Die steile These: Radultras sind Öko-Snobs
Der Fahrradfanatiker lebt das Klischee eines Menschen, der achtsam und moralisch erhaben nach oben buckelt – und nach unten tritt.
Versteht mich nicht falsch, auch ich liebe den Fahrtwind im Haar und die offene Straße vor mir. Auch für mich gibt es wenig Schöneres, als dabei zuzusehen, wie Landschaften links und rechts vorbeiziehen. Die Beinfreiheit ist einmalig.
Im Auto, auf dem Beifahrersitz, mit heruntergekurbeltem Fenster.
Meine Beine treten nicht gerne in stachelige Fahrradpedale. Meine Beine liegen lieber gut drapiert auf dem gepolsterten Autobeifahrersitz und ruhen sich aus. Sie liegen unter dem Handschuhfach im Auto, in dem fast immer CDs aus dem letzten Jahrzehnt, Snacks vom letzten Jahr und USB-Kabel für den Fall der Fälle liegen. Gut, meine Beine schlafen auf der Fahrt manchmal ein, aber die Ruhe gönne ich ihnen. Ich fahre an sich gern Fahrrad, aber heimlich liebe ich Autofahren. Und vor allem: Autogefahrenwerden. Es ist mein guilty pleasure.
Fahrradfahren ist gut, Fahrradfahren ist wichtig. Urbi et Fixie, liebe Fahrradgemeinde. Ihr rettet den Planeten, unser aller Menschenehre und tut was für die eigene Gesundheit. Danke dafür! Am Ende haben wir alle was davon. Aber wenn ihr so gute Dinge tut, warum sind dann einige von euch dermaßen selbstgerechte Ökosnobs?
Vor nicht allzu langer Zeit war das eigene Auto ein Statussymbol, das man sich verdienen musste. Mercedes Benz, Audi, irgendwas. Oder sogar ein Porsche. Einige meiner Familienmitglieder haben lange dafür gearbeitet, schön im Auto cruisen zu können. Doch mittlerweile sind viele Menschen umgestiegen und haben aufs Fahrrad umgesattelt. Aber nicht auf irgendeines. Nein, die Fahrrad-Bourgeoisie sattelt sich auf Räder, die so viel kosten wie ein kleiner Gebrauchtwagen. Denn es geht hier nicht darum, Geld zu sparen. Es geht darum, Geld auszugeben und dabei so zu wirken, als sei man sparsam und bedacht. Auch im Jahr 2020 gibt es noch einige Männer, die ihre Fixies an die Wohnzimmerwand getackert haben. Klar, man will sein Geld ja da hängen haben, wo man es täglich sehen kann.
Der Fahrradfanatiker lebt für mich das Klischee eines Menschen, der achtsam und moralisch erhaben nach oben buckelt und nach unten tritt. Er schwingt sich auf sein Diamant-Rad, wohl wissend, dass ihm rein ethisch niemand etwas anhaben kann. Auf die tiefer gelegten Autos schaut er lächelnd herab wie ein Drahtesel-Dalai-Lama. Doch dann muss er einem dieser Autos ausweichen – er hat es wirklich nicht leicht, vor allem auf Berliner Straßen. Vielleicht wirkt er deshalb oft so verbissen.
Doch es gibt noch eine extremere Form des Fahrradfanatikers: Radfetischisten. Sie wirken auf mich wie Außerirdische. Manchmal sieht man sie vor dem Berliner Feinkostgeschäft Butter Lindner oder vor Biobäckereien einen kurzen Stopp einlegen. Mit atmungsaktiver Funktionsjacke, aerodynamischer Sonnenbrille auf der Nase, einem nach hinten langgezogenen Helm und reflektierendem Hosenbeinschutz, damit die Anzughose nicht zwischen die Speichen kommt. Sie sind ein rasanter Hybrid aus Bürohengst und Umlandsteppenwolf. Mal schnell ins Büro geradelt, mal eben ein Ausflug in den Wald. Stets mobil, wendig und geräuscharm. Aus welcher Parallelgalaxie kommen diese perfekten Übermenschen? Und wie schnell sausen sie wieder davon aus meiner Welt?
Unter ihrer Funktionsjacke schaut oft ein Kaschmirpullover hervor. Viele dieser Radfetischisten sind nämlich Besserverdiener. Sie heißen Andreas, Klaus oder Thomas und haben etwas Herablassend-Freudloses, wie sie da so stehen und sich ein Dinkelbrötchen als Proviant in den Rucksack stecken. Sie sind zu gut für den Rest von uns, denn sie sind schon auf dem nächsten Evolutionslevel, dem ergonomischen Fahrradsitz, angekommen. Da schaut der Rest von uns armen Toyota-Teufeln nur noch dumm unter die offene Motorhaube.
Dieser leise Ekel in Gegenwart dröhnender Autobässe, der den Radultras ins Gesicht steigt. Das Augenverdrehen, wenn der Motor aufheult, all das hat auch etwas Klassistisches. Machen wir uns nichts vor, da müsste bei einigen mal moralisch nachgeölt werden.
Im BMW bleiben die Haare am Lipgloss hängen
Das merkt man auch, wenn man als Kleinfamilie einen Fahrradanhänger kaufen möchte. In unserem Stadtviertel kommen solche Anhänger und „Croozer“ minütlich von links und rechts um die Ecke, darin sitzend jauchzende oder quengelnde Kinder. Nach einem Jahr Widerstand war auch ich schlussendlich überzeugt, einen solchen Anhänger zu brauchen. Ist ja auch praktisch.
Schade nur, dass dieses Zubehör gern mal 700 Euro kostet – oder noch mehr. Wer von den Leuten, die nicht täglich bei Butter Lindner im Kaschmirpullover Schlange stehen, kann sich so etwas leisten? Ja, auch ich werde irgendwann einen Anhänger kaufen, gebraucht von irgendwem, der ihn nicht mehr braucht. Aber ich frage mich, wie sich Familien mit weniger Geld umweltbewusst fortbewegen wollen, gerade in Zeiten von Corona, in denen man überfüllte Busse und S-Bahnen meiden will.
Meine gesamte Kindheit habe ich kein einziges Mal in einem Fahrradanhänger gesessen. Meine Eltern haben meinen Bruder und mich stattdessen in ihren klapprigen VW Passat gesetzt und sind losgefahren. Uns hat nichts gefehlt, außer einer funktionierenden Klimaanlage und Beschäftigung während der Fahrt. Der Gestank des Auspuffs, die Fensterkurbeln und der nervöse Fahrstil meines Vaters sind für immer in mein Gedächtnis gebrannt.
Vielleicht liebe ich deshalb das Autofahren, es weckt Erinnerungen. Wie diese hier: Es ist 2001, ich düse mit meinen beiden Cousins in einem BMW durch Augsburg. Die Fenster sind unten, mein Arm baumelt aus dem Fenster, meine Haare bleiben am viel zu klebrigen Lipgloss hängen, während aus den Boxen P. Diddys „I Need a Girl Part 2“ dröhnt. Wir fühlen uns cool, frei und ich winke vom Rücksitz Passanten auf dem Gehweg zu. Ein kleiner Moment kurz vor meiner Pubertät, den ich nie vergessen werde. Ich behaupte mal, dieses Gefühl ließe sich nicht auf einem quietschenden Tandemrad mit Gangschaltung wiederholen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Trumps Krieg gegen die Forschung
Bye-bye, Wissenschaftsfreiheit!
Menschenrechtsverletzungen durch Israel
„So kann man Terror nicht bekämpfen“
Altvordere sollen Linke retten
Hoffen auf die „Silberlocken“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos