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Sprache in Corona-KriseDie überbenutzte „Systemrelevanz“

Zu Beginn der Krise war es wichtig: Das Etikett „systemrelevant“ für bestimmte Tätigkeiten. Aber es hat an Schärfe verloren. Wir brauchen ein neues.

Systemrelevant ist hier untertrieben: Corona-Intensivstation im Universitätsklinikum Dresden Foto: Sebastian Kahnert/dpa

In diese Suppe der Systemrelevanz möchte ich heute – aus sprachlicher Sicht – mal gehörig reinspucken. Die Aufwertung bestimmter Berufe mit dem Adjektiv „systemrelevant“ ist nämlich eine Illusion.

Zugegeben: eine Illusion, die wir gerne glauben möchten. Ihr Zauber beginnt jedoch bereits jetzt zu verfliegen, wie aktuelle Titelzeilen zeigen. „Ist Amazon jetzt systemrelevant?“ (ARD, 20. 4.). „Bundesweite Aktion: ‚Gebäude­reiniger sind systemrelevant‘“ (handwerksblatt, 16. 4.). „Freischaffende Künstler sind systemrelevant“ (Tagesspiegel, 16. 4.). „Corona-Krise: Elektrohandwerke sind systemrelevant“ (handwerksblatt, 31. 3.).

Um den Anwendungsbereich des Wortes ist geradezu ein semantischer Kampf ausgebrochen, wenn man solche Titelzeilen gegenüberstellt: „Corona: Bestatter werden systemrelevant“ (Sächsische Zeitung, 4. 4.) beziehungsweise „Bestatter sind ‚nicht systemrelevant‘“ (Nordwest-Zeitung, 13. 4.). Mittlerweile fühlen sich auch Buchhändler und Fensterreiniger systemrelevant. Und es stimmt, schaut man mit der System-Brille auf eine Gesellschaft, ist in der Tat so ziemlich alles und jeder relevant.

Denn „systemrelevant“ heißt, für ein System bedeutsam zu sein. Diese Definition ist so breit, sie gilt am Ende sogar für den Sprachkritiker in der taz, denn er gibt den Menschen ja Orientierung, damit sie nicht bösen Worten zuhören und Falsches weiterverbreiten. Will sagen: Das Wort „systemrelevant“ ist binnen kürzester Zeit inflationär geworden. Es hat seinen Anwendungsbereich so ausgedehnt und kann mittlerweile alles und nichts bedeuten.

Mehr als bloß systemrelevant

Damit verfliegt jedoch die Aufwertung der eingangs benannten Berufsgruppen völlig. Es war eine schöne Illusion.

Die Systemtheorie lehrt uns: Gesellschaften sind auch nur Systeme. Und sie vergisst manchmal: Gesellschaften bestehen aus Individuen. Wer wirklich an der Aufwertung von Menschen interessiert ist, die unserer Daseinsfürsorge dienen, dem sei ein anderes Framing empfohlen. Der Fortbestand einer Gemeinschaft als System hängt in erster Linie vom Überleben der Individuen ab.

Das heißt: Überlebenssicherheit kommt vor Systemrelevanz. Einige der betroffenen Berufe sind nämlich überlebenswichtig und nicht nur systemrelevant. Will man Berufe aufwerten, die uns am Leben halten, müssen wir erst mal begreifen: Leben sticht System und nicht andersherum.

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10 Kommentare

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  • Wenn man "existenziell" benutzt, bleibt von "systemrelevant" fast nix übrig.

  • "Systemrelevantes Überlebensgeschwurbel"

  • Ja, einige Tage lang hieß das sogar "systemkritisch". Kurz darauf mussten die Tafeln schliessen, natűrlich nicht deswegen. Die USA entwickelten sofort die viel sicherere drive-in-Tafel, Stichwort: űberlebenswichtig. Unsere Bedűrftigen haben leider selten Autos. Die aber wären systemrelevant.

  • "Systemrelevanz" ist ein gefährlicher Begriff. Aus allen erwähnten Gründen, und weil er zwingt, eine Ja-Nein-Antwort zu geben, bevor die Frage klar ist.

    Zu antworten, "alle sind relevant", heißt, auf die schwächste aller möglichen Fragen zu antworten.

    "Kurzfristig" für's "Überleben" "wichtig", ist da schon ein präziseres Kriterium.

    Wichtiger als "wichtig", wäre "notwendig". Überlebensnotwendig.

    In wieweit geht es dann um's nackte Überleben? Ab wann darf man sich darum sorgen, "in Würde zu überleben"?

    In der Zeit der Eindämmung hätte vielleicht noch viel mehr ausgesetzt werden können: Wenn nur noch "überlebensnotwendiges" geschieht, müsste eine ansonsten wohlhabende Gesellschaft doch eigentlich über eine erhebliche Zeit überlebensfähig sein, ohne dass ihr "System" nachhaltigen Schaden nimmt. "Winterschlaf" löst keine Wirtschaftskrise aus. Mietverpflichtungen ohne gleichzeitige Einnahmen allerdings tragen durchaus dazu bei, zum Beispiel. Wenn schon der technische Begriff des "shutdown" benutzt wird, könnte man sich ja wenigstens mal kurz fragen, warum mein Computer keine Krise bekommt, wenn ich ihn in "suspend" versetze und "wieder hochfahre". Technische Begriff entlehnt, aber nicht zuende gedacht?

    Aber gerade in der Zeit der allmählichen Lockerung brauchen wir jetzt darüber hinaus Worte, die weniger scharf sind, die das graduelle Urteilen fördern. Wenn auch öffentliche Tätigkeiten wieder erlaubt werden, die nicht überlebensnotwendig sind, kann man sich zum Beispiel fragen, ob ein Konzert "relevanter" ist als SUV-Produktion, etc. Und wenn man dann noch genauer sein will, fragt man sich vielleicht, wodurch "fördern" wir die verschiedenen Ebenen von "Gesundheit", eben auch seelische Gesundheit und soziale Gesundheit?

    Sprache kann soviel Hilfestellung geben, hilfreiche Fragen zu stellen, und dabei den Blick auf "wesentliches" lenken. Allein über den Begriff "wesentlich" könnte man lange staunen.

    Überlebensnotwendig ist der Anfang

  • "systemrelevant" wurde 2008 von Merkel ins Spiel gebracht, als wegen der Bankenrettung Stimmen lauter wurden, die sagten. "Lasst die Zocker doch absaufen, die haben den Mist verursacht, nun sollen sie ihn auch ausbaden. Das regelt der Markt, habt ihr uns immer vorgelogen". Für die Marktideologen eine gefährliche Situation, denn die staatliche Rettung ist bei ihnen einkalkuliert, andernfalls müssten sie viel verantwortlicher handeln. Merkels Botschaft war die beliebte TINA-Notbremse: "Können wir nicht, sonst geht ihr alle mit baden".

    "systemrelevant" ist eine Herrschaftsformel. Es schließt die Diskussion über Sinn/Irrsinn eines Systems aus und verleiht dem, der es benutzt, die vorgebliche Expertise und Deutungshoheit. Tarnt es aber als staatstragende fundierte Abwägung.

    Greifen wir eine Schublade tiefer, sind wir schon bei "unwertem" Leben. Das ist gar nicht so weit hergeholt, kürzlich ging es darum, dass über 60-jährige in Frankreich nicht mehr beatmetet werden.

    • @uvw:

      Volle Zustimmung zur Feststellung. Gut formuliert.

  • "Systemrelevanz" war noch nie scharf definiert. Sondern diente nur zur Etikettierung.

    Auch "Überlebenswichtig" ist nicht scharf definiert. Kurzfristig ist nur Nahrung, Dach überm Kopf und im Bedarf Gesundpflege wichtig. Aber Menschsein besteht aus mehr. Und dazu tragen plus minus alle bei.

    Wenn man das in Frage stellt, muss man den Begriff negieren: Systemirrelevanz. Was fällt darunter? Sollte es das für Personen geben, bzw. als Etikett genutzt werden, ist das das Ende von Humanität und Moral.

  • Überlebenswichtig