Homeoffice-Rechte für Arbeitende: Arbeitnehmer allein zu Haus
Arbeitsminister Heil möchte ein Recht auf Homeoffice gesetzlich verankern. Das könnte auf Kosten der Freizeit von Angestellten gehen.
Das klingt für die zeitgenössische Sozialdemokratie ungewohnt proaktiv und selbstbewusst. Ja, zunächst klingt das auch so, als würde Heil mit seinem Vorstoß irgendwie an alte Zeiten anknüpfen wollen, Arbeitnehmer*innenrechte und so. Die Zahl der Arbeitnehmer*innen im Homeoffice sei in der Coronakrise „ersten vorsichtigen Schätzungen zufolge“ von 12 auf 25 Prozent gestiegen, so Heil, der Arbeitsminister, der in diesem krisenbedingten Trend vielleicht eine Chance für die endgültige Emanzipation der Arbeitnehmer*innen von der Arbeitgeber*innen-Gewalt wittert.
Ja, was wäre das für eine schöne Freiheit, wenn nach Corona einfach alles so bliebe wie währenddessen: täglich ein bisschen mehr Schlaf, da kein Arbeitsweg, keine nervigen Staus, vielleicht ein Hemd für die morgendliche Videokonferenz, aber dafür keinen Zwang zu adretter Hose, frühstücken und konferieren zur gleichen Zeit und so weiter. So gesehen klingt Heils „Recht auf Homeoffice“ nach so etwas wie dem Achtstundentag des 21. Jahrhunderts.
Schön wär’s, aber Heils Formulierung trügt. Denn im Homeoffice wird aus „Recht“ schnell mal Pflicht, manchmal sogar Zwang, auch wenn die oder der Vorgesetzte nicht im selben Haus sitzt: In der heutigen Arbeitswelt ist man sich selbst oft der härteste Chef; vor allem wenn Lohnarbeit zunehmend im privaten Bereich, also zu Hause abgeleistet wird.
Entgrenzte Welt
Denn wenn sich Lohnarbeit und Freizeit zunehmend vermischen, dann findet diese Vermischung tendenziell zugunsten der Arbeit statt: Was ist schon dabei, gerade mal noch eine Mail vor dem Schlafengehen zu beantworten? Außerdem: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen! Diese Entwicklung ist nicht neu, die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt spätestens, seit sich Arbeitswelten digitalisieren.
Corona und Heils Vorstoß scheinen der ohnehin bedrängten menschlichen Freizeit nun aber den letzten Stoß zu geben – auch wenn der Arbeitsminister sagt, er wolle mit fairen „Regeln“ verhindern, „dass sich die Arbeit zu sehr ins Private frisst“ (wer kontrolliert wie, dass das nicht passiert?) und es auch im Homeoffice einen Feierabend gebe – „und zwar nicht erst um 22 Uhr“ (aber 21 Uhr?).
Aus Arbeitnehmersicht ist dieser Kritikpunkt am Homeoffice vielleicht der wesentlichste, würde eine nachhaltige und dauerhafte räumliche Zusammenführung von Arbeit und Freizeit den Alltag doch grundsätzlich verändern. Aber er ist nicht der einzige: Was ist mit berufstätigen Menschen mit Kindern?
Was ist mit der physischen, unmittelbar sozialen Interaktion, die keine Videokonferenz ersetzen kann? Was ist mit eigentlich gemeinschaftlichen Arbeitsprozessen, denen gegenüber ein allgemeines Homeoffice die Individualisierung weiter vorantriebe, und zwar nicht im Sinne persönlicher Freiheiten, sondern von Vereinzelung?
Flexibilisierung der Arbeit ist kein neutraler Prozess, sondern spielt sich, wie so viele vermeintlich technische Fragen der Arbeitsorganisation, im Spannungsfeld zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen ab. Das zeigen auch die Reaktionen auf Heils Vorschlag: Der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft hat ihn bereits abgelehnt (wegen steigender Arbeitskosten und zusätzlicher Bürokratie), die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ist auch nicht angetan (wegen „Vorgaben, die Wachstum und Flexibilität beschränken“). Die Gewerkschaft Verdi hingegen zeigte sich (unter bestimmten Bedingungen jedenfalls) offen.
Profitpotenzial erkannt
Andere haben indes längst das profitmaximierende Potenzial der Totalisierung von Lohnarbeit angesichts der Coronakrise verstanden. Im Spiegel forderte Dieter Spath, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, Arbeit auch auf das Wochenende auszudehnen. So könnten Arbeitszeit entzerrt und Kontakte verringert werden. Und der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP, Johannes Vogel („Lasst den Markt in Frieden!“), fordert gleich eine entsprechende „Modernisierung“ des Arbeitszeitgesetzes. Erst vor wenigen Wochen hatte Arbeitsminister Heil eine Verfügung unterschrieben, die es erlaubt, die tägliche Arbeitszeit in bestimmten Branchen temporär auf 12 Stunden auszudehnen.
Die Krise zeige doch, so wird der FDP-Politiker Vogel im Handelsblatt zitiert, dass vieles gehe, was vorher angeblich nicht möglich war. Ob man diese Möglichkeiten als Chance begreift, hängt aber davon ab, auf welcher Seite man steht: auf der der Arbeitnehmer*in oder der der Chef*in.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Wahlkampfchancen der Grünen
Da geht noch was