Sprache in Corona-Krise: Die überbenutzte „Systemrelevanz“
Zu Beginn der Krise war es wichtig: Das Etikett „systemrelevant“ für bestimmte Tätigkeiten. Aber es hat an Schärfe verloren. Wir brauchen ein neues.
In diese Suppe der Systemrelevanz möchte ich heute – aus sprachlicher Sicht – mal gehörig reinspucken. Die Aufwertung bestimmter Berufe mit dem Adjektiv „systemrelevant“ ist nämlich eine Illusion.
Zugegeben: eine Illusion, die wir gerne glauben möchten. Ihr Zauber beginnt jedoch bereits jetzt zu verfliegen, wie aktuelle Titelzeilen zeigen. „Ist Amazon jetzt systemrelevant?“ (ARD, 20. 4.). „Bundesweite Aktion: ‚Gebäudereiniger sind systemrelevant‘“ (handwerksblatt, 16. 4.). „Freischaffende Künstler sind systemrelevant“ (Tagesspiegel, 16. 4.). „Corona-Krise: Elektrohandwerke sind systemrelevant“ (handwerksblatt, 31. 3.).
Um den Anwendungsbereich des Wortes ist geradezu ein semantischer Kampf ausgebrochen, wenn man solche Titelzeilen gegenüberstellt: „Corona: Bestatter werden systemrelevant“ (Sächsische Zeitung, 4. 4.) beziehungsweise „Bestatter sind ‚nicht systemrelevant‘“ (Nordwest-Zeitung, 13. 4.). Mittlerweile fühlen sich auch Buchhändler und Fensterreiniger systemrelevant. Und es stimmt, schaut man mit der System-Brille auf eine Gesellschaft, ist in der Tat so ziemlich alles und jeder relevant.
Denn „systemrelevant“ heißt, für ein System bedeutsam zu sein. Diese Definition ist so breit, sie gilt am Ende sogar für den Sprachkritiker in der taz, denn er gibt den Menschen ja Orientierung, damit sie nicht bösen Worten zuhören und Falsches weiterverbreiten. Will sagen: Das Wort „systemrelevant“ ist binnen kürzester Zeit inflationär geworden. Es hat seinen Anwendungsbereich so ausgedehnt und kann mittlerweile alles und nichts bedeuten.
Mehr als bloß systemrelevant
Damit verfliegt jedoch die Aufwertung der eingangs benannten Berufsgruppen völlig. Es war eine schöne Illusion.
Die Systemtheorie lehrt uns: Gesellschaften sind auch nur Systeme. Und sie vergisst manchmal: Gesellschaften bestehen aus Individuen. Wer wirklich an der Aufwertung von Menschen interessiert ist, die unserer Daseinsfürsorge dienen, dem sei ein anderes Framing empfohlen. Der Fortbestand einer Gemeinschaft als System hängt in erster Linie vom Überleben der Individuen ab.
Das heißt: Überlebenssicherheit kommt vor Systemrelevanz. Einige der betroffenen Berufe sind nämlich überlebenswichtig und nicht nur systemrelevant. Will man Berufe aufwerten, die uns am Leben halten, müssen wir erst mal begreifen: Leben sticht System und nicht andersherum.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen
Umgang mit Trauer
Deutschland, warum weinst du nicht?
Orbán und Schröder in Wien
Gäste zum Gruseln
Nahost-Konflikt vor US-Wahl
„Netanjahu wartet ab“
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Rechtsruck in den Niederlanden
„Wilders drückt der Regierung spürbar seinen Stempel auf“