zu Menschen in Beziehung trete, vernachlässige, dass sie auch schlimme Dinge tun können.

In Ihren Krimis über den „Mikrokosmos Anstalt“ steckt auch Humor. Wird in der Psychiatrie viel gelacht?

Absolut. Ich habe jahrelang die Depressions-Bewältigungsgruppe geleitet, und wir haben viel gelacht. Gerade psychisch Kranke haben oft einen guten Selbsthumor. In meinem ersten Buch schreibe ich über einen Patienten mit Zwängen. Das ist sehr angelehnt an einen echten Patienten. Er konnte ausgelassen über seine Zwangshandlungen lachen. Aber er beging sie trotzdem.

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