„Ich schaue mir lieber eine Serie an“

Auch die Hamburger Kulturfabrik Kampnagel ist geschlossen. Aber seit einigen Tagen umso präsenter: mit Plakaten, die nichts bewerben, sondern fordern – globale Solidarität, zum Beispiel. Intendantin Amelie Deuflhard über die Idee hinter der Kampagne, digitales Theater und ihren Optimismus für die Zeit nach der Krise

Bespielte Stadt: Kampnagel-Plakate im Hamburger Schanzenviertel Foto: aldi

Interview Katrin Ullmann

taz: Frau Deuflhard, warum haben Sie den gesellschaftlichen Diskurs in den öffentlichen Raum verlegt?

Amelie Deuflhard: Wir als Theater sind ja in erster Linie die Pro­tagonisten des Analogen. Daher haben wir seit Ausbruch der Coronakrise, neben den Möglichkeiten in den digitalen Medien, vor allem überlegt, auf welchen unterschiedlichen Ebenen wir auch analog unter den aktuellen Bedingungen des Physical Distancing noch agieren können. Da war eine erste Idee diese Plakatkampagne.

Viele Theater streamen jetzt aus dem Repertoire, entwickeln neue, digitale Formate ...

Nur auf Digitalität zu bauen, hat, glaube ich, eine sehr kurze Halbwertszeit. Ich selbst gucke gestreamte Theaterstücke immer nur ganz kurz und schaue mir ehrlich gesagt lieber eine Serie an. Theater basiert auf dem Austausch mit den Zuschauer*innen, darauf, dass ein Funke in den Zuschauerraum überspringt und eine Beziehung zwischen den Darsteller*innen und Zuschauer*innen entsteht. Über die digitale Welt kann man jetzt so ein paar ganz interessante Archivstudien betreiben, aber es ersetzt natürlich in keiner Weise unsere Fundamentalaufgaben.

#leave no one behind, #evacuate now: Sie greifen vor allem gesellschaftspolitische Themen auf.

Es soll transportiert werden, dass es keinen Sinn macht, nur in der persönlichen Bubble zu bleiben und darüber nachzudenken: Wie schaffe ich es, jetzt auf keinen Fall Corona zu bekommen? Was ja aus virologischer Sicht tatsächlich auch gar nicht sinnvoll ist. Die viel wichtigere Frage ist doch, was bedeutet eigentlich Corona an den unterschiedlichen Ecken und Enden der Welt? Was bedeutet es für soziale Ungleichheit? Wie geht es Familien, die jetzt auf engem Raum zusammenleben? Was ist mit den Flüchtlingscamps in unserem Land? Was ist mit den Camps an den Grenzen zu Europa, den Slums in den Megacitys? Das ist ein Riesenthema. Michael Foucault hat in „Überwachen und Strafen“ beschrieben, wie die Pest im 17. Jahrhundert das Modell der Disziplinierung, Isolation und Grenzziehung produziert hat. Niemand hätte sich vorstellen können, dass wir heute genau da wieder landen. Anders ist es in Flüchtlingscamps. Da wird bei Auftauchen des Virus das gesamte Camp isoliert und nicht die*der Einzelne geschützt.

Eines der Hashtags lautet: #universal healthcare.

Das ist ein ganz zentraler Punkt. Warum haben wir so wenig Tote in Deutschland? Weil wir so ein hervorragendes Gesundheitssystem haben. Und weil die meisten von uns die Möglichkeit haben, uns zu separieren, was in vielen Teilen der Welt gar nicht geht, zum Beispiel in einem Slum. Die Kampagne hat auch dazu gedient, zu zeigen, dass Ungleichheiten in Bezug auf Herkunft, auf kulturellen Background, auf Religion oder sozialen Status durch Corona gerade verdeutlicht und sogar noch verstärkt werden. Dass es den Menschen aus den wohlhabenden Ländern strukturell besser geht, aber dass die gleichzeitig auch mehr betrachtet werden.

Inwiefern?

Wir haben zwar den globalen Kapitalismus, aber wir ziehen uns durch Corona jetzt wieder so gemütlich auf unsere Nationalstaaten zurück. Grenzen werden wieder aufgebaut, Europa wird abgeriegelt. Wir ziehen uns auch politisch auf Zeiten zurück, von denen wir dachten, wir hätten sie schon längst überwunden. Diese ganzen Themen, die sehr eng an den Themen sind, die wir ohnehin auf Kampnagel in unseren Programmen verhandeln, die durch Corona jetzt plötzlich wie in einem Brennglas sichtbar werden, das war uns ein Anliegen bei dieser Plakatkampagne und ist natürlich auch eines für die nächste Spielzeit.

Die Kampagne bewegt sich zwischen Politik, Corporate Identity und Theater – oder ziehen Sie diese Grenzen gar nicht?

Die Bereiche Theater, Politik, Aktivismus, aber auch soziologische Forschung liegen für mich sehr nah beieinander. Dadurch, dass wir mit Künstler*innen aus der ganzen Welt aus unterschiedlichsten Kontexten arbeiten, sind für uns diese ganzen globalen Themen immer sehr nah. Sich mit den Ungleichheiten in der Welt und insbesondere auch mit den Ursachen dafür, auseinanderzusetzen, ist unumgänglich, wenn man international arbeitet. Für mich ist Politik nichts, was ich über die Kunst drüber stülpen möchte, sondern ohnehin ein ständiger Wegbegleiter, darauf zu achten, was in der Welt passiert. #Globale Solidarität ist so gesehen ein wahnsinnig wichtiger Hashtag. Vielleicht erkennen das in Coronazeiten ein paar Menschen mehr.

Wie steht Ihr Haus damit da in der Theaterlandschaft?

Ich würde es mal so sagen: Ich glaube, auf Kampnagel denken wir ein bisschen anders als in den Stadt- oder Privattheatern. Wir denken sehr stark von einer sozialpolitischen Analyse und einer Wirksamkeit aus, die wir erreichen wollen. Als wir geschlossen wurden, haben wir als Erstes überlegt: Wie können wir unsere Rolle als Ort, an dem Menschen zusammenkommen, um gemeinsam an etwas teilzuhaben und sich auseinanderzusetzen, überhaupt wahrnehmen? Da war diese Kampagne ein erster Aufschlag. Mit Kunst- und Versammlungsorten, selbst wenn wir sie jetzt ins Netz und auf Plakatsäulen verlegen, können wir noch eine Wirksamkeit erzielen. Die nächste Frage, die wir uns stellen, ist: Wie kann man auch im öffentlichen Raum theatrale Projekte realisieren, die selbst unter den gegebenen Beschränkungen interessant und relevant sind?

Foto: Julia Steinigeweg

Amelie Deuflhard,* 1959 in Stuttgart, ist seit 2007 künstlerische Leiterin der freien Spielstätte Kampnagel in Hamburg.

Kommt der Berg also zum Propheten, weil der Prophet gerade nicht zum Berg kommen kann?

Ganz genau so ist es. Vor vielen, vielen Jahren habe ich mal gesagt: Am liebsten hätte ich gar kein Theater, sondern würde einfach eine ganze Stadt bespielen. Wenn wir unsere Theater nicht mehr benutzen können, dann gehen wir in den öffentlichen Raum, der sich ja auch gerade sehr interessant und sehr leer präsentiert – zumindest in den Konsumarealen. Wir bewegen uns im innerstädtischen Bereich offenbar ausschließlich, um zu konsumieren.

Sie planen eine kulturelle Eroberung?

Natürlich können wir nicht die ganze Stadt bespielen, dafür fehlt uns das Budget, aber in Teilen sicherlich. Ich glaube, es gibt eine riesige Sehnsucht bei den Menschen, wieder zu Veranstaltungen zu gehen, und auch wieder in der Stadt etwas zu erleben. Selbstverständlich werden wir dabei die jeweiligen Beschränkungen einhalten.

Haben Sie Hoffnung auf Veränderung nach der – oder durch die – Krise?

Weil ich ein sehr optimistischer Mensch bin, hoffe ich natürlich, dass sich etwas ändert, aber wer weiß. Ich denke es ist wichtig, dass jetzt von politischer Seite Weichen gestellt werden, sodass wir nicht direkt ins „Business as usal“ zurückfallen, wenn Covid-19 unseren Alltag nicht mehr bestimmt. Die Probleme vieler Künstler*innen, Soloselbstständiger und kleiner Unternehmer*innen, denen jetzt temporär geholfen wird, geben der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen neue Relevanz. Ja, das Virus könnte im besten Fall produzieren, dass globale Solidarität neu gedacht wird.