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LGBTI in der ÖffentlichkeitKüssen nur bewaffnet

Mein Klappmesser habe ich beim Knutschen immer dabei. Unbeschwerte Liebkosungen gibt es für mich nur an Orten, wo sich viele Queers aufhalten.

„Ich würde mich lieber in einen Kuss versenken und dabei alles um mich herum vergessen“ Foto: Chloe Sharrock/Le Pictorium/imago

N ur ein paar wenige Orte gibt es in der Stadt, an denen ich unbewaffnet küssen würde. Orte, an denen ich mein Klappmesser in der Tasche lasse, wenn ich jemanden küsse, der zufällig dasselbe Geschlecht hat wie ich. Mein Klappmesser ist nicht aus Metall, sondern aus scharfen Worten, aus schlagfertigen Comebacks und souveräner Arroganz.

Ich trage es selbst in einer der liberalsten Städte der Welt, dabei wäre ich lieber unbewaffnet. Würde mich lieber in einen Kuss versenken und dabei alles um mich herum vergessen, anstatt das Klappmesser in der Faust zu haben, bereit für einen Spruch von der Seite, der alles kaputt macht.

Nicht alle, aber viele von uns LGBTI haben das Privileg und den Fluch, dass wir in der Lage sind, uns zu verstecken. Uns zu verkleiden, um weniger selten zu den Waffen greifen zu müssen. Den eigenen Gang ein bisschen überwachen, die Stimme und Gestik micromanagen, Hobbys und Kleidung den Erwartungen anpassen. Haarlänge und -mode den geschlechtlichen Erwartungen anpassen. Namen und Pronomen den Erwartungen der anderen anpassen. Das Privatleben geheim halten. Und schon kann man problemlos durchs Leben gehen.

Eine aktuelle Umfrage der Uni Bielefeld hat ergeben, dass ein Drittel der LGBTI am Arbeitsplatz einen Teil ihrer Identität auf eine dieser Arten verstecken – vulgo: ungeoutet sind. Ich höre schon die eine und den anderen sagen, dass das doch ein Fortschritt sei, da immerhin zwei Drittel offen mit ihrer geschlechtlichen oder sexuellen Identität umgingen. Ducken Sie sich vor meinem Klappmesser! Ich finde das leider keinen Fortschritt, weil es nämlich heißt, dass sogar unter den LGBTI, die in der Selbstdefinition gefestigt genug sind, um für eine sozialwissenschaftliche Studie überhaupt erreichbar zu sein, immer noch ein Drittel keine Lust hat, am Arbeitsplatz – wo man fast die Hälfte seiner wachen Stunden verbringt – zu sein, wer sie sind.

Und, wessen Schuld ist das nun? (Ja, doch, ich finde „Schuld“ ein sehr produktives Konzept). Die der Queers? Sind wir dafür verantwortlich, mehr Selbstbewusstsein zu haben? Weil 2020 ist und wir die Ehe für alle und Antidiskriminierungsgesetze haben? Selbst als LGBTI-Person mit Selbstbewusstsein kommt immer wieder der Moment, wo es schlicht einfacher ist, nichts zu sagen, mitzumachen, so zu sein, wie es angenehmer für die anderen ist. Nicht alle haben ein Klappmesser, und manche*r wird auch müde, es einzusetzen und immer wieder zu schleifen.

Ich persönlich fühle mich am wohlsten mit mir, wenn ich mir sicher sein kann, dass auch andere für mich zu den Waffen greifen würden. Deswegen sind die paar Orte, wo ich selbstvergessen in der Öffentlichkeit küssen kann, auch Orte, wo sich viele Queers aufhalten. Fragen Sie sich doch mal, ob Ihr Arbeitsplatz, Ihre Straße, Ihr Verein oder Ihre Gemeinde so ein Ort ist. Und wenn nicht, wie Sie das ändern können.

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Peter Weissenburger
Freier Autor
Schreibt über Kultur, Gesellschaft, queeres Leben, Wissenschaft.
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16 Kommentare

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  • Es ist nicht einmal bekannt, wie viele Menschen Bi- oder Homosexuell sind. Also eine erhöhte Selbstmordrate haben oder im Ausland hingerichtet werden könnten. Es interessiert scheinbar nicht. Das Ergebnis könnte das christliche Abendland erschrecken. Bis 1994 (!) galt ein Anti-Schwulen Paragraph von Adolf Hitler.



    Wir sind heute soweit, dass dieser untrennbare Teil des Menschseins (in Deutschland) geduldet oder auch akzeptiert wird. Wer in dem Gleichstellungskontext sagt, es sei Privatsache, wer wem was reinsteckt, soll mal ein bisschen nachdenken wie es wohl ist, wenn Dornröschens verlangen nach dem Prinz eine Schande wäre.

  • Ich würde Dich verteidigen.

  • Wünsche dem Autor: Einen Souffleur hinter jedem Kellerfenster... wie im Film "Die wunderbare Welt der Amelie".

  • Bin hetero. War alleinerziehend. Das ist laaaange her - aber ich kenne die flüchtig dahin gesagten Bemerkungen über "Alleinerziehende" (obwohl: fast alle Frauen waren damals alleinerziehend, auch die verheirateten) und das Vermeintliche Scheitern ihrer Erziehungsbemühungen. Ich kenne das Gefühl, das es auslöst. Ich glaube (glaube!) daher, ich verstehe Menschen, die gerade mal wieder eine blöden Lacher hören, nur weil das Wort "schwul" gefallen ist. Das innere Zusammenzucken in dem Moment. Nicht wahrgenommen werden an allem anderen, sondern an einem einzigen Umstand im Leben. Alle, die denken, sie gehören zur "Norm" also Mehrheit, fühlen sich sicher in dieser Norm. Doch es ist eine trügerische Sicherheit, die schnell kippen kann. Und schon gehört man als hetero-Ehepaar mit zwei prächtigen Kindern auch zur Minderheit. Die mit dem Unkraut im Vorgarten. Die mit dem alten Auto. Die mit dem arbeitslosen Vater. Die, wo die Mutter tatsächlich mal fremdgegangen ist. Es geht so schnell. Wer das einmal kapiert hat, sich bewusst wird, dass die "Mehrheit" sie/ihn nicht wirklich schützt so bald er/sie mal ein wenig anders handelt.... versteht alles viel besser. Sieht Menschen als Menschen. Und hilft deren Rechte zu verteidigen.

  • Outen or not outen! That is the Question! :-)



    Mit wem ich Bett Tisch, Stuhl und mehr teile, geht mMn. wirklich niemand, besser nur die mit denen ich teilen will, was an. Genau so wenig ob ich Rot-,Weiswein, Biertrinker, Tenis- oder Fussballfan bin.



    Wenn es ich ergibt, na ja, ... was soll's! Wenn ich dann auf "Vorurteile, "Hard-core" Fans, die "NUR mit Ihrem Wesen die Welt genesen lassen wollen" stoße, kriegen die verbal einen drüber. Die "Normalis Abtl: Was sollen die Nachbarn denken?" oder die aus der Ecke "Wir sind das Volk & haben rechts!" kann man da sowieso nur noch abschreiben.



    .



    So lange die alle sich noch "gesittet" verhalten, ignorieren. Wenn die mehr machen... na ja, kommt drauf an, wann wo, wie viele...



    Offen nach allen Seiten! So lange niemand nervig missionieren will!



    Gr Sikasuu



    Ps. Ob LTBG, Farbig, Links uvam... das Leben ist (nicht erst seit einiger Zeit) kein Ponyhof & man(n), auch Frau muss unterscheiden lernen zw. wann "zuhauen" & wann "abhauen" im doppelten Wortsinn angesagt ist! Gleich ob "Homo sapiens Idiotus" oder Säbelzahntiger. Soll gesunder sein.

    • @Sikasuu:

      Ich verstehe Ihre Ausführungen nicht! Es geht darum, ob Sie am Arbeitsplatz erzählen können, ob sie, wenn Sie bspw. schwul sind, mit ihrem Partner im Urlaub waren, ob sie in der U-Bahn ihren Partner umarmen oder küssen können, also in der Öffentlichkeit, ohne mit aggressiven Reaktionen oder Hassverbrechen rechnen zu müssen? Als heterosexuelles Paar geht dies, ohne mit einem Hassverbrechen wegen Heterosexualität rechnen zu müssen oder mit Diskriminierung am Arbeitsplatz!



      www.zeit.de/gesell...anstieg-straftaten

      Deshalb finde ich Ihre Ausführungen und die weiter unten von LESTI sowie FAKTENPRUEFEN als sehr unpassend und ignorant!

  • Klappmesser? - erinnert mich an einen - öh Wandschmuck aus den 60ern.

    Als es unter den Milchreisbubis - vulgo Rockern - als schick galt - mit nem Stilitto - rumzuwedeln.



    & Däh! ala - Motto:



    “Keine Haare am Sack - Abern Kamm in der Tasche!“



    &



    Spaßvögel ihr Teil - Aufklappten:



    Ein Kamm - 😂 -

    unterm—- Gene Vincent - Rock Dreams



    images.app.goo.gl/SBoBuCNLj1JZSsPSA



    & am Haar am dran -



    images.app.goo.gl/2sPzw54UP3fQ4BUF7



    & Das Orijinol



    images.app.goo.gl/tmc1sTyvZkzG19g99

    • @Lowandorder:

      Auch eine interessante Form, über einen anderen hinwegzugehen ...

      • @mats:

        Liggers. … „Goanet east ignorieren.“

  • Hm? Seid wann sind Arbeitsplätze Orte zum Küssen?



    Ansonsten: zwei Drittel sind natürlich ein Fortschritt. Das heißt aber nicht automatisch, dass mensch damit zufrieden sein soll.

    • @LeSti:

      Sehen Sie die Antwort unten von Mats auf einen ähnlichem Blitzmerker wie Sie.

      Es geht zum Beispiel darum, dass viele sich nicht trauen zu erwähnen, dass sie überhaupt einen Partner besitzen, wenn der oder die das gleiche Geschlecht hat. Oder zB bei Ausflügen/Essen/Feiern von der Arbeit, bei denen die Familie oder der Partner der Angestellten gerne mitdarf, sich nicht trauen, ihn oder sie mitzubringen.

      Oder auch zB darum, dass trans Personen es ertragen, wenn man mit den falschen Pronomen angesprochen wird, falls das Passing nicht so gut ist. Weil sie befürchten nach einem Outing tagtäglich transfeindlichen Beleidigungen ausgesetzt zu sein. Inklusive dass transfeindliche Leute sie absichtlich falsch ansprechen.

      • @Hamnial:

        Danke für die Blumen. Ich fühle mich hermeneutisch ja ein klein wenig geschult und war zu meinem Kommentar bewegt durch diese Stelle:



        "Deswegen sind die paar Orte, wo ich selbstvergessen in der Öffentlichkeit küssen kann, auch Orte, wo sich viele Queers aufhalten. Fragen Sie sich doch mal, ob Ihr Arbeitsplatz, Ihre Straße, Ihr Verein oder Ihre Gemeinde so ein Ort ist."

        Meine Arbeitsplätze waren bisher nie Orte, an denen man selbstvergessen in der Öffentlichkeit küssen kann.

        Aber ja, die Blitzmerker lesen ggf. einfach nur einen Text ohne die halbe Gesellschaft und mindestens einen Diskurs mit hinein zu denken.