Kultur-Festivals in Corona-Krise: Neue Konzepte müssen her
Digital, national oder translokal – wie KünstlerInnen auf die eingeschränkten Reisemöglichkeiten in Coronazeiten reagieren.
Mehr Touren, noch größere Koproduktionen, je internationaler desto besser – das Prestige des Gastspielaustauschs und Festivalbetriebs der vergangenen zwanzig Jahre beruht auf diesen Ideen. Inszenierungen oder Tanz-Abende mit einem Dutzend Koproduzenten und Beteiligten sind keine Seltenheit, verbunden mit manchmal jahrelanger Vorbereitung, Probenarbeit und Aufführungen über Kontinente hinweg.
Als im März das weltweite Reisen zum Erliegen kam, Festivals abgesagt wurden, kehrte erst einmal Ratlosigkeit ein, auch eine Solidaritätswelle – und bald auch die Erkenntnis, dass der internationale Betrieb seine Arbeitsweise überdenken muss.
Nach vier Monaten mit Pandemie- und Reisebeschränkungen laufen nun wieder die ersten Festivals an und es herrscht fast schon Aufbruchstimmung. Es geht wieder los. Die Septemberspielpläne der deutschsprachigen Theater sind randvoll. Auch das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel Hamburg hat gerade begonnen. Das Programm ist üppig, zumindest auf den ersten Blick.
In den großen Kampnagel-Hallen läuft jedoch nur ein Fünftel des ursprünglichen Programms, ein Teil ist auf drei Open-Air-Bühnen auf dem Gelände der ehemaligen Hafenkran -und Maschinenfabrik verlegt. Der Chilene Jose Vidal konnte seine Massen-Choreografie mit 100 Beteiligten gar nicht erst proben. Dagegen feiert Marlene Monteiro Freitas’ neue Arbeit auf dem Sommerfestival seine Weltpremiere.
Komplizierte Lage
„Das Koproduktionsgeschäft ist nicht weggebrochen, aber die Lage ist gerade sehr kompliziert, wegen geschlossener Theater, abgesagter Festivals, Reisebeschränkungen und wegfallenden Finanzierungen“, sagt Kampnagel-Leiterin Amelie Deuflhard. Der Wille ist nicht nur bei ihr, sondern an allen koproduzierenden Spielstätten groß, die geplanten internationalen Arbeiten zu verschieben, zu verändern und doch noch zu realisieren. Schon, um den intensiven Austausch und die Zusammenarbeit, die über Jahre aufgebaut wurden, zu sichern.
Aber Covid-19 bestimmt weiter den Bewegungsradius. Als im Juni das Festival Theaterformen in Braunschweig modifiziert stattfand, konnten von den 170 geladenen, meist außereuropäischen Künstlern gerade noch 14 nach Braunschweig anreisen.
Viele internationale Projekte erwischte das Reise- und Aufführungsverbot im März ganz kurz vor der Premiere. Die südafrikanische Choreografin Jessica Nupen musste die Künstlerinnen ihrer Rap-Tanz-Oper „The Nose“ vier Tage vor der Premiere aus Hamburg, wo auf Kampnagel die Endproben liefen, zurück nach Südafrika und Kanada schicken. Seit Sommer 2018 liefen die Proben und die Vorbereitungen.
Der kanadische Rapper Josh „Socalled“ Dolgin hat die Musik komponiert, ein knappes Dutzend Förderpartner sind beteiligt. Das lang geplante Projekt ist nun auf Mai 2021 verschoben, Nupen ist optimistisch, dass es dann auf Kampnagel, den Maifestspielen Wiesbaden und weiteren Festivals gezeigt wird, trotz Mehrkosten von 100.000 Euro und der Ungewissheit, wann die Aus- und Einreise nach Südafrika wieder möglich ist.
Eigene Perspektive hinterfragen
„Alle schauen wieder mehr nach innen“, so beschreibt Nupen die Situation. Das sei jedoch genau das Gegenteil von dem Wunsch nach internationalem Austausch und gemeinsamen Arbeiten von Künstlern, um die eigene Perspektive mit dem Blick von außen zu bereichern und zu hinterfragen.
Das internationale Arbeiten und Reisen hat sich in den vergangenen Jahren für viele Theatermacher zum Motor für ihre künstlerische Arbeit entwickelt. Der Schweizer Theatermacher Milo Rau etwa hat sich den Blick über Sprach- und Landesgrenzen in sein Manifest für ein Stadttheater der Zukunft geschrieben, als er 2018 die Leitung des belgischen NT Gent übernahm. „Jede Inszenierung muss an mindestens 10 Orten in mindestens 3 Ländern gezeigt werden“ heißt es darin, oder dass einmal pro Jahr in einem Krisengebiet gearbeitet wird.
Im März probte Milo Rau in Brasilien „Antigone am Amazonas“, musste das Projekt dann aber abbrechen und nach Europa zurückkehren. Die Fortsetzung am Amazonas scheint ungewiss. Das Manifest liest sich nun hinfällig, umschreiben will man es noch nicht. Das Team sucht nach kreativen Lösungen und überlegt, in Europa mit brasilianischen Performern, die hier leben, weiterzumachen. Über solche hybriden Formate denken in diesen Wochen viele nach.
„Der ganze internationale Betrieb muss überdacht werden – da gibt es kein Entkommen“, beschreibt Annemie Vanackere, Intendantin des Berliner Theaters Hebbel am Ufer, die Situation. „Je internationaler desto besser, diese Maxime aus den 1990er und nuller Jahren nehmen wir gerade unter die Lupe. Nur lokal zu arbeiten, wäre als neues Dogma aber auch nicht der richtige Weg. Die Berliner Künstler*innen und Bewohner*innen sind so sehr mit anderen Menschen und Orten überall auf der Welt vernetzt, dass die Potenziale für neue Zugriffe auf der Hand liegen.“
Translokal nennt Vanackere ihren Arbeitsbegriff für eine Vision zukünftigen internationalen Arbeitens. Es geht Vanackere um vertiefende Beziehungen zwischen einzelnen Orten, nicht Nationen. Die Künstler bringen ihre Herangehensweisen und Handschriften jeweils mit.
Inszenieren aus der Ferne?
Teils wird in der freien Szene und an den Stadt- und Staatstheatern bereits so gearbeitet. Die jetzige Situation erfordert unter Umständen noch mehr: Präsenz, ohne dass die internationalen Künstler unbedingt anwesend sind. „Die Frage ist dann: Wie kooperativ will man arbeiten, damit das möglich ist“, sagt Helgard Haug von Rimini Protokoll. Das Regiekollektiv hat mehrere Formate entwickelt, die weltweit in Dutzenden Städten adaptiert wurden.
Ab August und Mitte September läuft ihr Audiowalk „Remote X“ in Berlin und Istanbul, jeweils inhaltlich für die Städte angepasst. Ein nächstes „100 Prozent“-Projekt ist für Anfang Dezember in Kaohsiung, Taiwan, geplant, Brooklyn und Hongkong sollen nachgeholt werden. Die Vorarbeit und die Begleitung des Castingprozesses der 100 Mitwirkenden übernehmen heimische Künstlern und Assistenten vor Ort, in der Endphase kommen die Rimini-Mitglieder wieder dazu. „Aber wir denken gerade darüber nach, wie wir eine Umsetzung des Konzepts und die Inszenierung auch aus der Ferne bewerkstelligen könnten“, sagt Haug
Wissenstransfer und Austausch wird also zu dieser neuen Internationalität gehören. Noch mehr als bisher. Erfahrungen mit kooperativen Projekten und experimentellen Formaten sind gesammelt, darauf lässt sich aufbauen. An erster Stelle steht jedoch erst einmal, den internationalen Künstlern zu helfen, die in ihren Ländern keine Unterstützung bekommen.
Die Choreografin Jessica Nupen weiß, dass die Coronabeschränkungen für die 15 freien Künstler in Südafrika, mit denen sie zusammenarbeitet, schlichtweg eine Katastrophe sind. Die Ausgangssperren treffen sie doppelt, weil Zweitjobs dadurch wegfallen. Nupen kann Honorare erst wieder zahlen, wenn geprobt wird und Aufführungen zustande kommen. Mit Glück ab nächstem Frühjahr.
Verlängerte Förderfristen
Zehn Projekte stehen derzeit still, die aus dem TURN-Fonds der Kulturstiftung des Bundes mitfinanziert werden. Das Programm fördert Kooperationen zwischen Deutschland und afrikanischen Ländern. Jessica Nupens „The Nose“ gehört dazu, auch die Performance-Serie „Est-ce un humain / Ist das ein Mensch“ von kainkollektiv mit Performern aus Kamerun und Madagaskar. Vonseiten der Bundeskulturstiftung hat man die Fristen verlängert, digitale Aufführungen ermöglicht, und Förderrichtlinien modifiziert, um den Projekten zu helfen.
Das ist das Maximum, was das Zuwendungsrecht erlaubt. Für das Fortsetzung-Programm TURN2, das 2021 startet, gelten jedoch wieder die alten Regeln: Ziel ist kultureller Austausch, die Erfahrung des gemeinsamen Arbeitens und Aufführungen in mehreren Ländern, also Reisen zwischen afrikanischen Ländern und Deutschland. Aber das muss erst einmal wieder möglich werden, so wie man es kannte.
Fabian Lettow von kainkollektiv hofft, dass im Februar 2021 alle Künstlerinnen wieder zusammen kommen. Der Status quo allerdings ist offen, noch sind zwei Beteiligte nicht einmal zurück bei ihren Familien. Auf der Heimreise sind sie steckengeblieben. Einer sitzt in Brüssel fest, ein anderer kongolesischer Tänzer wartet im Kamerun weiter darauf, in den Kongo zurückzukehren.
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