Der Begriff „queer“: Meine schwule Normalität
„Queer“ ist ein Überbegriff für alle, die nicht in die Heteronorm passen. Als Konzept von individuellem Sein und Identität taugt er jedoch nicht.
F ür mich war ich immer normal. Ein Junge, so wird erzählt, so erinnere ich es selbst, der einfach freudig in der Welt war. Und gern spielte, wie alle Kinder: mit Jungs Jungssachen, Fußball, Räuber & Gendarm, Völkerball, Baumhausbauen. Winters aber lieber Eislaufen mit Rückwärtsspirale als Eishockey mit Bodychecks. Mit Mädchen spielte ich ebenso gern, Gummitwist und Oblaten sammeln, mit einer auch auf Bäume klettern. Das hätte lange so weitergehen können, aber als das Kindliche sich auswuchs, war ich als Junge eher der einzige, der auch mit dem anderen Geschlecht spielen wollte.
Die Welten trennten sich, aus mir wurde ein Junge, um den sich die Eltern irgendwie auch sorgten. Scham oder Beschämung? Nicht die Bohne, das Leben war ja interessant, sei es unter Binnenschiffern an der Elbe oder mit Frauen in einem der ersten Supermärkte. In der Pubertät, als, wie bei allen, nichts mehr stimmte, der Körper explodierte, merkte so einer wie ich, dass mit mir etwas nicht in Ordnung war. Niemand sagte das, keiner hatte fiese Sprüche parat, die kamen erst später, als ich längst begreifen musste: Ich fand Mädchen erotisch gar nicht interessant, Jungs dafür viel mehr. Was bedeutete: Ich war anders, und zwar in meiner Umwelt als Einziger.
Es waren die sechziger Jahre, und die Vorstellungen zu dem, was ein Junge tut und was er zu lassen hat, waren gefrostet. Nichts war weich oder freundlich jugendlichem Eigensinn gegenüber. Ich mochte Mädchen, wenn sie stark waren und Jungs, die sich durch Stärke auch auszeichneten, vor allem aber durch herzliche Kumpeligkeit. Irgendwas aber lief „schief“. Panisch bekam ich das Gefühl, dass meine Normalität eine obskur Betrachtete war. Ich durfte offenbar für mich nicht mehr normal sein.
Aus dem ja prinzipiell Schönen wurde Hässliches gemacht. Schwul – hieß das, ein Begehren, das nicht der Norm entsprach, ein existenzielles No & Never.
„Schwul“ statt „homophil“
Auf ewig dankbar bin ich allen, die in den frühen Siebzigern mit Rosa von Praunheim und übrigens auch vielen Lesben, die sich noch „schwule Frauen“ nannten, diese schmutzende, giftelnde Vokabel als Kampfbegriff nahmen. Den Kern der infamen Zuschreibung gegen die Zuschreibenden wendeten. „Schwul“, das war deutlich, nicht verschwiemelt wie „verzaubert“ oder „homophil“, gar auch nicht „vom anderen Ufer“, „Schwuchtel“ oder „warmer Bruder“. Halbseiden, tretbar, aggressiv zu verfolgen bis hin zur Krankenhausreife. Das war damals üblich, es drohte buchstäblich überall, wenigstens möglicherweise. Angst war der gewöhnliche Zustand.
Mit meiner Normalität war es indes vorbei. Ich – und Millionen andere, die es ja auch noch gab, von denen ich aber, alleingelassen sich fühlend, nicht wusste – musste und wollte mich mit Homosexuellem auseinandersetzen, persönlich und politisch. Eigentlich war in mir und mit mir nur eine besondere Art des Begehrens, nichts weiter. Eine Trivialität. Muschis – keine Lust, lieber andere Schwänze. Doch Paragrafen und andere staatliche und gesellschaftlich gern geglaubte Vorstellungen machten daraus eine stete, in die Haut gesunkene Drohung.
Aber war das schon mehr als „schwul“? War es vielmehr „queer“, wie die heutige, modische Vokabel es nahelegt? Hatte ich mir das ausgesucht, war ich womöglich zu gering fluid, hätte ich besser, wie manche heutzutage, nonbinary sagen sollen? Ich fand das Deutliche besser für mich, stimmiger. Was die Leute über unsereins – es gab ja inzwischen ein „uns“ – dachten, musste bestätigt werden, um ihnen – es gab auch ein „ihnen“ – die Mäuler zu stopfen. Ja, schwul war genau das, was die Leute sich drunter vorstellten.
„Queer“ wäre damals als Wort keinesfalls besser gewesen. „Queer“ klingt parfümiert, uneigentlich. Sprachbereinigt insofern, als in „queer“ etwas verloren geht: das für die meisten heterosexuell orientierten Menschen Faszinierende, Drohende. „Schwul“ sind Leute, die die Nazis tausendfach töteten und die das deutsche Tätervolk gern an die Gestapo verpetzte. „Queer“ hingegen klingt geschmackvoll, ja, kulturell und programmatisch vom Gossenhaften entfernt.
Die innere Homophobie tilgen
Ohnedies ist ja „queer“ eine politisch beanspruchende Vokabel, die persönliche Lifestyles meint: Man gibt sich weich, zart, im klassischen, besser: traditionellen Sinn weicher männlich. Und das soll denn auch so sein, das ist die Programmatik. Was aber, wenn man auf dieses Programm der kollektiven Andersheit in Abgrenzung zum Heteronormativen (so die Fachvokabel) keine Lust hat? Wenn es einem nicht entspricht?
Ich selbst musste durch die Schule des schwulenbewegten Kampfes und darauf beharren, ein anders begehrender, eben ein schwuler Mann zu sein. Aber ein schwuler Mann mit Interesse an Fußball – nicht des Aussehens der Spieler wegen, das muss man bei einem fantasierenden Nichthomopublikum immer klarstellen. Oder am Pop, dort besonders an Frauen, die aufs Ganze gehen, sozusagen an der ganzen Gummitwistwelt meiner Kinderjahre. Eine Welt, ehe man lernte, dass das Anderssein ein Strickfehler in einem selbst ist. Es ist der übliche Plan aller auf dem Wege aus der Kindheit raus: Mit sich einverstanden sein. Differenz aushalten können. Die Mehrheit ist eben in gewisser Hinsicht fundamental anders orientiert als man selbst – was soll denn das Erotisierungsfähige anders als basal sein?
Die innere Homophobie tilgen, lindern. Das schafft den Mut, den Hass anderer Menschen zur strafrechtlichen Anzeige bringen zu wollen – anstatt, wie früher üblich, sich zu sagen: „Ach, das geschah mir schon recht!“ Aber auch einzusehen, dass es eine paradiesische, nichthomophobe Welt nicht gibt – höchstens eine Welt, in der man sich selbst nicht fertigmacht für das, was man ist.
Was das Ringen mit dem eigenen Leben – als Angehöriger einer Minderheit – sein kann, ist ja eben dies: Mit sich einverstanden sein, sich normal finden. Unabhängig davon, ob sich das gerade modisch geziemt oder nicht.
Man ist, was man ist
Das „Queeren“ einer Person ist hingegen ein Vorgang, der sich von außen einschreibt: Oh, jemand ist „queer“. Ein innerer Vorgang der gleichen Güte ist indes hinderlich: Oh, ich soll „queer“ sein! Dann würde ich im Inneren wieder die Klischees aus der Außenwelt reproduzieren. In meinem Fall: Schwule seien sensibel, seien an Kunst interessiert oder am Schönen und Wahren und Guten. Diese einengende und gar angewiderte heteronormative Zuschreibung, Homosexuelle mögen doch bitte für den Schmuck zuständig sein.
Es hieß früher schon, „Schwulsein“ sei nicht abendfüllend. Man ist, was man ist. Sigmund Freud nannte das „Triebschicksal“, ein Begriff, der einfach nur sagt, was Sache ist. Nicht fluide, ein Schicksal wie so vieles, Schönheit und Anmut etwa. Dass Schwules nur ein persönlicher Aspekt unter vielen ist, versteht sich von allein. Homosexuelles ist ein Umstand, mit dem unsereins irgendwann einverstanden ist, psychologisch heißt das: in die Persönlichkeit als bejahend integriert. „Queer“ hingegen ist ein Programm, das das Fleischlich-Begierige aus der Seinsweise getilgt hat, das explizit Schwule beispielsweise zum Verschwinden bringen möchte. Aber zugleich: eine Sammelformel, um die seltsame Buchstabenkette „LGBTI“ zu vermeiden – „queer“ meint alle, die in die heteronormative Welt nicht passen.
„Queer“ als Stilmittel hingegen, als Versuch, an der Oberfläche subversiv zu sein, wie der Heteromann, der sich die Fingernägel lackiert: Geht’s noch unpolitischer? Das Streiten für Bürger:innenrechte ist kein kosmetischer Tand. Es wäre viel gewonnen, wenn vor allem gelten würde, dass allen ihr Eigensinn zu lassen ist: das Erotische gehört dazu, das Begehrende sowieso. Freundet euch mit euch selbst an! Das ist nicht so leicht, wie es klingt. Möglich, dass es im Alter gelungen sein wird. Aber nicht garantiert.
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