piwik no script img

Diskussion ums Cornern In HamburgNicht immer die Polizei rufen

Das Massencornern nervt auch mich. Aber es ist eine Sache genervt zu sein. Und eine andere, sich öffentlich zu distanzieren.

Wer soll was dagegen tun? Menschen beim Cornern in Hamburg Foto: Henrik Josef Boerger/dpa

C ool town, evenin’ in the city / Dressed so fine and lookin’ so pretty / Cool cat lookin’ for a kitty / Gonna look in ev’ry corner of the city“. Joe Cocker hat das gut besungen, es hat sich ein bisschen was geändert, aber gar nicht mal so viel. In unserem Dorf hingen die „jungen Leute“ früher an der Bushaltestelle herum, weil da wenigstens ab und zu jemand ankam oder wegfuhr, Leute halt, andere Leute. Andere Leute sind für die „jungen Leute“ das, was sie suchen, das ist ihnen ihre Attraktion, möglichst viele andere Leute, und natürlich was zum Saufen.

Seit ein paar Jahren heißt das „cornern“ und führt immer mehr zu Komplikationen. Für mich ist das nichts mehr, betrunkene Menschengruppen, dennoch kann ich die irgendwie verstehen. Sich unter andere Menschen mischen, gucken, ob einer guckt, abwarten, was passiert, man weiß doch noch, wie das war. Junge Menschen sind junge Tiere, die sich auf Sammelplätzen einfinden, zum Zwecke des Kräftemessens und Fortpflanzens.

Das Cornern nun ist den Gastwirten schon länger ein Übel, weil es ihnen die zahlenden Gäste wegnimmt, den Anwohnern ist es der Lärm, der Müll und das Pinkeln. Jetzt aber, in dieser durch Corona angespannten Lage, scheint sich auch dieses spezielle Problem aus verschiedenen Gründen noch zuzuspitzen. Es spitzt sich ja seit Längerem alles in allen Bereichen irgendwie zu, und das ohnehin schon irgendwie Brodelnde wird nun so explosiv, dass es zu kleineren oder auch größeren Verpuffungen kommt.

Es haben sich im Hamburger Schanzenviertel Bewohner (der Stadtteilbeirat Sternschanze) gegen das Massencornern ausgesprochen und zu diesem Zwecke ein Schreiben an den Hamburger Bürgermeister, den Innensenator (der selber gerne feiert, wie wir wissen) und die zweite Bürgermeisterin gesandt. Eingreifen sollen sie. Verbieten sollen sie. Die Polizei soll kommen.

Und das ist der Punkt, da werde ich etwas grüblerisch. Mir wurde mal, und das ist genau 22 Jahre her, im Viertel in einer Kneipe mein Portemonnaie geklaut, das Personal weigerte sich, die Polizei zu rufen, das tat man damals einfach nicht. Heute sieht es anscheinend anders aus. Heute soll die Polizei das Viertel also aufräumen. Familien wohnten dort, man sei ja schließlich kein „Vergnügungspark“.

Ich kann das sehr gut verstehen, ich würde selbst unter solchen Umständen auch keinesfalls leben wollen und wir alle könnten dort sehr schlecht schlafen. Aber wer sind denn, in diesen Zusammenhängen, „die Richtigen“, die, die dort feiern und ausgehen dürften? Denn dass die Sternschanze nun einmal auch ein Viertel zum Ausgehen ist, allein weil dort so viele Kneipen, Bars und Restaurants sind, das kann wohl keiner bestreiten.

Einen ähnlichen Sachverhalte gab es jüngst in Stuttgart, wo es auf einem solchen Platz zu Ausschreitungen kam. Auch nach diesen Vorfällen gab es Überlegungen, wer „diese Leute“ denn eigentlich seien, und wer nicht. Man grenzt sich ab, das Viertel darf manches sein, aber kein Ischgl, kein Ballermann, sondern etwas vielleicht Ambitionierteres, Politischeres, etwas ganz anderes jedenfalls. Die Cornerpeople aber sind einfach die Falschen und zu viel.

Bin ich Teil der Gerechten, oder schon Nörgelrentner oder sogar Privatpolizist?

Ich kenne dieses Abgrenzungsverhalten von mir selbst und kann es gut nachvollziehen. Mich stören die paar jugendlichen Rumgröler vorm Haus, die abends auf der Straße mit ihren Kumpels sinnlose „Gespräche“ führen, auch. Aber es ist eine Sache, genervt zu sein und eine andere, so eine gesellschaftliche Distanzierung öffentlich zu formulieren. Wen ruft man an: die Polizei, den Staat, und gegen wen? Was sind das für Fronten und wo verortet man sich dann selbst? Bin ich Teil der Gerechten, oder schon Nörgelrentner oder sogar Privatpolizist?

Ein ähnliches Thema ist mir übrigens immer der Schlagermove gewesen, den ich persönlich verabscheue, den ich aber harmlos finde, und den Menschen, die so was beglückt, durchaus einmal im Jahr gönne. Eine Lösung für diese lästige und derzeit vielleicht auch gefährliche gesellschaftliche Erscheinung des „Massencornerns“ habe ich natürlich auch nicht.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Schriftstellerin
Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Hier kann man mal wieder das vollständige Versagen des Hamburger Senats bildlich gut dargestellt bekommen. Warum wird hier nicht wie bei jeder friedlichen linken Demo reagiert. Ein Fahrzeug mit Wasserwerfer reicht schon. Mit nasser Buchse lässt sich bestimmt nicht so ungeniert und ignorant gegen Recht und Gesetz verstoßen.



    Es bleibt nur Kopfschütteln. Nachher wird wieder beim zweiten Lookdown rumgeweint

  • 0G
    04515 (Profil gelöscht)

    Die Viertel, die hauptsächlich betroffen sind wie die Schanze und St. Pauli, sind inzwischen gentrifiziert und die gehobene Mittelschicht mit Kindern und Lastenfahrrädern will halt ihre Ruhe haben.