piwik no script img

Arzt sein auf dem LandKrankengeschichten beim Bäcker

Im schleswig-holsteinischen Stapelholm tun sich drei Ärzte zusammen. Die Gemeinde stellt sie an. Lässt sich so dem Ärzteschwund auf dem Land begegnen?

Hausarzt Wolfgang Dinslage beim Blutabnehmen Foto: Oliver Berg/Imago

Erfde taz | Die Zukunft der ärztlichen Versorgung der Menschen in der Landschaft Stapelholm liegt auf einem Parkplatz, der so weit und leer ist wie eine asphaltierte Wüste. Das Medizinische Versorgungszentrum (MVZ) am Rand der Gemeinde Erfde teilt sich ein Dach mit einem Getränkemarkt. Links davon beherbergt ein weiterer Doppelbau eine Bäckerei und eine Spielhalle, der Discounter rechts füllt allein ein Gebäude.

Seit Ende März gehen die Menschen aus der Umgebung bei Rückenschmerzen, Halsweh und Magendrücken in den ehemaligen Schlecker-Laden im Gewerbegebiet. Für den Zusammenschluss zum Versorgungszentrum haben drei Ärzte, die vorher selbständig tätig waren, ihre Praxen abgetreten und arbeiten jetzt als Angestellte der Gemeinde.

Kein Grund zur Klage, findet Holger Hamann: „Wir haben es selbst vorangetrieben, und ich habe die Klappe am weitesten aufgerissen.“ Hamann ist Facharzt für Allgemeinmedizin, vor 32 Jahren hat er seine Praxis gut zehn Kilometer entfernt von Erfde im Ort Stapel eröffnet.

Der kleine Ort liegt auf einem Höhenzug über der Eider, die hier in weiten Schleifen durch Weiden, Felder und Moorflächen mäandert und sich mit den Flüssen Treene und Sorge vereint. Hamann gefiel die Landschaft, und zufällig wurde eine Praxis frei, als er seine klinische Ausbildung beendet hatte. Also ließ er sich auf dem Kassensitz nieder und wurde Hausarzt.

Lizenz für gelbe Scheine

Er sei „Dorfschamane mit der Lizenz, gelbe Scheine auszustellen“, spottet der 63-Jährige über seinen Beruf. Aber eigentlich hält Hamann die hausärztliche Tätigkeit für den zentralen Baustein bei der medizinischen Versorgung einer älter werdenden Bevölkerung. Am liebsten hätte er eine „Primärarzt-Pflicht“ statt des freien Zugangs in die Fachpraxen, in denen nur auf das jeweilige Spezialgebiet geschaut wird statt auf den Menschen.

Dem deutschen Gesundheitswesen bescheinigt er ein Durch- und Nebeneinander aus „Unter-, Fehl- und Überversorgung“, unter anderem durch zu viele Medikamente, „bei denen die Hälfte nur noch dazu dient, die Nebenwirkungen der anderen zu lindern“. Wichtiger sei, offen darüber zu sprechen, was Priorität habe:

„Bei den Alten und Multimorbiden muss man entscheiden, was man will: nachts ohne Luftnot schlafen oder pinkeln ohne Schmerzen?“ Und das könne am besten jemand, der die Menschen in allen Lebens- und Krankheitsphasen begleitet. Auch in der letzten: Wenn es ans Sterben gehe, komme der Mann mit der ruhigen Stimme und dem weiß-grauen Bart auch mitten in der Nacht ans Krankenbett. Das gehöre sich so, findet er.

Als Hamann in den 1980er-Jahren anfing, gehörte es sich auch für einen Hausarzt, regelmäßige Nachtschichten zu leisten, und es bestand die Pflicht, am Ort des Kassensitzes zu wohnen. Also baute das Ehepaar für sich und die drei Kinder ein Haus nur wenige Hundert Meter von der Praxis entfernt, obwohl sie gern ins weiter entfernte Friedrichstadt gezogen wären. „Ich hatte eine 60-Stunden-Woche, meine Frau hat die Kinder großgezogen“, sagt Hamann. „Kann man machen, aber es gibt andere Modelle.“

Das sehen viele jüngere Mediziner:innen so, und die Regeln haben sich neuen Lebensmodellen angepasst: Inzwischen ist die Residenzpflicht abgeschafft, nächtliche Einsätze übernimmt der Notdienst und viele Ärzt:innen pendeln. „Zu arbeiten wie der klassische Landarzt, ist noch möglich, aber die Jungen sind nicht mehr so bereit dazu“, sagt Michael Sturm, zweiter Vorsitzender des Hausärzteverbandes Schleswig-Holstein.

Auch er selbst hat 35 Jahre in der eigenen Praxis gearbeitet, inzwischen hat er den Betrieb an seinen Sohn übergeben. Er bedauert die Entwicklung des Berufsstands: „Für die Patienten ist es schade, wenn es weniger klassische Hausärzte gibt, und auch den Ärzten hilft es, wenn sie Nöte, psychische und berufliche Belastungen ihrer Patienten kennen. Das fällt mit neuen Modellen ein bisschen weg. Aber viele Kollegen interessiert das nicht, die machen einfach ihren Striemel.“

Hamann bestätigt: „Ich kriege schon morgens beim Bäcker mit, wenn es irgendwo knirscht. Das ist gelebte Anamnese.“ Aber ihm war klar, dass es schwer sein würde, seine Praxis so weiterzugeben, wie er sie geführt hat – oder überhaupt weiterzugeben. Früher erhielten scheidende Ärzt:innen eine Ablöse für ihre Praxis. Heute bleiben ländliche Kassensitze manchmal einfach leer.

Aktuell zählt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Schleswig-Holstein 26 vakante Hausarztstellen, darunter allein zehn rund um Geesthacht. Der Grund dafür ist, dass die KV, die für die Verteilung der Sitze zuständig ist, die Gebiete neu zugeschnitten hat. Aufgrund der Nähe zu Hamburg dürften die freien Sitze um Geesthacht nicht lang unbesetzt bleiben,vermutet KV-Sprecher Nicolas Schmidt. Durch die Gebietsreform dürften sich in größeren Orten wie Geesthacht mehr Mediziner:innen ansiedeln.

Als Hamann in den 1980er Jahren anfing, gehörte es sich auch für einen Hausarzt, regelmäßige Nachtschichten zu leisten, und es bestand die Pflicht, am Ort des Kassensitzes zu wohnen. Also baute das Ehepaar für sich und die drei Kinder ein Haus nur wenige Hundert Meter von der Praxis entfernt

Was aber wird aus den dünner besiedelten Regionen? Diese Frage beschäftigt auch die Landesregierung – und die tut sich mit einer Antwort schwer: „Die Politik kann keine Ärzte backen“, sagte Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) bei einer Veranstaltung der Ärztekammer im vergangenen Herbst. Die klassischen Praxen bezeichnete er als Rückgrat der medizinischen Versorgung, aber er prophezeit: „Es wird nicht mehr an jedem Ort einen Hausarzt geben.“ Die Alternative sind neue Strukturen und technische Hilfen.

„Telemedizin!“ Holger Hamann spuckt das Wort geradezu aus. Für viele seiner Patient:innen, hochbetagt und unerfahren im Umgang mit Laptop oder Smartphone, ist eine Visite per Bildschirm so unmöglich wie ein Flug zum Mond. Und: „Es entfällt der persönliche Eindruck, das Tasten und Fühlen.“ Ärzt:innen würden die körperliche Untersuchung verlernen, wenn sie sich vor allem auf Messwerte und Geräte verlassen, befürchtet er.

Um den menschlichen Faktor nicht zu vernachlässigen, werden in Schleswig-Holstein einige Modelle erprobt: Hausärzt:innen können per Videokonferenz Expert:innen ins Behandlungszimmer holen, um den Kranken den Gang zur Fachpraxis zu ersparen. Praxis-Angestellte touren übers Land, besuchen diejenigen, die nicht mehr allein aus der Wohnung kommen, und schalten die Hausärzt:innen per gesicherter Leitung dazu – falls das lokale WLAN das zulässt.

Und es entstehen medizinische Versorgungszentren, also „rechtlich verselbständigte Versorgungseinrichtungen, in der mehrere Ärztinnen bzw. Ärzte unter einem Dach zusammenarbeiten“, so definiert das Bundesgesundheitsministerium diese neue Form.

Konzerne ohne Interesse an kleinen Praxen

Während in Ballungsräumen oft Praxisverbände und Klinikkonzerne Arztsitze aufkaufen und Zentren eröffnen, kann die Kassenärztliche Vereinigung in Schleswig-Holstein einen Trend zur Konzentration „nicht beobachten“. Zwar hätten einige regionale Krankenhäuser solche Versorgungszentren gegründet, aber inzwischen sei die Gründungswelle deutlich abgeflacht, teilt KV-Sprecher Schmidt mit.

„Klar“, sagt Hausarzt-Vertreter Michael Sturm: „An den kleineren Praxen haben die Konzerne kein Interesse, das lohnt sich nicht.“ Denn die Zentren, die von Klinikkonzernen gegründet werden, „sind nur dazu da, Geld zu genieren. Die Versorgung der Bevölkerung ist denen eigentlich wurscht.“

Bei Wind und Wetter unterwegs: Hausarzt Dinslage Foto: Oliver Berg/Imago

In Erfde liegt der Fall anders: Hinter dem dortigen Versorgungszentrum steckt kein Konzern, sondern die Gemeinde. Bürgermeister Thomas Klömmer (CDU) steht am Tag der Eröffnung im Foyer der neuen Praxis und stellt das Modell vor. Es ist März, wegen der Coronapandemie sind Versammlungen verboten, daher spricht Klömmer in eine Kamera, das Video ist im Netz zu sehen. Klömmer ist ein stämmiger Mann, im Hauptberuf ist er Landesgeschäftsführer der Mittelstands- und Wirtschaftsunion und gut vernetzt.

Er hat Geld eingeworben, um das Zentrum einzurichten. Die gemeindeeigene gGmbH ist mit 650.000 Euro Stammkapital ausgestattet, aber der größte Brocken kommt noch: Für sechs Millionen Euro entsteht ein neues Gebäude, in das neben der Praxis ein Tagestreff für Ältere, eine Apotheke und Physiotherapie einziehen sollen. Noch gibt es die Interessenten dafür nicht, aber Klömmer will der „Verantwortung als Zentralort nachkommen“ und die „Gesundheitsversorgung auf gute Beine stellen“.

Ja, es war ein etwas seltsames Gefühl, vom Selbstständigen zum Angestellten zu werden, gibt Hamann zu. Aber finanziell steht er sich nicht schlechter, bekommt nun ein festes Gehalt und er hat darauf bestanden, dass die Praxis in Stapel bleibt, als Zweigstelle des Zentrums in Erfden. Die beiden Kollegen, 67 und 70 Jahre alt, mit denen er sich zusammengetan hat, kennen die meisten seiner Patient:innen bereits, weil die drei Ärzte sich gegenseitig vertreten haben.

Durch den Zusammenschluss „gibt es einige Vorteile“, sagt Hamann: „Längere Öffnungszeiten zum Beispiel.“ Er kann sich vorstellen, Fachärzt:innen einzuladen, die seine Patient:innen im Zentrum behandeln. Das sind Zukunftspläne, aber Hamann hat noch einige Jahre Zeit, sie umzusetzen. Mit seinen 63 Jahren ist er der jüngste im Ärzteteam, und ein Nachfolger ist noch nicht in Sicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!