Gregor Gysi meldet sich zurück: „Ich hatte im Bundestag Leerlauf“
Der neue außenpolitische Sprecher der Linksfraktion über sein Verhältnis zu Venezuela, Auslandeinsätzen, Regierungsbeteiligung und Staubsaugen.
taz: Herr Gysi, warum haben Sie sich überreden lassen, fünf Jahre nach Ihrem Rückzug in die letzte Bankreihe des Bundestags den Job des außenpolitischen Sprechers anzunehmen?
Gregor Gysi: Ich hatte im Bundestag Leerlauf. Ich konnte meinen Wählerinnen und Wählern in Treptow-Köpenick gar nicht genau erklären, was ich im Bundestag treibe. Ich arbeite viel als Rechtsanwalt, Moderator und Autor. Im Bundestag habe ich in dieser Legislaturperiode drei Reden gehalten. Es gibt keinen Abgeordneten in meiner Fraktion, der so wenig geredet hat wie ich.
Schwer vorstellbar, Herr Gysi.
Ist aber so. Wenn man für kein Thema zuständig ist, dann muss man sich immer reinmogeln, weil ja jemand anderes zuständig ist. Das ist nicht mein Stil. Und Außenpolitik hat mich immer interessiert.
Jahrgang 1948, ist Präsident der übernationalen Europäischen Linken, einem Zusammenschluss linkssozialistischer bis postkommunistischer Parteien.
Hat Corona für Sie etwas verändert?
Corona hat mich ja partiell zu einem Rentnerleben gezwungen. Keine Termine, keine Auftritte. Ich dachte, das ist furchtbar. Ist es gar nicht. Ich war zum ersten Mal im Leben gezwungen, ziemlich regelmäßig den Abend allein zu verbringen. Ich habe immer gedacht, was machst du dann? Fernsehen? Über einem Buch einschlafen? Ich hatte davor immer ein bisschen Angst. Diese Angst habe ich nicht mehr.
Es ist gar nicht so schlimm?
Nee. Man hat ja immer was zu tun. Ich war schon immer dafür, dass Hausarbeit bezahlt wird. Jetzt bin ich leidenschaftlich dafür. Hausarbeit ist grottenanstrengend.
Aha. Staubsaugen?
Alles, staubsaugen, wischen, Wäsche waschen, beim Einkaufen nichts vergessen. Ich finde es ziemlich anstrengend.
In der Bundestagsfraktion hielt sich die Begeisterung des linken Flügels über Ihre Nominierung in Grenzen. Es waren Außenpolitiker der Linksfraktion, die bei einem Parteitag mit dem Slogan „Hände weg von Venezuela, Vorwärts zum Sozialismus“ auftraten. Schwierig, oder?
Ich war mit Chávez in Venezuela solidarisch. Aber es ist nicht zu akzeptieren, eine neue Mehrheit in Parlament einfach zu ignorieren.
Wie es Chávez’ Nachfolger Maduro tut …
Man muss das ganze Bild sehen. Die USA spielen seit Jahrzehnten eine üble Rolle, denken Sie an die jüngste Söldnerattacke, und sie sind auch mit schuld am Hunger in Venezuela. Aber wir müssen trotzdem Venezuela auch kritisieren. Entweder bin ich für Demokratie oder nicht. Es gibt Linke, die einseitig sind. Sie wollen ihr Ideologiegerüst nicht von Tatsachen erschüttern lassen.
Es wird also keine Handshake-Fotos von Ihnen mit Maduro geben?
Wieso nicht? Ich spreche mit allen, aber würde Maduro Gutes und auch Kritisches sagen. Ich fand es falsch, dass Außenminister Maas Maduros Gegner, den selbst ernannten Präsidenten Guaidó, anerkannt hat. Jetzt sind Gespräche für ihn mit Maduro fast unmöglich. Wir brauchen aber Gespräche. Mich sorgt, dass fast überall nur noch militärisch gedacht wird und viel zu wenig politisch.
Warum gibt es bei Linken Sympathien für autokratische Staaten, die als Gegner der USA gelten?
Na ja, auf jeden Fall gibt es noch Reflexe aus der Zeit des Kalten Kriegs. Aber die gibt es nicht nur bei den Linken. Den Kalten Krieg haben viele noch nicht überwunden. In vielen Medien finde ich eine herablassende Haltung gegen Russland. Die müssen wir überwinden. Wir müssen begreifen, dass Russland zu Europa gehört. Und dass wir andere Interessen haben als die USA.
Haben Sie Kontakte nach Russland?
Ich habe vor einiger Zeit mit dem ersten stellvertretenden Außenminister und dem Parlamentspräsidenten gesprochen. Putin empfängt mich natürlich nicht. Das ist eine andere Größenordnung. Bei den Gesprächen vergleiche ich die völkerrechtswidrige Trennung des Kosovo mit der Annexion der Krim. Was ich zum Kosovo sage, akzeptieren sie, der Vergleich mit der Krim wird nicht so gern gehört. Aber sie diskutieren immerhin darüber.
Plädieren Sie für die Anerkennung der Annexion der Krim, um das Verhältnis zu Russland zu verbessern?
Nein. Aber wir müssen Wege aus der Blockade finden. Ein Beispiel: Die USA haben die Zugehörigkeit von Litauen, Lettland und Estland zur Sowjetunion nie anerkannt. Die Haltung der USA war: Wir erkennen die Zugehörigkeit der baltischen Staaten zu Moskau nicht an, nehmen aber das Faktische zur Kenntnis.
Eine Duldung des Status quo ohne offizielle Anerkennung – das wäre die Lösung für die Krim?
Nicht eins zu eins, aber in dieser Richtung. Wir müssen einen Weg finden, die Menschenrechte zu wahren und den Krieg in der Ukraine zu beenden. Als Maas Außenminister wurde, hat er als Erstes gesagt: Wir müssen härter zu Russland werden. Das war nicht klug.
Mit Rolf Mützenich hat die SPD nun einen Fraktionschef, der andere Töne anschlägt. Er will alle Atomwaffen aus Deutschland verbannen …
… Heiko Maas nicht. Es wird interessant, wer sich in der SPD bis 2021 durchsetzt.
Aber wenn Deutschland auf die atomaren Teilhabe verzichtet, könnte Polen diese vakante Position erben – was die Spannungen zwischen Moskau und Warschau verschärfen kann. Ist das verantwortbar?
Wir steigen aus der Atomenergie aus, Frankreich baut neue AKWs. Hätten wir uns deshalb von unserer Entscheidung abhalten lassen sollen? Ich glaube nicht. Deutschland sollte außenpolitisch wegen seiner Geschichte generell auf Diplomatie setzen und nicht den Weltpolizisten geben. Ich bin Mützenich dankbar, dass er diese Rolle auch ablehnt. Man kann in der Nato bleiben, auch ohne atomare Teilhabe.
Ist die Linkspartei nicht mehr gegen die Nato?
Ich bin nach wie vor für die Auflösung der Nato – aber nicht für den Austritt Deutschlands. Eine Nato ohne Berlin treibt dasselbe. Wir bräuchten ein neues Bündnis in Europa unter Einschluss von Russland, und natürlich auch Großbritanniens und Frankreichs.
Stefan Liebich, ihr Vorgänger, war ein Realo. Machen Sie den Job wie er?
Ich stehe ihm politisch näher als anderen. Aber ich spiele meine eigene Rolle. Liebich ist ja viel bescheidener als ich. Das unterscheidet uns schon mal. (lacht)
Liebich war Mitglied in der Atlantik-Brücke, einem elitären Club von Transatlantikern. Werden Sie jetzt dort Mitglied?
Nein.
Warum nicht?
Ich bin dafür nicht der richtige Mann. Ich bin zu bekannt. Deshalb würde es als Signal der Annäherung an die USA unter Trump missverstanden werden. Aber wir brauchen Kontakte. Es wird vielleicht jemand anderes dort Mitglied werden.
Sevim Dağdelen, die fordert, Europa müsse sich der US-Gefolgschaft verweigern?
Da hat sie doch recht. Sie wäre trotzdem und vielleicht sogar gerade deshalb sehr geeignet. Ich glaube aber nicht, dass ich sie überzeugen könnte.
Für ein Mitte-links-Bündnis sind Außen- und Militärpolitik die größten Hürden. Die SPD bewegt sich. Und die Linkspartei? Fordern Sie noch immer ultimativ den Rückzug aller Bundeswehrsoldaten aus dem Ausland?
Ich will den Abzug aller Bundeswehrsoldaten aus dem Ausland, weil Deutschland nicht Weltpolizist, sondern Weltvermittler sein soll. Das geht deutlich besser, wenn man international nicht militärisch aktiv ist.
Bei Auslandseinsätzen stimmt die Linksfraktion grundsätzlich mit Nein. Auch wenn es um UN-Missionen in Dafur mit drei Bundeswehrsoldaten geht. Ist dieses „Fundi-Nein“ klug?
Wir dürfen nicht vergessen, welche Rolle deutsche Armeen in der Geschichte gespielt haben. Die Bundesregierung versucht, mit solchen Einsätzen diese Rolle zu übermalen. Wenn es zu Verhandlungen über eine Regierungsbeteiligung kommen sollte, wird es schwierig. Wir wollen so schnell wie möglich raus aus Afghanistan – aber ohne das Leben derjenigen zu gefährden, die der Bundeswehr geholfen haben. Wichtig ist: Es darf keinesfalls neue Auslandseinsätze geben. Aber wir müssen auch kompromissfähig sein. Wer nicht kompromissfähig ist, ist nicht demokratiefähig. Aber die Richtung muss immer stimmen.
Ist die Linkspartei zu Kompromissen in der Lage?
Manche wollen nicht regieren und versuchen, Konflikte zu schüren. Aber ich glaube, dass die, die jetzt vehement gegen Regierungsbeteiligungen sind, ganz friedlich werden, wenn sie einbezogen sind. Die Mehrheit in der Linkspartei will doch, dass wir Ziele durchsetzen. Denn sonst werden wir irgendwann überflüssig. Nur ein Beispiel: Wir werden in einer Regierung kein Verbot von Rüstungsexporten bei SPD und Grünen durchsetzen. Wenn aber keine Waffen mehr an Diktaturen oder Länder, die Kriege führen, geliefert werden, wäre das ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Was wären zentrale Forderungen der Linkspartei für eine Mitte-links-Regierung?
Mehr Frieden, Steuergerechtigkeit, die Gleichstellung von Ost und West, ebenso von Frauen und Männern. Auch mehr Geld für Pflege. Das wird ohne staatliche Zuschüsse nicht gehen. Wenn wir das über Tarifverträge machen, bekommen wir unbezahlbare Pflegebeiträge. Also muss der Staat dafür sorgen, dass endlich anständig bezahlt wird. Da geht es nicht um fünf oder zehn Prozent mehr. Na, und noch vieles andere.
Bald beginnt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Was ist die Aufgabe Berlins?
Die EU war noch nie so gefährdet wie jetzt. Der nationale Egoismus breitet sich überall aus, nicht nur in Ungarn.
Was soll Deutschland tun?
Dafür sorgen, dass, wer keine Flüchtlinge aufnimmt, wie Ungarn, Polen oder Tschechien, weniger EU-Gelder bekommt. Wer sich die Integration von Flüchtlingen, die auch kostet, selbst spart, erhält weniger Zuschüsse. Dafür muss sich Deutschland einsetzen, auch wenn es sich damit bei einigen unbeliebt macht. Und Deutschland muss anerkennen, dass man keine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Schulden haben kann. Wenn wir beide zusammen ein Konto eröffnen, kann ich nicht sagen: Die Schulden sind deine, die Zinsen meine. Deutschland ist auch wegen des Euro wirtschaftlich so stark geworden. Das Erste ist außenpolitisch nicht besonders beliebt, das andere innenpolitisch nicht. Beides ist nötig. Sonst geht die EU kaputt.
Wollen Sie 2021 noch mal in den Bundestag?
Eigentlich stand für mich fest, dass ich aufhöre. Ich werde im nächsten Jahr 73.
Und jetzt?
Ich weiß es nicht. Ich finde, ich darf mit 73 Jahren mit Politik aufhören. Nur, wenn es wirklich in Richtung Regierungsbildung gehen sollte, ist das anders. Ich will nicht Minister werden. Aber der Prozess interessiert mich. Darüber denke ich nach. Nächstes Jahr können wir noch einmal darüber sprechen.
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