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Kommentar DGB-Demo am 1. MaiWeniger Bratwurst, bitte

Anna Lehmann
Kommentar von Anna Lehmann

Die offizielle DGB-Demo am 1. Mai wird immer mehr zur Nebensache. Um Menschen zu erreichen, muss auch über den Tellerrand geschaut werden.

Das allein reicht nicht Foto: photocase/Flügelwesen

E s gibt keine offizielle Teilnehmerstatistik der 1.-Mai-Kundgebungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, aber ein Archiv der Pressemitteilungen. In diesem Jahr meldete der DGB 381.500 TeilnehmerInnen bei seinen Veranstaltungen deutschlandweit. Zur zentralen Kundgebung in Leipzig kamen 1.500 Menschen. Anfang der 2000er schätzte man die Zahl der DemonstrantInnen noch auf etwa eine halbe Million. Zur zentralen Kundgebung in Hannover sollen 25.000 Menschen gekommen sein.

All diese Zahlen mögen geschönt sein, aber die Tendenz ist klar: Die offizielle DGB-Großkundgebung am 1. Mai wird immer mehr zur Nebensache.

Das muss einem erst mal nicht leid tun, besonders wenn man keine Bratwurst mag. Es gibt viele andere Demos, die man am 1. Mai besuchen kann. Im Berliner Grunewald versuchen Aktivisten auf satirische Art mit VillenbesitzerInnen ins Gespräch zu kommen, am besten bei einem Wein in deren Salon. Das Kreuzberger Myfest lebt von seiner wilden Mischung aus Bands, Besuchern und Gerichten. Ergo: So divers wie die Gesellschaft sind auch die Maifeiern geworden.

Leider spiegelt sich die Diversifizierung auch an anderer Stelle wieder: auf dem Arbeitsmarkt. Die Tarifbindung sinkt seit Jahren, nur noch für 57 Prozent der Beschäftigten im Westen und 44 Prozent im Osten gelten Tarifverträge. Im Gegenzug ist der Anteil der atypischen und prekären Arbeitsverhältnisse gestiegen – mit oft schlechten Bedingungen und geringen Gehältern. Diese Menschen zu organisieren, wäre eigentlich Aufgabe der Gewerkschaften. Aber dazu braucht es mehr als die platte Forderung nach stärkerer Tarifbindung. Die Solo-Selbstständige im Coworking Space, die ihre Arbeit auf Honorarbasis abrechnet, oder der Paketbote, der beim Subunternehmer im Akkord schuftet, können darüber nur die Köpfe schütteln.

Um die Menschen, die sich nicht (mehr) im DGB-Orbit bewegen, zu erreichen, tut es Not, über den (Bratwurst)-Tellerrand von Tarifbindung und Mindestlohn zu schauen. Und auch nach neuen Partnern Ausschau zu halten. Kämpfe wie die für bezahlbare Mieten, gegen rechts, aber auch für gute Arbeit gewinnt man nur auf breiter Basis. Das gilt nicht nur für den DGB.

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Anna Lehmann
Leiterin Parlamentsbüro
Schwerpunkte SPD und Kanzleramt sowie Innenpolitik und Bildung. Leitete bis Februar 2022 gemeinschaftlich das Inlandsressort der taz und kümmerte sich um die Linkspartei. "Zur Elite bitte hier entlang: Kaderschmieden und Eliteschulen von heute" erschien 2016.
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29 Kommentare

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  • Was haben diese Trillerpfeifenkonzerte von Studenten und Rentnern denn für Arbeiter wie mich zu bieten? Die einzigen Arbeiter auf diesen Veranstaltungen sind wohl die Polizisten, die das Ganze absichern müssen.

  • Die Gewerkschaften haben ihren Ruf mit Neue Heimat, den diversen VW-Skandalen, dem "sale & lease back" der eigenen Gebäude bis hin zu innergewerkschaftlichen Durchstechereien versaut. Dazu kommt, dass sie sich sehr lange nur um die Wohlstandswahrung der in Arbeit befindlichen Mitglieder gekümmert haben und dadurch viele langjährige Mitglieder an die Arbeitslosigkeit verloren haben. Und in den letzten Jahren sind die Gewerkschaften doch nur noch als Besitzstandswahrer von Kern- und Kohlekraftwerken zu hören gewesen oder wenn ein Betriebsrat eines Automobilunternehmens mit einem Organisationsgrad von fast 100% behauptet, niemals nie etwas von Betrug und Betrugssoftware gehört zu haben.



    Und für neue Arbeitsverhältnisse, wie den Programmierer in einem x-beliebigen Start-up, haben die Gewerkschaften keine Angebote, weil der mit den starren Vorgaben, die in den 50igern und 60igern für den Fabrikarbeiter geschaffen wurden, nichts anfangen kann.

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    In jungen Jahren war ich von der Idee gewerkschaftlicher Organisisierung überzeugt. Dann lernte ich die gewerkschaftliche Praxis kennen. Ab den frühen 1990ern Alo-Gruppen, die gewerkschaftlich organisiert waren. Von Marburg bis Frankfurt. Ein einziges Trauerstück. Die Gewerkschaften als Organisation haben sich eindrucksvoll entlarvt als Besitzstandssicherer ihrer Mitglieder. Wer arbeitlos geworden war, war in den Allerwertesten gekniffen.

    Auch wenn davon einzelne, sehr engagierte Gwerkschaftmitglieder ausgenommen waren: der mainstream war erbärmlich. Solidarität eine leere Floskel.

  • Zum Hintergrund des 1. Mais:



    "Am 1. Mai 1886 begann in Chicago (Illinois, Vereinigte Staaten) ein mehrtägiger, von den Gewerkschaften organisierter Streik, um eine Reduzierung der täglichen Arbeitszeit von zwölf auf acht Stunden durchzusetzen. Die mit diesem und den darauf folgenden Tagen verbundenen Ereignisse werden als Haymarket Riot, Haymarket Affair und Haymarket Massacre bezeichnet und begründeten die Tradition der internationalen Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften, den 1. Mai zum Kampftag der Arbeiterklasse zu erklären..."



    de.wikipedia.org/wiki/Haymarket_Riot

    • 9G
      95692 (Profil gelöscht)
      @Uranus:

      siehe auch

      Karasek, Horst (Hg.): „Haymarket. Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1973



      oder:



      www.anarchismus.at...hte-des-ersten-mai

  • In Ihrem 1. Absatz geben Sie sich selbst eine gute Antwort. Wenn in Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten etwas gut war, dann die Gewerkschaftsarbeit und das, wa sie durchgesetzt hat. Dem Arbeiter in Deutschland geht es mit Masse gut bis sehr gut. Deswegen kommt auch kaum jemand zu diesen Klassenkampf- und Trillerpfeiffenveranstaltungen von Studenten und Rentnern.

    • @Kevin Dude:

      Duuude, vielleicht hätten Sie mal bis zu den letzten Absätzen fertig lesen sollen. Aber hey - nice, dass es den Arbeitern in Ihrer Blase so gut geht. Schöne Grüße aus dem Unidozenten-Totalprekariat!

    • @Kevin Dude:

      Der erste Teil deiner Behauptung könnte auch ein guter, ironischer Witz sein.

      • @Hampelstielz:

        Nö. Beschäftigen Sie sich einmal mit den Arbeitsbedingungen von Menschen im ERA Tarif. Das ist jammern auf aller aller höchstem Niveau.

  • Ist das eigentlich ein Problem, das auch in Ländern besteht, in denen keine Einheitsgewerkschaft wie hier besteht?

    In Frankreich haben sich ja nun einige Gewerkschaften auch mit den Gelbwesten und sogar mit den mitdemonstrierenden schwarzen Block solidarisiert ( www.taz.de/Gewerks...in-Paris/!5591919/ ). Solche Gewerkschaften wären mir auch viel sympathischer. Meine verdi-Mitgliedschaft habe ich irgendwann mal in einer Phase, als ich nicht arbeiten wollte und dann auch noch umzog, verloren. Wenn, dann würde ich heute vielleicht in die FAU gehen, aber hier sind Alternativen zum DGB immer noch die Ausnahme oder maximal rechts vom DGB zu finden (wie Beamtenbund etc.).

  • 7G
    74450 (Profil gelöscht)

    Demos, bei denen Bratwurst gegessen wird, können sich nicht wirklich gegen Ausbeutung einsetzen. Das ist eine Farce, lieber DGB. ;)

    • @74450 (Profil gelöscht):

      Genau, Schmalzbrote tuns auch

  • "Diese Menschen zu organisieren, wäre eigentlich Aufgabe der Gewerkschaften." (A. Lehmann)



    Entweder man organisiert sich, dann ist man organisiert. Oder man läßt es bleiben und gibt in seiner Schein-Selbständigkeit weiterhin den Lonesome Cowboy der sich irgendwie durchwurstelt. Sich zu solidarisieren ist die persönliche Aufgabe jedes Einzelnen und nicht einer Institution.



    So einfach wäre das - zumindest wenn man nicht dazu neigt sich von ner albernen Bratwurst vom Wesentlichen abbringen zu lassen.

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @LittleRedRooster:

      Das nenne ich mal einen sauberen Grundwiderspruch.

      Solidarisierung ist wie jeder Kontakt und jede Beziehung eine Frage von Zweiseitigkeit. Zweiseitigkeit bedeutet, beide Seiten bemühen sich um Übereinstimmung. Auch durch Kompromisse.

      • @76530 (Profil gelöscht):

        "Das nenne ich mal einen sauberen Grundwiderspruch." (W. Leiberg)



        Sorry, aber die Frage ob Bratwurst oder nicht, ist doch wohl eher eine Geschmacksfrage. Und diese ist durch simple Toleranz anderer Geschmäcker simpel lösbar.



        Solidarität im Sinne der Arbeiterbewegung dagegen ist die grundsätzliche Lebenseinstellung sich als Gleicher in einer Gemeinschaft von Gleichen zu begreifen und zu handeln. Und aus meinem Erleben haben da Selbständige und Schein-Selbständige schon echte Probleme mit solchem Denken, widerspricht es doch mitunter deren oft sehr individualistischen Selbstbild. In der Regel lehnen sie es deshalb ja auch ab sich zu organisieren.

  • Die seit Jahrzehnten schlecht geführten Tarifverhandlungen, die Verstrickung der Gewerkschaftsfunktionäre mit den Interessen der Arbeitgeberschaft, das blinde Lob der Arbeit als Selbstzweck machen die Gewerkschaften nicht gerade attraktiv. Es ist zwar besser mit, als ohne, aber das Desinteresse am Gewerkschaftwesen hat Hintergründe, für welche die Gewerkschaften verantwortlich sind.

    • @Hampelstielz:

      ein weiteres Problem ist der Mitgliedsbeitrag... ab einem Gewissen Gehalt werden die Summen wegen der fixen prozentualen Definition einfach unverhältnismäßig hoch. oder sagen wir es anders. Rechne ich den jährlichen Mitgliedsbeitrag gegen die Lohnzuwächse durch den tariflichen Anteil des Lohnes gegeneinander auf, bräuchte ich selbst für den Beitrag eines Jahres vielleicht 10 Jahre um das wieder rein zu holen. Wenn also die Gewerkschaft mehr kostet als sie bringt, dann macht es keinen Sinn die Gewerkschaft zu finanzieren.

  • Weniger wurschteln würde in der Tat nicht nur den Gewerkschaften, sondern auch der Politik allgemein gut tun...

  • Gut gebrüllt, Löwin!



    Haben Sie sich die Arbeit des DGB mal etwas angeschaut? Also nicht gleich ernsthafte Recherche, so bis in einen Kreisverband hinein, aber vielleicht etwas mehr als nur simple Bratwurstrhetorik?



    Hat nämlich bisher nur den fanatischen Veganer hinterm Ofen vorgelockt.



    Ach und übrigens, fast alle, die über die Forderung nach mehr Tarifbindung nur lächeln können, würden sich nicht mal für fünf Euro im Monat so solidarisch zeigen, als das sie in eine der Einzelgewerkschaften eintreten und sich organisieren würden.



    Gemeinsam = Stark, da war doch etwas, oder?



    Das Angebot steht, man muss nur mitmachen.

  • Aber auch viele Selbständige und Paketboten (stellvertretend für prekär Beschäftigte) würden sich über Bratwurst in der Solidargemeinschaft freuen oder?

    War die Überschrift nur Clickbait? Pfui!

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    die bratwurst macht den unterschied: zu billig, ungesund, massentierhaltung befördernd. kein mensch ausserhalb deutschlands braucht sie - hier ist es eine heilige kuh, die trotzdem verzehrt wird. kopfkratz, schade.

    • @90118 (Profil gelöscht):

      Sie scheinen mir aus der Welt gefallen.



      Ob nun die Erbsensuppe zum Soli-Preis von der FFW oder Bratwurst, Nackensteak oder Champi-Pfanne beim Caterer. Der entscheidet dabei ganz ökonomisch über sein Angebot: was nämlich gut geht. Bekannt ist, dass deutsche Bürger Bratwurst lieben - scheinbar auch Gewerkschafter und Angehörige und Familienfest-Teilnehmer. Übrigens: Ganzes Spanferkel ging gestern nicht soo gut wo ich war. War 13.30 Uhr immer noch "unbeschädigt" auf dem Spieß.

    • 9G
      95692 (Profil gelöscht)
      @90118 (Profil gelöscht):

      OUT OF TOPPIC !



      Hier geht es Ausnahmsweise mal nicht um Veganismus, vielleicht den Artikel nochmal durchlesen ! Danke

    • @90118 (Profil gelöscht):

      Man kann doch nun wirklich nicht alle Würste über einen Kamm scheren!



      Das ist ja gerade zu Anti-Bratwurstismus...

      • 9G
        90118 (Profil gelöscht)
        @JGGB:

        gefällt mir, danke, das ist, was ich mir für kommentare immer wünschen würde: vollendete reflexion - die nicht ganz ironiefrei ist.



        interessanterweise ist das ernährungsthema immer wieder als adrenalinpumpe wirksam.



        ich bin übrigens auch kein veganer.

      • @JGGB:

        Danke, daß Sie wir den Einspruch bereits abgenommen haben.

  • Gewerkschaften sind halt auch teil des Problems... geworden. so kämpft man für die Kohlereviere statt den Wandel zu gestalten. Ist tief im VW Sumpf verankert. Es sind Interessengemeinschaften - die längst nicht mehr die Interessen aller Arbeitnehmer vertreten. Ich kenne z.B. kaum einen Ingenieur in einem IG Metal Betrieb der nicht lieber 40 Stunden arbeiten würde. Machen wir ja eh,... auf die ein oder andere Weise

  • Nichtsdestotrotz wären eine verpflichtende Tarifbindung sowie die Haftung des GUs wesentliche Bausteine den Paketboten und auch den Freiberuflichen im Co-Working Space bessere Bedingungen zu verschaffen. Wenn dann noch Leiharbeit endlich auf den Branchentarif plus Flexibilitätszuschlag von 20% verpflichtet würde, dann ist ein Einstieg weg von der Mär der Wettbewerbsfähigkeit durch unzureichende Löhne geschafft.

    Und sorry, für die weiteren Themen engagiert sich die Zivilgesellschaft hinreichend, für gute Arbeitsbedingungen leider viel zu wenig.

  • Die Gewerkschaften sind schwach wie nie. Sehr traurig.

    Die Strategie der Spaltung geht voll auf.