Straßenumbenennung in Erfurt: Wege der kolonialen Aufarbeitung
AktivistInnen in Erfurt wollen einen Straßennamen ändern, der einen Sklavenhändler ehrt. Gegenprotest und Corona erschweren das Vorhaben.
Grund: Ihr Namensgeber war maßgeblich am Handel mit versklavten Menschen beteiligt und ein Unterstützer des deutschen Kolonialismus. Laut einem Gutachten von Wissenschaftler*innen der Universität Erfurt und der TU Braunschweig zu Joachim Nettelbecks Wirken war er „an einem verbrecherischen Unrechtsregime, das die deutsche Geschichte geprägt hat, […] als Seemann und Lobbyist direkt beteiligt, für ein weiteres, den NS, diente er als Anknüpfungspunkt.“
Daher fordern die beiden Initiativen nun eine Umbenennung. Die Uferstraße soll künftig nach Gert Schramm benannt werden: einem afrodeutschen Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald, der am Nettelbeckufer in Erfurt geboren ist. Passend wäre auch der Anlass der Umbenennung: In diesem Jahr jährt sich die Befreiung Buchenwalds 2020 zum 75. Mal. Mirjam Elomda von der ISD Thüringen ist zuversichtlich: „Ich denke, die Chancen stehen gut, da schlicht die Notwendigkeit besteht, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen“. Erfurt könne ein Vorbild sein für weitere Kommunen bundesweit. Hat die Initiative Erfolg, wäre dies die erste zivilgesellschaftliche Initiative in Ostdeutschland, die einen kolonialen Straßennamen überwindet.
Dies kann ein wichtiges Zeichen sein – vor allem in Hinblick auf die vergangene Landtagswahl. Bei dieser stimmten rund 23 Prozent der Thüringer*innen für die AfD. Rund 900 Menschen haben bereits eine Petition der Initiativen unterschrieben. Wenn die Corona-Krise überstanden ist, wollen sie dem Oberbürgermeister den Antrag auf Umbenennung vorlegen. Erst dann kann im Erfurter Stadtrat darüber abgestimmt werden.
Alternative Wege gesucht
Angedacht war es ursprünglich anders. Die Aktivist*innen haben im Vorfeld an alle Anwohner*innen Einladungen zu einer Informationsveranstaltung verteilt. Diese wurde allerdings aufgrund der aktuellen Corona-Pandemie abgesagt. „Wir suchen nun nach alternativen Wegen, um in den Austausch mit Erfurter*innen, speziell den Bewohner*innen des Nettelbeckufers zu kommen“, sagt Jule Henschel, Aktivistin von „Decolonize Erfurt“.
Das Gespräch suchen, auf Anwohner*innen zugehen, das ist den Aktivist*innen wichtig. „Wir versuchen unsere Position aber weiterhin transparent zu kommunizieren und haben unsere Aktivitäten für eine Medienkampagne angepasst“, so Mirjam Elomda. Die Petition wurde im März veröffentlicht. Über die Facebook-Seite wird regelmäßig aus der Autobiografie Gert Schramms vorgelesen. Dass die Aktionen nicht wie gewohnt stattfinden können, ist auch für Jule Henschel ärgerlich, aber kein Grund zum Aufgeben: „Wir lassen uns nicht davon abhalten. Nicht in vier Wochen. Nicht in einem halben Jahr.“
Auf Fragen und Kommentare antwortet die Initiative sachlich, wird dadurch allerdings auch zum Hassobjekt. Im Netz empört sich die AfD-Stadtratsfraktion über das Vorhaben, Anwohner*innen und Erfurter*innen sind zwiegespalten. „Wir haben positive, negative sowie rassistisch motivierte Rückmeldungen bekommen“, berichtet Elomda.
Petition und Gegenpetition
Indes startete eine Anwohnerin eine Gegenpetition für die Beibehaltung des Straßennamens. Für deren Unterzeichner*innen ist die Umbenennung ein Angriff auf einen altbekannten Straßennamen, mit dem viele aufgewachsen sind – ein Einsatz aus eher nostalgischen Beweggründen.
Die Meinungen der Bewohner*innen des Nettelbeckufers bewegen sich zwischen den zwei Polen – Petition und Gegenaufruf. Das zeigt eine Telefonumfrage der taz.
Hans-Günter Evers wohnt seit 20 Jahren am Nettelbeckufer. Er ist strikt gegen eine Umbenennung. Für ihn sei die Forderung der Umbenennung aus „einer Laune heraus entstanden“. Man könne sich „nicht auf Einzelheiten festlegen, die zu der Zeit legal und weit verbreitet waren“. Eine Einstellung, mit der die Initiative oft konfrontiert wird. In diesem Zuge verweist Decolonize Erfurt auf den Kolonialismus, der keine Kleinigkeit, sondern „neben NS und SED-Regime das dritte staatgewordene Mega-Unrecht der deutschen Geschichte ist“, so in einem Statement der Initiative, auf den daraus resultierenden Rassismus, der immer noch tödliche Folgen nach sich zieht und auf eine demokratische Erinnerungskultur, der das Handeln Nettelbecks eindeutig entgegenstand.
Eine ältere Anwohnerin begrüßt das Gesprächsangebot der Initiativen, steht der Umbenennung allerdings noch kritisch gegenüber. Es wäre hilfreich, sich auch mit den anderen Hausbewohner*innen darüber auszutauschen, aber die aktuelle Situation mache das unmöglich. Insbesondere bei älteren Menschen, die keinen Internetzugriff haben, kommen die Gesprächsangebote der Initiative derzeit nicht an. Sie macht sich vor allem Sorgen um Kosten und andere Unannehmlichkeiten, die auf sie zukommen würden. Auch für Caroline Köllner-Holzheu, eine Zahnärztin am Nettelbeckufer, wäre eine Umbenennung mit Schwierigkeiten verbunden: “Sämtliche Praxisschilder, Visitenkarten und Briefpapier müssten auf meine Kosten und mit meinem Aufwand neu gedruckt werden.“
Dekolonialisierung als Prozess
Dabei haben die Initiativen bereits angekündigt, dass die Stadt den Bewohner*innen entgegenkommen könnte – Befürchtungen, die man eigentlich bei der Informationsveranstaltung aus dem Weg schaffen wollte. Sie versichern zwar, dass sie nachgeholt wird, wann ist allerdings fraglich – die aktuelle Situation macht es kompliziert.
Trotzdem zeigen viele Menschen am Nettelbeckufer Zustimmung: „In meinem persönlichen Bekanntenkreis in der Straße sind die Reaktionen eher positiv“, erzählt eine Anwohnerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung genannt haben möchte. Sie ist sich sicher, dass es auch an Anwohner*innen wie ihr liegen wird, wie der Prozess der Umbenennung aufgefasst wird. Für sie sei es eine Chance, für demokratische Werte und gegen Rassismus einzustehen: „Ich freue mich wirklich darauf, dass ich meinen Kindern an dem Beispiel werde zeigen können, dass eben nicht alles, was „schon immer“ so war, auch so bleiben muss und wir uns für gute Sachen entscheiden können.“
Die Straßenumbenennung ist Teil weiterer Forderungen von Decolonize Erfurt und der ISD, um die koloniale Vergangenheit im Erfurter Stadtbild aufzuarbeiten. Straßenumbenennungen seien hierfür ein wichtiges Werkzeug, bemerkt die ISD-Aktivistin und macht auf die Tragweite von Dekolonialisierungsinitiativen aufmerksam: „Dekolonialisierung betrachte ich als gesamtgesellschaftlichen Prozess“. Aus diesem Grund sind die Forderungen auch kein Thema, das ausschließlich die Bewohner*innen der Uferstraße betrifft. Schlussendlich entscheidet der Erfurter Stadtrat über eine Umbenennung – ein demokratischer Prozess, der fraktionsübergreifend entschieden wird.
Darüberhinaus verweist Mirjam Elomda auf die Solidarität in Zeiten der Pandemie, die auf dem Wissen um die Gleichheit aller Menschen beruhe. Daher lautet ihr Appell: „Diese Werte müssen wir auch in der gegenwärtigen Corona-Krise hochhalten.“
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