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Wahlkampf in GroßbritannienTories auf Arbeiterstimmenfang

Dudley North ist ein Labour-Wahlkreis, den Boris Johnson gewinnen muss. Den früheren Labour-Abgeordneten hat er schon überzeugt. Wie kann das sein?

Kay Ellis in ihrer Imbissstube. Sie wählt liberaldemokratisch Foto: Daniel Zylbersztajn

Dudley taz | Das Stadtzentrum wirkt ausgelaugt. Wettbüros, Secondhandläden und „Cash Converter“ – Gebrauchtwarenhändler, die Bargeld für Gegenstände zahlen – reihen sich an leer stehende Geschäfte und Bürohäuser mit zerschlagenen Fenstern. Es gibt nicht einmal mal mehr Restaurants, sondern nur noch Fastfood. Am Abend tummeln sich Jugendgruppen, Betrunkene und Junkies neben den neu hergerichteten Marktständen.

Das ist Dudley, eine alte Industriestadt mit 80.000 Einwohnern im Herzen Englands, einst ein Zentrum des Kohlebergbaus und der Stahlindustrie und traditionell eine Labour-Hochburg. Wenn Boris Johnson die Wahlen gewinnen will, müssen die Konservativen in den Arbeitermilieus der „West Midlands“ Stimmen gewinnen und Wahlkreise wie Dudley North holen.

Wahlkampf in Großbritannien

Zu den Wahlen: Am 12. Dezember wählt das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland ein neues Parlament. Das Ergebnis wird über die Zukunft des Landes bestimmen: ob der Brexit vollzogen wird oder nicht, davon abhängig eventuell auch, ob der britische Gesamtstaat geeint bleibt oder nicht. Die taz begleitet den Wahlkampf mit einer lockeren Serie von Eindrücken aus unterschiedlichen Wahlkreisen und Milieus.

Über 71 Prozent stimmten hier beim Referendum 2016 für den Brexit. Bei den Wahlen 2017 schrumpfte die Labour-Mehrheit auf ganze 22 Stimmen. Der damalige Labour-Abgeordnete Ian Austin verließ vergangenes Jahr seine Partei, weil Parteichef Jeremy Corbyn sich mit „Extremisten und Antisemiten“ assoziiere, und ruft heute zur Wahl der Konservativen auf.

Deren Kandidat Marco Longhi, bisher Bürgermeister der Nachbarstadt Walsall, hat gute Chancen, da der Kandidat der Brexit Party von der Wahl zurückgetreten ist – die neue Labourkandidatin Melanie Dudley, eine ehemalige Stadträtin, muss sich aber nicht nur gegen die Konservativen behaupten, sondern auch gegen Grüne und Liberaldemokraten.

Jeremy Corbyn? Bloß nicht

Ladengehilfin Hazel Round, 70, und ihr Ehemann Ivor, 72, ein ehemaliger Bauarbeiter, beides Rentner und Labour-Stammwähler, wollen nicht mehr Labour wählen, solange Jeremy Corbyn im Amt ist. Sie bezeichnen im Gespräch auf dem Marktplatz den Labour-Chef als „Kommunisten, der angab, das Referendum zu respektieren, und dann in den Brexit-Abstimmungen die ganze Zeit gegen die Konservativen stimmte“.

Jono Holden in dem Brauerei Shop Foto: Daniel Zylbersztajn

Der Brexit müsse „die unkontrollierte Einwanderung beenden“, finden sie, denn „die nehmen Geringverdienern die Arbeit weg“. Außerdem verliere das Land seinen christlichen Charakter, behauptet Ivor. Dabei sind die Zuwanderer aus Osteuropa, über die er sich beschwert, nahezu ausschließlich Christen, oft religiöser als die EngländerInnen.

Aber selbst der 57-jährige Maschinenbauer Jack Chamber, Kind indischer MigrantInnen, der im Industriegebiet am Stadtrand mit einem Gabelstapler schwere Eisenteile in eine Schutthalde lädt, schwört, dass einige OsteuropäerInnen bloß gekommen seien, um hier von Sozialhilfe zu leben, denn anders als seine Eltern bräuchten sie als EU-Bürger keine Arbeitserlaubnis. Auch er will konservativ wählen.

„Es sind die Engländer, die nicht arbeiten“

Solche Stimmen sind typisch, aber Dudley ist politisch vielfältig, wie die gesamte Region. Kay Ellis, 52, Besitzerin eines Cafés im Industriepark, hat 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt, und „ich werde zum ersten Mal in meinem Leben für die Liberaldemokraten stimmen“, verkündet sie. Deren Politik – sie treten als einzige der großen Parteien klar für den EU-Verbleib ein – sei „klarer, rationeller und logischer“. Was andere über Einwanderer behaupten, sei Schwachsinn, denn „nebenan arbeiten Rumänen und Litauer hart“.

Infografik: infotext-berlin.de

Es gibt auch noch Labour-Wähler. Statt die Schuld auf Europa zu schieben, solle die Regierung lieber in Gegenden wie Dudley investieren, findet der 64-jährige Imbissverkäufer Ahmed Razak aus Lahore in Pakistan, seit 42 Jahren mit einer Engländerin verheiratet, wie er betont.

Für Labour will auch die 50-jährige Dope Dagban aus Togo stimmen, die einen Laden mit afrikanischen Lebensmitteln führt. „Meiner Meinung nach sind es die hiesigen Engländer, die nicht arbeiten und die von Sozialhilfe leben, nicht die Migranten“, sagt sie. Trotz einiger Rassisten sei Dudley ruhig, „ideal für meine drei Kinder“.

Dudley könnte mehr aus sich und seiner Stadtgeschichte machen, meint schließlich Jonathan Holden, dessen Familie seit 1915 die gleichnamige Bierbrauerei betreibt. Er spricht über die Sehenswürdigkeiten der Stadt, das Freilichtmuseum, die Burg­ruine auf dem Hügel, den Tierpark; über neue Biersorten und eigene Renovierungspläne. Aber dazu müsse die bisherige Unentschiedenheit zum Brexit endlich ein Ende haben.

„Boris“, sagt Holden und meint den Premierminister, „wird den Willen des Volkes umsetzen, die Sache erledigen und Stabilität bringen.“ Doch Brexit sei auch nicht ­alles. ­Genauso argumentieren im Wahlkampf die Konservativen.

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1 Kommentar

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  • Wäre schön die Behauptungen mit Zahlen überprüfbar zu machen, um die Ansichten zu konkretisieren.