Coming-Out im Alter: Herr Lehmann sucht die Liebe
Nach 32 Jahren Ehe mit einer Frau merkte Conrad Lehmann, dass er auf Männer steht. Für ihn beginnt eine Suche nach Liebe, die bis heute anhält.
Conrad Lehmann erzählt gerne von früher, und es klingt ein bisschen so, als sei die Vergangenheit ein süßer Kuchen und die Gegenwart nur dunkles Brot. Er sitzt in seinem Wohnzimmer im Wedding, einem Stadtteil Berlins. Draußen macht es der Wind den Menschen gerade ungemütlich, drinnen zupft Conrad Lehmann unsichtbare Fusseln von der weißen Decke auf der Couch im holzvertäfelten Wohnzimmer.
Bunte Kunstblumen, düstere Holzmasken, ausgestopfte Nagetiere zieren den kleinen Raum. Überall steht etwas herum. „Mein Reich“, nennt Lehmann seine Wohnung. Er verbringt viel Zeit hier. Neben der Couch brummt ein alter Computer, die Tastatur ist abgenutzt.
Der 70-Jährige könnte ein kräftiger Zwilling von Peter Lustig sein, ein wenig ernster blickt er drein. An den Wänden kleben Fotos, sie dokumentieren den gemeinsamen Weg mit seiner Frau. Als junges Paar, dann die Hochzeit, eine gemeinsame Tochter, ein Enkelkind. Daneben hängt ein Bild von einem jüngeren Mann. Es erzählt von Lehmanns neuem Leben. Nach 32 Jahren Ehe hatte Lehmann seine Frau verlassen, für einen Mann. Lehmann ist von Kreuzberg in den Wedding gezogen, in eine eigene Wohnung, die seine Tochter auch 18 Jahre später noch nie betreten hat.
Nicht weil Papa plötzlich Männer liebe, es habe sich einfach nie ergeben, so sagt es Lehmann. Er sagt auch, er liebe seine Frau noch immer. Aber das sei eine andere Liebe. Er suche bis heute nach den richtigen Worten, um das zu beschreiben. Ihn bei dieser Suche zu beobachten erzählt viel über das Liebesverständnis einer Generation, die in der Regel früh Partnerschaften einging und nur selten über ein anderes mögliches Leben nachdachte. Weil man es nicht wollte. Oder nicht konnte. Bis vor 17 Jahren führte Lehmann sein Leben, wie seinen Beruf. Streng nach Vorschrift. In Uniform.
Eine Nacht, die alles veränderte
„Ich erstickte manchmal fast an der Normalität“, sagt Lehmann. So sieht er das jedenfalls heute. Lehmann war erst Hilfssoldat der britischen Alliierten in Berlin, dann Pförtner bei einer großen Versicherung. Er liebte seine dunkelblaue Pförtneruniform. Heute ist er Rentner. Manchmal kauft er sich ein Pilotenhemd im Kaufhaus, das mit den Schlaufen auf den Schultern, darin fühle man sich wichtig, meint er.
Ein Abend mit Kollegen im Dezember 2001 ließ sein Leben aus den Fugen geraten. Danach war alles anders. Die große Welt ist da schon seit ein paar Wochen im Ausnahmezustand wegen des Terroranschlag auf das World Trade Center in den USA.
Lehmanns Jahre davor waren nicht einfach. Der Alkohol. Viel Alkohol. Das war vorbei. Von seiner Liebe zur Nacht allerdings kann er nicht lassen. Zu dritt sind sie an diesem Abend, drei Pförtner. Sie ziehen nach getaner Arbeit Richtung Hermannplatz in Berlin-Neukölln; sie sind aufgekratzt wie Teenager und landen in einer Schwulenbar, im „Ficken 3000“. Drinnen huschen dunkle Gestalten eine Kellertreppe hinunter. „Das war, als habe man uns in eine fremde Welt geworfen“, erinnert sich Lehmann.
Seinen Kollegen wird es im Ficken 3000 schnell zu bunt, Lehmann bleibt. Drei D-Mark hatte er für sein Wasser bezahlt, er wollte es austrinken. Es gefällt ihm unter Männern. Dass Lehmann Männer auch mehr mögen könnte, diesen leisen Gedanken hatte er schon vor dieser Nacht manchmal gehabt. „Aber ich konnte ihn damals nicht zulassen“, sagt er. Einen Kollegen mochte er besonders, mit ihm konnte Lehmann viel lachen. Sie planten ihre Schichten gemeinsam, tranken Bier nach getaner Arbeit. „Was Männer eben so tun“, sagt Lehmann.
Schwul, er? Nein
„Es gab Schwulsein in meiner Welt einfach nicht.“ Da war nur eine Sehnsucht, wonach, das konnte er damals nicht sagen. Dann stellt sich ein Mann neben ihn an die Bar. Hendrik, ein Ingenieur. Breite Schultern, tiefe Blicke. Lehmann mag, wie Hendrik spricht, wie er auswendig aus Büchern zitieren kann, Bücher, die Lehmann gar nicht kannte.
„Ich fühlte mich so klein neben ihm. Aber ich mochte dieses Gefühl.“ Sie unterhalten sich bestimmt drei Stunden, dann gehen sie zu Hendrik, er wohnt um die Ecke. Ein Kuss. Viele Küsse. Hendriks Hand streicht über Lehmanns Knie, er öffnet den Reißverschluss seiner Hose. Dann befriedigt er ihn mit dem Mund. Lehmann genießt, aber es fühlt sich fremd an. So erzählt er es heute. Danach will er sofort nach Hause.
Zurück zu seiner Frau. Als er sich neben sie legt, spät in der Nacht, kreisen die Gedanken in seinem Kopf: Es war doch nur Sex. Ist das überhaupt schon Sex? Das muss ja alles nichts bedeuten. Ein Abenteuer. Wild. Fremd. Schwul, er? Nein. Wirklich nicht. Noch immer konnte er sich diesen Gedanken nicht erlauben. Tucken, Tunten, Knickhände, so war es Conrad Lehmann gewohnt, Schwule zu beschreiben.
Als Jugendlicher spielte er mit Freunden „Schwulenklatschen“. Sie lauerten vor öffentlichen Toiletten und erschreckten die Männer, die sich darin vergnügten. Seine eigenen Erzählungen irritieren ihn schon lange nicht mehr, sagt er. Als sei über den Unfug von damals ein ganzes Leben gewachsen.
Die Liebe nicht länger verbergen
Conrad Lehmann ist ein Mensch, der sich über sich selbst ärgern könnte, aber sich dagegen entschieden hat. Soweit das eben geht. Ärgern kann er sich nur über schwulenfeindliche Äußerungen heute, nicht damals. Damals gehörte er noch nicht dazu.
Vor seiner Begegnung mit Hendrik kannte Lehmann keine Schwulen. Mit seinem Vater war er einmal im Theater. „Ein Käfig voller Narren“, hieß das Stück. Darin kann ein homosexuelles Paar seine Liebe nicht länger vor der Familie verbergen.
Lehmann mochte das Stück. „Ach du Scheiße“, sagte hingegen der Vater in der Pause. „Die stellen sich in Weiberkleidern auf die Bühne und werden auch noch beklatscht.“ Als der Vater auf die Toilette muss, bittet er Conrad dann vorsichtshalber doch mitzukommen. Lehmann kann das heute mit einem Schmunzeln erzählen. Der Vater ist tot, damit sei das Thema abgehakt, sagt er.
In der Welt von Conrad Lehmann hatten immer die Männer das Sagen. Die Lehmanns waren Zimmermänner, ein Familienbetrieb. Conrad hatte kein Talent fürs Handwerk, der Vater steckte ihn in einen Laden für Dekorationsartikel. Wurde er als Kind krank, fuhr seine Mutter mit ihm hoch auf den Berliner Fernsehturm, da war die Luft frischer. Urlaub machte man auf den Campingplätzen um Berlin. Er sei nie weit gereist, sagt Lehmann.
„Ich muss mich neu finden“
Er klingt nicht unzufrieden. Nur, wenn es um seine Frau geht, dann werden seine Töne leiser, zögerlicher. „Ich habe meine Frau mit meinem Lebenswandel schwer belastet.“ Dezember 2001, ein paar Tage nach der Nacht mit Hendrik. „Engelchen, pass mal auf, ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich muss mich neu finden“, sagt Lehmann zu seiner Frau.
Er will ausziehen. Die beiden Männer hatten sich wieder und wieder getroffen. Und Lehmann weiß, er wird immer wieder auf Hendriks Couch landen. Er will Abstand gewinnen, zu seiner Frau, zu sich. Sie fragt ihn, ob eine andere Frau dahinter steckt. Nein, antwortete Lehmann und ist froh, dass er nicht lügen musste. Jedenfalls nicht richtig.
„Ich wusste nur, ich möchte nicht nach meinem Freund riechen, wenn ich zu ihr ins Bett steige.“ Ab diesem Tag liegt ein Geheimnis zwischen den beiden, wenig später auch zwei Wohnungstüren und eine halbe Stunde Fahrt mit der Bahn.
Seine neue Freiheit kann er am Anfang nicht richtig genießen. Er ist zerrissen, ihn plagt das schlechte Gewissen. Sich selbst gefunden zu haben fühlt sich falsch an. Weil er gleichzeitig seine Welt, seine Frau, zu verlieren scheint. „Ich hatte meine Frau alleine gelassen.“ Seine Frau, die immer selbstlos für ihn da war. Auch in schweren Zeiten. Sie, die morgens mit Wut im Bauch aus dem Bett stieg, wenn er sich wieder mal betrunken und nachts durch die Wohnung gelärmt hatte und das Bett nicht fand.
Abschied von der alten Welt
Bis heute bewahrt Lehmann die Briefe von damals an seine Frau auf. Er führt ein Buch mit Lebenserinnerungen, darin erklärt er sich, jedenfalls hofft er das. „Du kannst mir glauben, auch ich bin innerlich zerrissen“, schreibt er an seine Frau, „ich weiß nicht, was los ist, wo ich hingehe, wer ich bin – ich habe eine echte Identitätskrise und ich habe ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich weiß, dass ich Dich durch mein Verhalten belaste.“ Er möchte seine Frau nicht verlieren.
Aber er kann nicht mehr mit ihr zusammen sein. Es vergeht ein Jahr in getrennten Wohnungen. Als Hendrik will, dass sich Lehmann scheiden lässt, antwortet er, dass er doch zu seiner Frau gehöre. „Wir sind zusammengewachsen.“ Es ist, als würde Lehmann in beiden Welten zu Hause sein wollen. Hendrik geht und kommt nie wieder.
Ein Jahr später, Heiligabend. Bevor die Familie zum Weihnachtsessen zusammenkommt, machen Lehmann und seine Frau einen langen Spaziergang durch das verschneite Berlin. Sie schweigen lange. „Mein Engelchen, ich weiß jetzt, was mit mir ist“, beginnt er, „Ich bin schwul, ich stehe auf Männer.
Das musste ich auch erst einmal verstehen. Aber jetzt weiß ich es.“ Sie schweigt. Dann fragt sie, was das nun für sie als Paar bedeute. Er sagt, dass er sich nicht scheiden lassen wolle. Weil er sie weiterhin liebe, aber eben nicht mehr begehre. Weil er sie brauche, aber eben nicht nur sie. Er will die Familie behalten und vergisst dabei zu fragen, was seine Frau eigentlich will. Das weiß Lehmann heute. „Sie sagte, sie sei glücklich, wenn ich glücklich bin.“
In guten wie in schlechten Zeiten?
Heute weiß er auch, dass seine Frau gelernt hat, dann zu weinen, wenn es niemand mitbekommt. In einem langen Gespräch bestätigt Lehmanns Ehefrau alle Schilderungen ihres Mannes. In dieser Geschichte möchte sie dennoch nicht namentlich auftauchen. Ihre Meinung zu alldem sei nicht wichtig, sagt sie. Die meisten ihrer Sätze beginnen mit „meine Wenigkeit“. Das Erzählen überlässt sie lieber ihm.
„Wir sind nicht getrennt, wir leben nur nicht zusammen“, sagt Conrad Lehmann. Er sagt es nicht ohne Stolz.
Heute sehen sich die beiden noch einmal wöchentlich. Dann trinken sie eine Tasse Kaffee und reden. Über das Wetter, die Nachrichten, ihre Tochter, aber wenig über sich. Sie sitzen auf der Couch in Lehmanns Wohnzimmer.
Sie drückt ein Kissen vor ihren Bauch. Er dreht an seinem Ehering. „Der passt wieder“, sagt Lehmann. Er hat ein paar Kilo abgenommen. Seine Frau blickt auf und nickt unbeholfen. Auf dem Papier ist ihre Ehe nicht zerbrochen, eine Scheidung kam für beide nicht in Frage, als gehöre das eben zu den Aufgaben, die eine Ehe meistern müsse. In guten wie in schlechten Zeiten.
Schein und Sein
Nur, dass Lehmanns Homosexualität nichts ist, woran man arbeiten kann. Nichts, das sich irgendwann erübrigen wird. Doch auch nach 18 Jahren gibt es immer noch Menschen in ihrem Umfeld, die von Lehmanns Lebenswandel nichts wissen. Nichts wissen sollen. Man wahrt den Schein. An sensiblen Daten, Weihnachten, Silvester, übernachten sie beieinander, erzählt Lehmann. „Für die Familie“.
Müsste Lehmann heute nicht glücklich sein, wo er zu sich selbst steht – anders als viele Jahre seines Lebens? Sein Coming-out wirkt auf junge Schwule manchmal wie stecken geblieben. Lehmann sieht das nicht so, er würde einfach am liebsten in beiden Welten leben – und ja, warum nicht? Viele männliche Bekanntschaften schauten ihn ratlos an, sagt er, wenn er immer wieder von seiner tiefen Liebe zu seiner Frau spricht.
Unter Schwulen gilt er bald als die Hete, die sich nicht von seinem alten Leben lösen kann. „Manchmal fühle ich mich, wie sich ein Deutschtürke fühlen muss: In keiner Welt zu Hause.“ Nach Hendrik kommen noch viele Männer in sein Leben. Die meisten suchen schnellen Sex.
Ein Abenteuer jagt das nächste. Besonders jüngere Männer stünden auf ihn, sagt Lehmann. Den Schmusebären mit dem grauen Vollbart. „Die sehen in mir einen Opa, einen Vaterersatz, an dem sie sich abreagieren können.“ Meistens gefalle ihm dieses Spiel. Auch wenn er manchmal mit mehreren Männern ins Bett steigt, geht er doch jedes Mal alleine nach Hause. Ihm fehlt eine echte Beziehung, sagt er. Wie mit seiner Frau.
Sich zugehörig fühlen, ohne dazuzugehören
Die Berliner Schwulenszene kommt ihm grell und laut vor. Lehmann ist nicht grell und laut. „Viele hier suchen nur den unverbindlichen Sex. Sie flattern von einem zum nächsten. Dann hauen sie ab, bevor es wehtun könnte.“
Manchmal denkt Lehmann, das Alleinsein, das könnte der Preis dafür sein, dass er sich selbst finden durfte. Doch je älter er wird, umso schwerer fällt es ihm, das zu akzeptieren. Es fühle sich für ihn an wie eine Reise in Dauerschleife.
Conrad Lehmann sucht einen Mann, mit dem es ist, wie es mit seiner Frau mal war. Eine Beziehung, in der er alt werden kann. In der man sich umeinander kümmert. Er sucht Nähe; was er findet, ist Sex. Dabei gab es durchaus Männer, die er wieder und wieder getroffen hat. Mit Hans-Peter hätte es was werden können. Ein gedrungener, unauffälliger Mann. „Eine graue Maus“, sagt Lehmann.
Als er ihn zum ersten Mal sieht, weiß Lehmann, ihn wird er so schnell nicht los. Hans-Peter bleibt fünf Jahre. Lehmann stellt ihn auch seiner Frau vor. Beim Verabschieden flüstert sie ihm ins Ohr, Hans-Peter könnte ihr auch gefallen. Lehmann hört das so gerne.
Suchen nach Liebe
„Hans-Peter war wie eine Blüte, ganz unscheinbar, solange sie geschlossen ist. Wenn sie aufblüht, dann stehst du da und sagst wow.“ Hans-Peter sei anders gewesen als die oberflächlichen Bekanntschaften im Club. Er wollte viel sprechen, liebte die Oper und gutes Essen. Und Lehmann liebte, was Hans-Peter liebte. Sie streiten kaum, wenn doch, dann ging es immer um Geld. Hans-Peter verdiente viel. Abend für Abend zahlt er die Rechnungen.
In Lehmann reift das Gefühl, dass er Hans-Peter etwas schuldig sei. „Da war oft das Gefühl, dass ich das zu Hause abarbeiten müsste.“ Er spricht diesen Gedanken aus, Hans-Peter verlässt gekränkt und wortlos die Wohnung. So erzählt es zumindest Lehmann. Es ist, als hätte er einen Satz in die Welt entlassen, den man nie wieder zurückholen kann.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Lehmanns restliche Sachen kommen mit der Post. Hans-Peters Bild hängt bis heute an der Wand in Lehmanns Wohnzimmer. Seit vier Jahren ist Lehmann alleine. Er sitzt oft in seinem Wohnzimmer, surft im Internet, sucht Kontakt. Manchmal flattert noch ein Mann vorbei. Keiner bleibt. In seinem Tagebuch kreisen wieder die Gedanken. „Ich weiß immer noch nicht, wer ich bin. Ich suche mich weiterhin. Was ist, wenn ich mich kenne? Wenn ich weiß, wer ich bin? Was fange ich dann damit an?“, schreibt er.
„Man mag mir in Liebe verbunden sein, jeder auf seine Art, dann wäre mein Leben reich – und nicht vergebens.“ Darunter klebt ein Bild von seiner Frau. „Wir beide können uns aufeinander verlassen, sind gemeinsam durch ein Leben gegangen.“
Wenn Lehmann und seine Frau sich abends nach ihrem Treffen voneinander verabschieden, dann küssen sie sich. Flüchtig.
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