Turbine Potsdam justiert Ziele nach oben: Kalkulierte Fanfaren
Turbine Potsdam hat sich auf Platz 4 der Bundesliga eingerichtet. Gesprochen wird zur Rückrunde von der Champions-League-Qualifikation.
Jüngst haben sie in Potsdam die Ziele für die Rückrunde etwas nach oben justiert. Turbine-Trainer Matthias Rudolph sprach von „Gier“ und davon, „Platz 2 anzugreifen“. Als Coach muss man ja hin und wieder darauf verweisen, dass es Arbeitsfortschritte gibt. Freilich kombiniert mit dem Einschub, man habe ja nie gesagt, dass man in die Champions League komme. Kleine Ansage mit kalkulierter Bremse, so lebt es sich aktuell ganz gut bei Turbine.
Denn allzu realistisch sind die Ambitionen für das internationale Geschäft nicht. Vor dem Rückrundenstart am Sonntag gegen den baden-württembergischen SC Sand haben die viertplatzierten Potsdamerinnen elf Punkte Rückstand auf Tabellenführer Wolfsburg und acht Punkte Rückstand auf die Münchnerinnen und den zweiten Champions-League-Platz. Auch wenn Turbine ein Spiel fehlt: Es ist ein Loch, das den Klassenunterschied zeigt.
Sie haben sich ein bequemes Nest gebaut in der Bundesliga hinter den beiden Spitzen Wolfsburg und München. Die sind zwar uneinholbar enteilt, aber momentan fehlt es der Liga an ambitionierten Teams der erweiterten Spitze, und so bleibt Raum für Potsdam – und der Rückfall ist nicht so ersichtlich. Rang 1 bis 4 heißt auch in dieser Saison die geschickt formulierte Zielsetzung von Turbine. In Wirklichkeit ist es von vornherein eher Platz 4, aber man kann ja mal theoretisch die Meisterschaft mit einschließen.
Und wenn die Champions League nicht klappt, ist es auch nicht schlimm, denn ein richtiges Ziel ist sie ja, wie Rudolph versichert hat, nie gewesen. Dabei muss schon Platz 4 in der Hinrunde als Erfolg zählen. Die Leistungsträgerinnen Tabea Kemme und Lia Wälti waren vor der Saison zu Arsenal London abgewandert, noch ein kräftiger Aderlass, noch ein Zeichen der neuen Professionalisierung.
In Österreich Fußballerin des Jahres
Spielerin Sarah Zadrazil räumt ein, es sei sehr schwer, solche Spielerinnen zu ersetzen. Dann sagt sie: „Ich finde, die jungen Spielerinnen haben sich diese Saison sehr gut gemacht. Die Kaderbreite ist viel besser geworden. Damit konnten wir den Verlust auffangen.“
Zadrazil ist eine von denen, die von den neuen Lücken profitiert. Die österreichische Mittelfeldspielerin spielt eine starke Saison mit zwölf Auftritten und zwei Toren für Turbine. Kürzlich ist sie Österreichs Fußballerin des Jahres geworden (ein Titel, bei dem man gerade erst auf die Idee gekommen ist, ihn auch für Frauen zu verleihen). Mit der österreichischen Nationalelf kam sie bei der EM 2017 ins Halbfinale. „Ich habe mich extrem weiterentwickelt, bin in Potsdam zur Führungsspielerin geworden und habe mich besser ins Team gespielt“, sagt Zadrazil zufrieden.
Österreich, Schweiz oder Tschechien heißen die neuen Herkunftsländer bei Turbine – und nicht England, Frankreich, Skandinavien: Man bedient sich an der Peripherie. Bislang funktioniert das. Die solide Hinrunde, darunter ein hervorragendes 1:1 gegen die Wolfsburgerinnen, wecken Begehrlichkeiten auch bei den Spielerinnen. „Die Champions League ist für jede Spielerin ein großes Ziel“, sagt Sarah Zadrazil. „Wir wissen, dass Bayern und Wolfsburg extreme Qualitäten haben. Aber ich hoffe, dass wir im neuen Jahr neues Glück haben und die beiden vielleicht mal ausrutschen.“
Noch einmal international spielen, das ist die große Sehnsucht. Der Einbruch bei Potsdam war weit weniger heftig als beim alten Rivalen Frankfurt. Als einziger Ostklub der Bundesliga kann sich Turbine bislang darauf verlassen, im östlichen Einzugsgebiet der größte Player zu sein. Und auf absehbare Zeit könnte das so bleiben, seit das ambitionierte Projekt bei RB Leipzig nicht mehr ganz so ambitioniert in der Regionalliga Nordost hängen gelassen wird. Andere freut solcherlei Mangel an Konkurrenz nicht. Der Wolfsburger Sportdirektor Ralf Kellermann warnte vor der Saison, die Bundesliga müsse aufpassen, nicht gegenüber den im Aufschwung befindlichen England oder Frankreich zurückzufallen. Bislang warnt er allein.
Immer weniger Zuschauer
Dass Frauenfußball in England sehr im Kommen sei, ja, das sehe man, sagt auch Sarah Zadrazil. „Wenn die Engländer viel investieren, wird es schwer. Aber aktuell ist die deutsche Liga noch die attraktivste, weil ausgeglichenste.“ Das ist hierzulande ein stetig wiedergekäutes, beliebtes Argument. Eine starke Breite aber nutzt nichts, wenn es an der Spitze fehlt.
Und während fast überall anders die Stadien voller und voller werden, erlebt Deutschland seit Jahren einen Zuschauerschwund, der durch die Bank fast alle Erstligisten betrifft. Turbine Potsdam steht mit einem Schnitt von 1.300 Leuten noch mit am besten da. Aktuell liegt der Gesamtschnitt bei mickrigen 775 Menschen, nochmal 200 weniger als im vergangenen Jahr. In Frankreich ist der Schnitt mittlerweile mehr als doppelt so hoch. Auch England und Spanien konnten ihre Schnitte seit 2013 je verdoppeln.
Selbst die Uefa hat jetzt den Frauenfußball für sich entdeckt. In einer schrägen YouTube-Kampagne namens #WePlayStrong lässt sie Spielerinnen wöchentlich ihren Alltag filmen. Eines der Bundesliga-Gesichter ist Sarah Zadrazil. „Echt cool“, findet sie das, „aber auch ein bisschen anstrengend.“
Shootings im Abendkleid
Interessanterweise, vielleicht folgerichtig, hat die Frauenfußball-Werbung der Uefa mit Fußball oft nicht viel zu tun: Die Frauen werden auf Konzerten, beim Styling oder am Eiswagen gezeigt, sie kreischen und hampeln, es könnte auch ein Lifestyle-Kanal sein.
Neben den anderen Spielerinnen, die sehr laut vor der Kamera rumalbern, wirkt die Österreicherin ruhig und ernst, eher schüchtern. Es sei ihnen vorgeschrieben, einmal pro Woche Fußball zu zeigen und einmal Lifestyle, erzählt Zadrazil. „Ich finde das gut, die Mädchen sollen ja auch was von unserem Leben sehen.“ Ob die rund 7.000 Abonnenten, die sich Shootings im Abendkleid angucken, auch ins Stadion finden, ist dann allerdings eine andere Frage.
Und außer YouTube? „Um wieder mehr Leute zu ziehen, bräuchten wir Erfolge“, sagt Zadrazil. „Die Champions League würde uns attraktiver machen. Aber wir wissen, welche Mittel wir haben im Vergleich zur Konkurrenz.“ Also hofft sie, dass Bayern und Wolfsburg stolpern. Und Turbine bereitsteht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Tierkostüme als Gefahr aus dem Westen
Wenn Kinderspiele zum Politikum werden