Zwangsverheiratung in Berlin: Die Mutigsten gehen zur Polizei
Eine Befragung zeigt: Weiter werden Hunderte Mädchen und Frauen zwangsverheiratet. Das Selbstbewusstsein der Betroffenen wächst.
Jedes Jahr sind in Berlin Hunderte junge Menschen, zumeist Mädchen, von Zwangsheirat bedroht. Das ergibt sich aus einer Umfrage des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung für das Jahr 2017. Veröffentlicht wurde sie in dieser Woche von der Gleichstellungsbeauftragten des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, Petra Koch-Knöbel.
Danach wurden im vorigen Jahr 570 Fälle von versuchter oder erfolgter Zwangsverheiratung bekannt. 83 Prozent der Betroffenen hatten einen muslimischen Hintergrund, weitere waren christlichen, jüdischen oder jesidischen Glaubens. „Die Umfrage erhebt ausdrücklich nicht den Anspruch, quantitativ repräsentative Ergebnisse zu liefern“, sagte Koch-Knöbel am Freitag der taz. So seien wegen der relativ einfachen und anonymisierten Form des Fragebogens Mehrfahrzählungen nicht auszuschließen. Zudem dürfte die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher liegen.
Für die Erhebung befragte Koch-Knöbel 1.164 Berliner Einrichtungen aus dem Antigewaltbereich, dazu Jugendämter, Polizei, Migrations-, Frauen-, Gleichstellungs- und Integrationsbeauftragte sowie sämtliche Schulen und Flüchtlingsunterkünfte. Davon haben 420 Einrichtungen den Erhebungsbogen beantwortet.
Die Umfrage ist die zweite ihrer Art nach 2013. Damals wurden 460 Fälle von Zwangsverheiratung aufgelistet; allerdings lag die Zahl der befragten Einrichtungen um 40 Prozent niedriger. Von einer auffälligen Steigerung der Fallzahlen kann also keine Rede sein.
Viele geflüchtete Mädchen aus Syrien
Allerdings hat sich die Gruppe der Betroffenen verändert. So gab es in der Umfrage von 2013 laut Koch-Knöbel noch mehr türkische Betroffene (32 Prozent) als arabische (22). Vier Jahre später hatten 20 Prozent der Betroffenen einen türkischen Hintergrund und 48 Prozent einen arabischen, darunter laut Koch-Knöbel „überwiegend syrische Mädchen und Frauen“. Die Gleichstellungsbeauftragte und ihre Mitstreiter vom Arbeitskreis vermuten daher, dass viele Geflüchtete von der Problematik betroffen sind. „Zum Glück erfahren wir aber auch davon, weil viele Antigewaltprojekte direkt in die Flüchtlingsheime gehen.“
Zwangsverheiratung gebe es nach wie vor auch in Familien, die bereits in dritter Generation hier leben. Diese verbergen sich vermutlich hinter der Zahl von 25 Prozent Betroffener mit deutsche Staatsangehörigkeit. „Das ist ein allgemeines Problem patriarchaler Familienstrukturen“, sagte Koch-Knöbel.
Petra Koch-Knöbel, Gleichstellungsbeauftragte
93 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Bei den 7 Prozent Jungen ist auffällig, dass die Hälfte von ihnen homosexuell ist und wohl deswegen ein Mädchen heiraten sollten. Die meisten Betroffenen beiderlei Geschlechts waren zwischen 16 und 21 Jahre alt. Jünger als 16 waren 12 Prozent der weiblichen und 3 Prozent der männlichen Betroffenen.
Aufklärung an Schulen läuft schleppend
In mehr als der Hälfte der bekannt gewordenen Fälle war die Zwangsverheiratung noch nicht erfolgt. Dass viele Betroffene schon vorher eine Beratungsstelle aufsuchen, wertet der Arbeitskreis als positives Zeichen, dass sich immer mehr Jugendliche ihrer Rechte bewusst seien. Auch sei das Bewusstsein in den Einrichtungen gewachsen, wodurch eine frühzeitige Intervention möglich werde.
Der Arbeitskreis versucht, vor allem Schulen für das Thema zu sensibilisieren, wie Koch-Knöbel erklärt – mit Fortbildungen für Lehrer, Projekttagen für Schüler und dergleichen. „Das wird aber von den Schulen leider wenig abgefragt“, sagte sie. Zusätzlich rieten sie jedes Jahr vor den Sommerferien den Schulen, auf Hinweise zu achten, dass Jugendliche womöglich nicht wiederkämen. Seien die Jugendlichen ins Ausland verbracht, gebe es nur „im Einzelfall“ noch Hilfsmöglichkeiten. Für 2017 wurden 71 Verschleppungen ins Ausland ermittelt.
Eine juristische Handhabe gibt es seit 2011 mit Paragraf 237 des Strafgesetzbuchs, der schon den Versuch zur Zwangsverheiratung unter Strafe stellt und auch das Außer-Landes-Bringen für diesen Zweck. „Das ist allerdings ein bisschen ein zahnloser Tiger, weil wir nur dann etwas tun können, wenn die Kinder bereit sind, ihre Eltern anzuzeigen“, so Koch-Knöbel. Das machten die allermeisten nicht. Immerhin: 2017 sind 13 Jungen und Mädchen zur Polizei gegangen.
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