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Chef der Wahrheitskommission über Mali„Bereit für Verzeihen und Vergeben“

In Mali werden Menschenrechte von ganz verschiedenen Akteuren verletzt. Wichtig sei zuerst, das Leid der Opfer anzuerkennen, sagt Ousmane Sidibé.

Flüchtlinge aus Mali im mauretanischen Camp M'bera Foto: Selim Saheb Ettaba/afp
Interview von Katrin Gänsler

taz: Herr Sidibé, wie ist es um die Menschenrechte in Mali bestellt?

Ousmane Sidibé: Das Land befindet sich in einer Krise, und die Menschenrechte werden massiv von verschiedenen Akteuren verletzt. Das muss immer wieder angesprochen werden, da Gewalt nur neue Gewalt erzeugt.

Sie sind Vorsitzender der Wahrheits- und Versöhnungskommission Malis, die Menschenrechtsverletzungen seit der Unabhängigkeit 1960 aufarbeitet. Welche Ergebnisse hat die Kommission seit ihrer Gründung erzielt?

Opfer von Menschenrechtsverletzungen können zu uns kommen und eine Aussage machen. Bis heute haben wir mehr als 16.000 aufgezeichnet. Wir sind im ganzen Land präsent. Wir waren auch in Kidal, bevor die Regierung dort wieder präsent war. Die Opfer vertrauen uns. Im Flüchtlingscamp M’bera in Mauretanien haben wir beispielsweise 500 Aussagen aufgenommen.

Katrin Gänsler
Im Interview: Ousmane Sidibé

ist Präsident der malischen Wahrheitskommission CVJR. Der 65-jährige Juraprofessor an der Universität Bamako wurde nahe Timbuktu geboren.

Was passiert mit den Aussagen, die Sie aufzeichnen?

Nach der Erfassung haben wir mit einer Untersuchung begonnen und die sinnbildlichsten Vorgänge ausgewählt, die sich in Kidal, Gao, aber auch im Süden seit der Unabhängigkeit zugetragen haben. Geholfen hat uns dabei eine „Kartografie der schweren Menschenrechtsverletzungen“, die wir gemeinsam mit Avocats Sans Frontières aus Kanada erstellt haben. So haben wir die Dynamik der Konflikte erfasst.

Was bekommt die Öffentlichkeit davon mit?

Im vergangenen Dezember haben wir die erste von fünf öffentlichen Anhörungen organisiert. Thema war das Recht auf Freiheit. Inhaltlich ging es um willkürliche Verhaftungen und Untersuchungshaft. Das ist sehr gut angenommen worden. Weitere Veranstaltungen sollen die Rechte der Frauen, Kinder oder das Verschwinden von Menschen behandeln. Das ist ein sehr wichtiger Schritt.

Wird es auch Entschädigungen für Opfer geben?

Es wird unterschiedliche Arten der Wiedergutmachung geben. Es kann eine symbolische Wiedergutmachung sein, bei der ein Opfer um Entschuldigung gebeten wird. Möglich sind auch materielle Entschädigungen, etwa nach dem Tod eines Menschen oder der Zerstörung der Lebensgrundlage. Über die Höhe wird aktuell aber noch mit den unterschiedlichen Akteur*innen diskutiert. Eins ist allen klar: Es handelt sich immer um eine symbolische Wiedergutmachung. Ein Leben lässt sich nicht bezahlen.

Warum ist Wiedergutmachung zentral?

Durch sie werden die Opfer tatsächlich als Opfer anerkannt. Bevor wir 2015 unsere Arbeit aufnahmen, haben wir im ganzen Land Opfer gefragt, ob sie bereit für Verzeihen und Vergeben seien. Das haben alle bejaht. Die erste Bedingung lautete für alle: Das malische Volk muss ihr Leiden anerkennen, egal ob ihnen das nun von Malis Armee, von Selbstverteidigungsmilizen oder bewaffneten Gruppierungen zugefügt wurde.

Wie sieht es mit strafrechtlichen Konsequenzen aus? In Mali gibt es wie in anderen Sahel-Staaten auch eine lange Tradition der Mediation, viele Einigungen werden außergerichtlich erzielt.

Viele Opfer haben sich entschieden, nicht vor Gericht zu ziehen. Sie sind mit der Anerkennung als Opfer und der Wiedergutmachung zufrieden. Wer eine Strafverfolgung fordert, dem steht das Rechtssystem jedoch offen. Das widerspricht sich nicht.

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