Pop und Corona: Der Sieg der puren Vernunft
Fortschrittlicher Pop tut sich schwer mit der Coronakrise. Denn rebellische Gesten sind heute von rechts okkupiert. Versuch einer Einordnung.
Warum ist emanzipatorischer, fortschrittlicher, ja, linker Pop in der Krise bisher oftmals so hilflos, so marginalisiert? Begünstigt Corona die Hegemonie von völkisch-reaktionärem, sexistischem, rechtem Pop in der Massenkultur? Eine Antwort gibt Michel Foucault:
„Es gab um die Pest eine ganze Literatur, die ein Fest erträumte: die Aufhebung der Gesetze und Verbote; das Rasen der Zeit; die respektlose Vermischung der Körper; das Fallen der Masken und der Einsturz der festgelegten Identitäten, unter denen eine ganz andere Wahrheit der Individuen zum Vorschein kommt.“ Schreibt Foucault 1975 in „Überwachen und Strafen“.
Vom Übertreten von Verboten, vom Rasen und von der Vermischung der Körper handelt Pop seit eh und je. Pop will die Mächtigen demaskieren, fixierte Identitäten zum Einsturz bringen und hinter Fassaden neue Wahrheiten zum Vorschein bringen. „Let’s go crazy“ forderte Prince, Beyoncé war „Crazy in love“, „Break on through to the other side“ sangen die Doors, „Express yourself“ und „Fuck the pain away“ empfahlen Madonna und Peaches.
Projektnamen vom Schleusernetzwerk
Ein Detroiter Kollektiv mit dem sprechendem Namen Underground Resistance erschütterte die Welt mit einer neuen Musik: Techno. Underground Resistance verstand sich auch als Widerhall von Underground Railroad, das klandestine Schleusernetzwerk verhalf Sklav:innen zur Flucht aus den Südstaaten in den Norden.
Und heute? Spielen die Zeichen verrückt? Underground, Widerstand und Protest wandern nach rechts: „Querdenker 711“ und „Widerstand 2020“ demonstrieren gegen Maßnahmen zur Eindämmung der neuen Pest. Sie berufen sich auf Anne Frank und tragen gar gelbe Sterne mit der Aufschrift: Ungeimpft. Bei ihren Happenings kommt es zur respektlosen Vermischung der Körper. Das Fallen der Masken entfällt, es werden erst gar keine getragen.
Weiter mit Foucault: „Jedoch gab es auch einen entgegengesetzten, einen politischen Traum von der Pest: nicht das kollektive Fest, sondern das Eindringen des Reglements bis in die feinsten Details der Existenz vermittels einer perfekten Hierarchie, welche das Funktionieren der Macht bis in ihre letzten Verzweigungen sicherstellt. (…) Der Pest als zugleich wirklicher und erträumter Unordnung steht als medizinische und politische Antwort die Disziplin gegenüber. Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor den „Ansteckungen“, vor der Pest, vor den Aufständen, vor den Verbrechen, vor der Landstreicherei, vor den Desertionen, vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben.“
Besonnene Galionsfiguren
Heute werden Disziplinarmaßnahmen verordnet im Namen einer Vernunft, für die Besonnene stehen: der Virologe Drosten, der Mediziner Lauterbach, der Wissenschaftsjournalist Rogeshwar. Und, über allen: Frau Dr. Merkel, Physikerin.
Pest auf Fest reimen – das wagen dieser Tage nicht mal stumpfe Provo-Rapper wie Sido und Kollegah. Corona feiern als Initialzündung zur großen Libertinage? Was macht eigentlich Houellebecq? Nein, die aufgeklärte, eher linke Popkultur steht aufseiten der Vernunft, und das wirft nun mal wenig Glamour ab. Blixa Bargeld posiert mit Maske und nimmt den Lockdown „sehr ernst“. Randy Newman textet seinen Klassiker um: Aus „Sail away“ wird „Stay away“, Abstand halten. Die Ärzte drehen ein witzloses Video im Homeoffice. Und alle schicken Bilder von leeren Straßen.
Auch Tocotronic illustrieren ihren Coronasong „Hoffnung“ mit Ghost-Town-Footage. „Hoffnung“ sei ein sehr schwarzes Lied und gerade deswegen eines, „das echten Trost stiftet“, erklärt Tocotronic-Biograf Jens Balzer auf Zeit Online, ohne zu erklären, worin genau der echte Trost besteht und wer da wen tröstet. „Trost durch Empathie“ spende das Lied, sekundiert Julia Lorenz in der taz. Zwei Monate ist das her. Manchmal wird der Blick mit zeitlichem Abstand klarer. Was ist geblieben vom Toco-Trost?
Vom einträchtig ergriffenen Publikum wurde „Hoffnung“ mit einer salbungsvollen Andacht aufgenommen, die die salbungsvolle Andacht des Vortrags noch übertrifft. Die Coronakrise befördert einen Konformismus der Resignation, eine lähmende linke Melancholie-Routine, über die Walter Benjamin, auf Erich Kästner gemünzt, 1930 schrieb: „Routiniertsein heißt, seine Idiosynkrasien geopfert, die Gabe, sich zu ekeln, preisgegeben zu haben.“
Vom Fest zur Pest
An Tocotronic lässt sich der Foucault’sche Paradigmenwechsel um Pest und Fest gut verfolgen. Ihr Musikerkollege Jens Friebe findet das Coronalied auf Anfrage „überraschend“, bleibt aber diplomatisch, man kennt sich und schätzt sich. „Alle Sachen, die sie bisher gemacht haben, wurden zusammengehalten von einer gewissen Negativität. Jetzt wird etwas ganz Anderes vermittelt: Hoffnung, Utopie, Zusammenhalt. Ich finde das nicht reizlos, aber auch nicht ganz unbefremdlich, als würde Graf Dracula einem sagen: ‚Alles wird gut‘, und man denkt so: Wirklich?“ Auf die vertraute Negativität von Tocotronic stieß man beim Procoronastinieren gleich nach Ausbruch der Seuche.
Da kursierten Listen mit Songtiteln der Band, die sich als Kommentar zur Krise lesen lassen: „Tag der Toten“, „Sag alles ab“, „Drei Schritte vom Abgrund entfernt“, nicht zu vergessen: „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Da rebellieren Tocotronic mit ihrem Trademark-Pathos gegen die Diktatur der Zweckrationalität, gegen die Logik des kapitalistischen Realismus, der alle Fasern des Lebens durchdringt: Nicht Einverstandensein, sich verweigern.
Die Ratio der Defensive
Und jetzt? Im Zeichen von Corona ist pure Vernunft quasi alternativlos, um Merkel zu zitieren, die Thatcher zitiert. Es siegt die Ratio der Defensive. Also das Gegenteil der zweifelnden Negation, die sich als Generalbass durch das Werk von Tocotronic zieht. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet diese Band auf Corona mit einem Song reagiert, der es an Hilflosigkeit und Tristesse mit Silbermond aufnehmen kann. Trostlos. Ist Covid-19 nun der letzte Nagel im Sarg der Rock-Rebellion?
Kürzlich ist ein Sachbuch auf Deutsch erschienen, das bereits im 1995 erschienenen Original Zweifel am emanzipatorischen Charakter des bösen, wilden, unbändigen Rock ’n’ Roll formulierte: „Sex Revolts – Gender, Rock und Rebellion“ von Joy Press und Simon Reynolds analysiert die Prototypen des transgressiven, tabubrechenden, (selbst)zerstörerischen Rockrebellen. Jim Morrison, Iggy Pop, nebst Adepten. Und kommt zum zwiespältigen Fazit: Ja, wir haben damals enthusiastisch gefeiert zu diesem kettensprengenden, exzessiven Rock ’n’ Roll, aber haben womöglich übersehen, überhört, wessen Freiheit da gefeiert wird, wenn Mick Jagger singt: I’m free to do what I want? Auf wessen Kosten tut er, was er will, nimmt sich was und wen er will? Was ist geworden aus der transgressiven Libertinage der Rockmänner?
Fuck you in der Hochfinanz
„Es wirkt heute so, als hätte sich diese spezielle Variante von Rock-Rebellion totgelaufen. Die Idee, dass es cool sein soll, sich um nichts und niemanden zu scheren, ‚Leckt mich doch alle am Arsch!‘ haben sich die Rechten unter den Nagel gerissen. Die Fuck-you-Haltung von Rock-Rebellion findet sich heute in der Hochfinanz, im Silicon Valley und in der grenzüberschreitenden Rhetorik von Alt Right“, erklärt Joy Press.
Und sie klingt, als spräche sie von den wild gewordenen Wutbürgern, die in deutschen Fußgängerzonen wegen Coronabeschränkungen ausrasten und dabei performativ, sprachlich und visuell auf Motive und Narrative der Rock-Rebellion rekurrieren: grenzüberschreitend, tabubrechend, selbstzerstörerisch im wahrsten Sinn des Wortes, wenn sie auf engstem Raum wüten und rasen gegen die Maschinen der Vernunft.
„Lieber stehend sterben als kniend leben“ steht auf ihren Shirts, einst linke Pathosformel, später ein Hit der Böhsen Onkelz. Ja, der Soundtrack zum ‚Leckt mich doch alle am Arsch!‘ kommt aus dem völkisch-maskulinistischen Lager der Schlagerfolkloristen, Volksrocknroller und Mitgrölrocker. Zwischen Frei.Wild und Onkelz passt ’ne Gabalier-CD, um mal Die Ärzte zu variieren. Und eine von Xavier Naidoo.
45 Jahre nach Foucault haben sich die Fronten verkehrt. Die disruptiven Energien von Rock’n’Roll-Exzess und Techno-Ekstase repräsentieren heute Typen wie Lutz Bachmann von Pegida, Fünf-Sterne-Clown Beppe Grillo und Hans-Christian „Ibiza“ Strache. Und der Disruptor im Weißen Haus. Was ist mit der allfälligen Rede von der Krise als Chance? Als Chance für eine Pop-Blüte im Namen von Liberté, Egalité & Beyoncé?
Wenn der Tod von George Floyd für etwas gut war, dann für die beschleunigte Verbreitung der Erkenntnis, dass Corona sehr wohl Hautfarben kennt, dass Corona Arme und BIPOC härter trifft. Eine Erkenntnis, die sich künstlerisch vor allem im repolitisierten afroamerikanischen Pop verbreitet. Check out: Anderson.Paak, Terrace Martin, Denzel Curry, Kamasi Washington, G Perico, Daylyt, Dua Saleh, Run The Jewels; auch Public Enemy sind wieder da. Mehr wird kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen