Pflege nach Corona: Der Exodus wird kommen
Wird es mit der Ökonomisierung sozialer Arbeit nach der Pandemie aufhören? Unser Autor – der auch Pfleger ist – hat wenig Hoffnung.
M üde bin ich, so müde. Und noch müder werde ich, wenn ich an die Zukunft denke. Was ich neben dem Schreiben außerdem bin: Pfleger in einer Wohneinrichtung und angehender Sozialarbeiter.
Ich erwarte täglich einen Krankheitsausbruch in meiner Einrichtung. Ich erwarte nicht, dass es weniger grauenhaft wird als in anderen Einrichtungen. Ich erwarte, Tote und Sterbende zu erleben. Ich hoffe, selbst ausreichend für Schutz gesorgt zu haben und – Glück zu haben.
Ich erwarte eine baldige Rezession und damit auch eine Beschneidung finanzieller Mittel im Sozialen. Damit einhergehend erwarte ich eine Verschärfung der Professionalisierungsdebatte.
Mehr Sozialdarwinismus
Soziale Arbeit soll effektiver und messbarer werden, das heißt mehr Bürokratie, mehr Hierarchie. Das wird zulasten der Menschen gehen, die Hilfe brauchen. Und diese Menschengruppe wird größer werden. Von den Sozialarbeiter:innen wird nur wenig Widerspruch kommen: An den Hochschulen wird das Professionalisierungsdogma schon seit Jahren gelehrt. Einige wenige im Sozialen werden sich politisieren und dann mangels Strukturen in der großen Normalisierungsmühle, die das Sozialwesen ist, aufgeraucht werden.
Ich erwarte schon für die nahe Zukunft einen Exodus der Mitarbeiter:innen, die in den Krisenzeiten am engagiertesten waren.
Insgesamt erwarte ich eine noch stärkere sozialdarwinistische Ausrichtung des Diskurses. Es wird sehr viel mehr über die Rettung des Wirtschaftssystems gesprochen als über die Rettung von Menschenleben. Die Infektionsrate auf unter 1 zu senken geschieht mit dem Ziel, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, über eine Ausrottung des Virus wie in Neuseeland wird nicht einmal nachgedacht. Eine Gesellschaft zu entwickeln, die die Menschen vor Ansteckung schützt, wird, wenn überhaupt, nur am Rande diskutiert. Dass auch bei einer Infektionsrate von 1 viele Menschen an dem Virus sterben werden, wird einfach hingenommen: wer stirbt, war ohnehin nicht zu retten, wird es heißen.
Die Krise der Solidarität
Ich erwarte, dass der bereits tief verankerte Fatalismus im Sozialen weiter um sich greift. Und ich erwarte, dass sich noch mehr Pflegende diesem Fatalismus entziehen, indem sie sich in eine unpolitische, obskurantistische Traumwelt von Verschwörungstheorien, Esoterik und rechtslastiger Propaganda flüchten.
Ich glaube nicht, dass es eine Covid-19-Krise gibt. Das, was wir jetzt erleben, zeigt die viel tiefer liegende Krise: nämlich dass Solidarität in dieser Gesellschaft kein Pfeiler ist. Sondern ein Luxus. Ich denke, wir werden überhaupt nicht mehr rauskommen aus dieser Krise, und ich erwarte, dass mir viele Menschen sagen werden: Kein Wunder, dass du so müde bist, bei so viel Pessimismus. Dabei wäre es sehr einfach: Je mehr Menschen sich Sorgen machen würden, desto weniger müsste ich mich sorgen.
Draußen scheint die Sonne, die Menschen wollen Lockerungen, und ich bin müde, sehr müde.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen