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Kampf gegen Wohnungsnot in São PauloEine verhaften, alle einschüchtern

Die brasilianische Aktivistin Preta Ferreira wird vom Staat verfolgt. Ihre Verhaftung dient als Warnung für alle, die für ihre Rechte kämpfen.

Die Geschichte von Ferreira ist die vieler in São Paulo Foto: Niklas Franzen

São Paulo taz | Ein Wummern reißt Preta Ferreira aus dem Schlaf. Als sie die Tür öffnet, guckt sie in den Lauf einer Pistole. Die Polizisten haben keinen Durchsuchungsbefehl, wollen wissen, wo die Drogen und das Geld versteckt sind. Auch Monate nach ihrer Festnahme bebt Ferreiras Kratzstimme, als sie so von dem Morgen im Juni 2019 erzählt, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hat.

Anfang November, Innenstadt von São Paulo. Zum Interview im Gebäude der Journalistengewerkschaft erscheint Ferreira verspätet, sie wirkt müde. Die 35-Jährige wird überwacht, darf keine sozialen Medien benutzen, traut sich nicht mehr allein auf die Straße. „Ich werde wie eine Schwerverbrecherin behandelt.“ Wie wurde aus der Aktivistin für die Rechte von Wohnungslosen eine Staatsfeindin?

Die Geschichte von Ferreira ist die vieler in São Paulo. Ein großer Teil der Bevölkerung stammt aus dem armen Nordosten, auch Ferreira kam mit 15 Jahren zusammen mit ihren sieben Geschwistern aus dem Bundesstaat ­Bahia in die größte Stadt Brasiliens.

Ihre Mutter war bereits für einige Jahre dort, lebte zwischenzeitlich auf der Straße und in Obdachlosenunterkünften. Anfang der 1990er Jahre lernte sie die Wohnungslosenbewegungen kennen und gründete bald selbst eine Gruppe: Movimento Sem Teto do Centro (Bewegung der Obdachlosen im Zentrum, MSTC). Seit dem Ende der Militärdiktatur Mitte der 1980er Jahre besetzen arme Vor­stadt­be­woh­ne­r*in­nen, Mi­gran­t*in­nen und Obdachlose Häuser. Derzeit sind es rund 100, in einigen besetzten Gebäuden leben mehr als 1.000 Be­woh­ne­r*in­nen.

Tausende Häuser stehen leer

Um zu verstehen, warum Menschen verfallene Hochhäuser, alte Kinos und leerstehende Bürogebäude besetzen, genügt ein Blick auf die himmelschreienden Ungleichheiten São Paulos. Während sich die Mittel- und Oberschicht in schwerbewachten Wohnanlagen in den zentralen Gegenden abschottet, umkreist die arme Peripherie São Paulo wie ein dichter Wald aus rotem Backstein und Wellblech.

Und obwohl Hunderttausende Familien keinen Wohnraum haben, stehen Tausende Häuser im Zentrum der Megametropole leer. Die Besetzungen klagen eine verfehlte Stadtpolitik an, gleichzeitig bieten die Häuser ganz real Tausenden armen Familien ein Dach über dem Kopf. „Wir besetzen, weil wir keine andere Wahl haben“, sagt Ferreira.

Die besetzten Häuser gehören mittlerweile zum Stadtbild wie die Verkehrsstaus und die vollgesprühten Wände. Fahnen und Transparente markieren die Gebäude schon von Weitem. Die Eingänge sind oft verbarrikadiert und werden rund um die Uhr von den Beset­zer*innen bewacht. Einlass erhält man nur mit Genehmigung.

Obwohl die Besetzungen durch die progressive Verfassung aus dem Jahr 1988 formal legal sind, sind die Wohnungslosen dem Staat ein Dorn im Auge. Die Verbindungen zwischen Justiz, In­ves­to­r*in­nen und Im­mo­bi­li­en­spe­ku­lan­t*in­nen sind ein offenes Geheimnis. Oft kommt es zu gewaltsamen Räumungen. Auch Ferreira und ihre Mutter wurden mehrmals auf die Straße gesetzt.

Freiräume in der Stadt

Ferreira fing früh an zu arbeiten und finanzierte sich so ein Studium. Nebenbei organisierte sie Kulturveranstaltungen, begann sich als Sängerin und Schauspielerin einen Namen zu machen und half ihrer Mutter bei der Koordination der Bewegung. Mitte der 1990er Jahre besetzte die Familie zusammen mit rund 500 Menschen ein ehemaliges Luxusgebäude an einer stark befahrenen Verkehrsader: die sogenannte Besetzung „9. Juli“.

Heute ist das 14-stöckige Haus eine der wichtigsten Freiräume in der Stadt, regelmäßig finden dort Kulturveranstaltungen und Konzerte statt. Rund 500 Menschen leben im „9. Juli“. Ferreira wohnt mittlerweile woanders. „Ich will niemand den Platz wegnehmen“, meint sie.

Mit dem Leben in einem besetzten Haus verbindet Ferreira vor allem die Gemeinschaft. „Wenn wir etwas brauchten, haben wir beim Nachbar geklopft, Streits wurden gemeinsam gelöst und sonntags wurde immer zusammen mit allen gegessen. So was gibt es heute sonst kaum noch irgendwo.“ Vor allem habe sie durch die Besetzung aber gelernt, was es heißt, Rechte zu haben. Doch das Leben sei hart gewesen, die Angst vor der Räumung war ein ständiger Begleiter, viele An­woh­ne­r*in­nen verachteten ihre armen Nach­ba­r*in­nen.

Das von der MSTC besetzte Brazilian Palace Hotel im Zentrum von São Paulo Foto: reuters

Zusammen mit ihrem Bruder und drei weiteren Angeklagten kam sie am 24. Juni in Haft. Wenn Ferreira über diese Zeit spricht, kämpft sie mit den Tränen. Als „Folter“ bezeichnet sie das, was sie in der Untersuchungshaft durchmachen musste. Sie habe kein Essen bekommen, in der Kälte auf dem Boden schlafen müssen, sei beleidigt und bedroht worden. Auch im Gefängnis wurde es nicht besser, sie musste ihr Essen mit Ratten teilen. Mit Kunst und Musik habe sie sich abgelenkt, viel mit den Mithäftlingen gesprochen. „Ich wusste nur eins: Ich darf nicht aufgeben.“ Am 10. Oktober urteilte ein Gericht, dass sie bis zum Prozessende vorläufig freikommt. 108 Tage saß Ferreira im Gefängnis.

Vorwurf der Erpressung

Die Anklage hat es in sich: Erpressung und Bildung einer kriminellen Organisation. Ferreira und die anderen Angeklagten sollen illegale Mieten in besetzten Häusern kassiert haben. Ferreira streitet nicht ab, faire – wie sie betont – Mieten genommen zu haben. Das Geld sei notwendig, um die besetzten Wohnungen in Stand zu halten, und dies sei so vom Kollektiv entschieden worden. Die Be­woh­ne­r*in­nen bekommen sogar Zahlungsbescheinigungen. „Welche Erpresserin stellt Rechnungen aus?“

Der Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung ist in den letzten Jahren häufiger erhoben worden. Einige Gruppen sollen auch in der Tat Verbindungen zu kriminellen Organisationen haben, andere sollen ihre Mitglieder schamlos ausbeuten.

Die MSTC stand allerdings niemals wegen illegaler Machenschaften im Fokus. Ferreira und die weiteren Angeklagten werden auch mit dem Einsturz des besetzten Hauses am Paissandu-Platz in Verbindung gebracht. Im Mai 2018 hatte ein 24-stöckiges besetztes Hochhaus in der Innenstadt Feuer gefangen und war danach eingestürzt. Mehrere Menschen starben, einige gelten immer noch als vermisst. Allerdings: Die MSTC hatte nichts mit dieser Besetzung zu tun. Die Justiz, so Ferreira, unterscheide nicht zwischen den Wohnungslosenbewegungen. „Für die sind alle Armen gleich.“

Die MSTC von Ferreira ist eine der bekanntesten Bewegungen in der Stadt. Bei der Architekturbiennale in Chicago wurde sie 2019 für ihre Arbeit ausgezeichnet. Und sogar rechte Po­li­ti­ke­r*in­nen lobten die Arbeit der MSTC.

Warnung an alle

Doch warum wurden gerade Ferreira und ihre Bewegung zum Ziel der Justiz? Sie sieht sich als Opfer einer politischen Kampagne. „Ich kam in Haft, weil ich für meine Rechte kämpfe.“ Die Justiz in Brasilien agiere zunehmend politisch. Auch gegen ihre Mutter war zuvor die gleiche Anklage erhoben worden, doch das Verfahren musste eingestellt werden. Ihre Zeit im Gefängnis sei eine Warnung an alle Wohnungslosen.

„Wir leben bereits in einer Diktatur“, sagt Ferreira. Mit „wir“ meint sie nicht alle Bra­si­lia­ne­r*in­nen – sondern die arme, Schwarze Bevölkerung. Der sogenannte Krieg gegen die Drogen hat ganze Stadtteile in Schlachtfelder verwandelt. „Was mit mir passiert ist, geschieht täglich mit Tausenden Schwarzen in Brasilien. Während ich frei bin, sind viele meiner Brüder und Schwestern weiterhin in Haft.“

Seit ihrer Festnahme kann Ferreira nicht mehr arbeiten, wird überwacht, ihr Telefon wird abgehört. Die Angst ist ihr ständiger Begleiter geworden. Angst davor, dass die Polizei ihr Drogen zusteckt. Angst, dass sie wieder verhaftet wird. Angst, dass ihr plötzlich etwas geschieht. „Ich bin frei, aber immer noch in Haft.“

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