Reisen mit allen Sinnen: Bildersüchtige Touristen
Uns treibt die Sehnsucht nach dem neuen, nie geschauten Anblick. Doch längst verstopfen Lawinen von Augenmüll unsere Sinne.
Bildersüchtig sind wir Menschen, aber das ist kein Wunder. Schließlich gelten, wie die amerikanische Schriftstellerin Diane Ackerman in „Die schöne Macht der Sinne“ schreibt, die Augen als „die großen Monopolisten unserer Sinne“: Siebzig Prozent aller Sinnesrezeptoren des Körpers liegen in den Augen. Und mit gutem ReisenGrund wird von Journalisten erwartet, nicht nur eine besondere Nase für Geschichten mitzubringen, sondern auch „den Blick“, für das Allgemeine wie das Besondere.
Bildersüchtig aber sind vor allem wir Reisende. Uns treibt die Sehnsucht nach dem neuen, nie geschauten Anblick: Die Spitzen der Ötztaler Alpen, wie überzogen von flüssigem Rotgold. Ein toter Esel am Wegesrand in Montenegro, mit weiß bleckenden Rippen, an dessen spülwassergrauen und wachsgelben Eingeweiden die Geier zerren. Immer sind da Landschaften, die entziffert, Städte, die buchstabiert, Gesichter, die gelesen werden müssen. So viele Farben, die nach neuen Namen verlangen: Das Schwarz böhmischer Wälder – ähnelt es nicht dem Ton einer Dampflok? Hollands Weiten erstrecken sich in … in tiefstem Grüne-Tonne-Grün.
Und unvergesslich der Tag, als ich ein geglücktes Zornesrot erblicken durfte: Wie ein verschüttetes Glas Korrekturtinte breitete es sich auf den Wangen des cholerischen Bahnhofsvorstehers in Kiew aus. Bilder sind der Schatz, den wir nach Hause tragen, sie sind unser Reichtum – und eine Plage.
Denn Instagram & Co haben die Freude am Bild zur Bildersucht gesteigert. Doch die meisten Instagramer sehen nicht hin, sie sammeln bloß Beweise. Längst verstopfen Lawinen von Augenmüll unsere Sinne und richten unseren Blick nach fremden Maßstäben zu. Deshalb hüte ich mich vor einer Reise an ein unbekanntes Ziel, Filme oder Fotos dazu anzusehen. Man kann es sich erhalten, das Recht des jungfräulichen Blicks. Begeistert bin ich, wenn vorgeprägte Erwartungen düpiert werden und Regenschwaden gegen die besonnten Fassaden von Malaga jagen, oder Nebel den vor unserem inneren Auge stets blau glitzernden Bodensee verhüllt.
Auf Dauer erhalten aber bleiben im Kopf des Reisenden nur die Bilder, an denen er sich abgearbeitet hat. „Die Frauen in abgewetzten Wintermänteln halten dicke Büschel Bärlauch bereit, ein narbiger Rentner stellt eine Partie Schach auf und die füllige Dame mit den fleischfarbenen BHs im Angebot säbelt morgens um Zehn die ersten Kartoffelknödel klein“ – erst wenn die Worte dazu gefunden sind, ist das flüchtige Erleben gebannt. Und dieser Morgen auf dem Markt von Klaipeda bleibt eingebrannt in die Erinnerung.
Aber mal sehen, vielleicht blicken wir auf das Reisen ja bald mit ganz anderen Augen.
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