Soziologische Forschung über G20-Protest: „Wann knallt es endlich?“
Forscher aus Berlin und Hamburg haben die Protest- und Polizeidynamik beim G20-Gipfel in Hamburg ergründet. Sie kritisieren die fehlende Reflexion bei der Polizei.
taz: Acht Monate lang haben 21 Wissenschaftler*innen die Dynamiken der Gewalt im Kontext der G20-Proteste in Hamburg erforscht. Was wollten Sie herausfinden, Herr Teune?
Simon Teune: Der Anlass war für uns nicht, dass es gewalttätige Konfrontationen gab, das ist bei Gipfelprotesten relativ berechenbar. Was uns interessiert hat ist: Wie konnte es zur Entgrenzung kommen? Dass Umstehende und Anwohner*innen Teil der Auseinandersetzungen wurden und die Polizei mit niedrigschwelliger Schussfreigabe bis zum Äußersten geht, das wollten wir verstehen.
In dem Bericht schreiben Sie: Die Vorstellungen des Hamburger Senats, die Situation kontrollieren zu können, hat sich als Illusion erwiesen. Woran machen Sie das fest?
Die Annahme des Senats war, mit dem großen Einsatz von Menschen und Material das Geschehen kontrollieren zu können – so wurde es zumindest nach außen verkauft. Es ist die Lehrmeinung der Polizeiausbildungen und der Wissenschaft, dass man mit repressiver Polizeistrategie Konflikte ausweitet. Das hat man auch bei anderen Gipfelprotesten gesehen.
So kam es auch dieses Mal.
Ja, da kommt zusammen, dass es die harte Hamburger Linie gibt und dass bei Gipfelprotesten allgemein diese Strategie verfolgt wird, obwohl die Erfahrung zeigt, dass die Situation dadurch noch weniger kontrollierbar wird.
Wieso halten die Innenbehörden an so einer Strategie fest?
Das ist eine politische Entscheidung. Man will nach außen ein geschlossenes Bild abgeben, aber auch nach innen gibt es wenig Zwischentöne. Wir haben uns auch Polizeizeitungen angeguckt – nach diesem Einsatz gibt es da nichts, was das Bild trübt. Der Eindruck ist: Wir haben alles richtig gemacht, kein Hauch von Selbstkritik. Das ist ein Spezifikum der Hamburger Polizei: Die Selbstsicherheit und das Bewusstsein, freie Hand zu haben. Das liegt auch daran, dass über Jahrzehnte hinweg kein Innensenator den Umgang der Polizei mit Protesten auf den Prüfstand gestellt hat.
Wie kam es zur Eskalation?
Es gab eine Verdichtung der Atmosphäre der Gewalt, in der es für die Beteiligten immer naheliegender und gerechtfertigter schien, Gewalt einzusetzen. In diese Deutung wird alles eingeordnet, es gibt keine andere Erklärung mehr dafür, warum der Wasserwerfer von hier nach dort fährt oder Demonstranten sich vermummen – gelesen wird das als Vorbereitung eines Angriffs. Das Gegenüber wird als homogener Block wahrgenommen. Das hat man bei der „Welcome to Hell“-Demo gesehen.
42, forscht als Soziologe zu Protesten an der TU Berlin und ist im Vorstand des Instituts für Protest und Bewegungsforschung.
Was genau?
Das lief nach dem Muster der Self-fulfilling Prophecy ab. Alles, was die Gegenseite tut, wird nur daraufhin interpretiert, dass die Konfrontation bevorsteht. Das wurde durch die mediale Begleitung gestützt: Die Berichterstattung hat sich auf die Frage der Gewalt verengt, es gab einen medialen Tunnelblick. Die Anwesenden und Beobachter haben gar nichts anderes wahrgenommen als die Frage: „Wann knallt es denn jetzt endlich?“
Obwohl das Gewaltniveau in Hamburg im Vergleich mit anderen Gipfelprotesten nicht außerordentlich war, ist es doch bei vielen so in Erinnerung geblieben. Wie kommt das?
Über Tage hinweg haben sich zwei Lager herausgebildet. Die einen unterstützen, was die Polizei macht, die andere stellen die Bürgerrechte in den Vordergrund. Von der Auseinandersetzung um die Protestcamps bis zu dem Freitag, an dem der Gipfel begann, hat sich die Polarisierung verschärft.
Wie hat sich das geäußert?
Die Polizei hatte die Deutung, es stehe jederzeit ein schwerer Angriff auf sie bevor. Diese Anspannung war die ganze Zeit da. Auf der anderen Seite hat die Erzählung, dass die Polizei den Protest verhindern will und die Demonstrierenden angegriffen werden, über die Woche an Plausibilität gewonnen. Das schreibt sich unabhängig von dem, was man auf der Straße erfährt, in die Erzählung ein.
Viele haben Gewalt real erlebt.
Ja, das ist die andere Ebene. Sehr viele Leute waren konkret betroffen, die über Tage kreisenden Hubschrauber, die Anspannung bei einer Demo, der zerstörte Kleinwagen eines Pflegedienstes. Das sind Eindrücke, die sich einbrennen. Dazu kommt eine Verschärfung durch die Debatte in Echtzeit. Über Twitter und Facebook wurden Videos von brennenden Autos geteilt, die Stimmung war: „Was hier passiert, hat es so noch nicht gegeben und alles wird immer schlimmer.“
Wie viel von der Protestdynamik hat sich spontan entwickelt und wie viel war eingespieltes Verhalten zwischen Polizei und Linken?
Einerseits gibt es ein Repertoire von Aktion und Reaktion, das auch bei Gipfelprotesten abrufbar ist. Da weiß man, es gibt einen Aktionsrahmen, in dem man sich bewegen kann. Andererseits gibt es die Hamburger Vorgeschichte, die wichtig ist, um zu verstehen, wie zum Beispiel das Schanzenviertel zum Zentrum des Protests wurde.
Wie denn?
Das hat mit der Schanze als umkämpftem Raum zu tun und mit vorangegangenen Protesten. Vergangene Auseinandersetzungen darüber, wie der öffentliche Raum genutzt werden darf, wie die Stadt sich entwickelt, wie politische Räume verteidigt werden, wurden wieder aufgerufen. Dazu kommt die Verkettung der Ereignisse über die Woche. Was an einem Tag passiert, fließt in das Kalkül der Leute am nächsten Tag ein.
Hat die Medienstrategie der Polizei zur Eskalation beigetragen?
Die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei ist in Kontinuität mit anderen Gipfelprotesten zu betrachten: Erst mal wird sie intensiv und offensiv betrieben und dann ist die Gewalt der Demonstrierenden das Hauptthema gegenüber den Medien. Dass es zu Gewalt kommt, wird als unausweichlich dargestellt, damit eröffnet man sich einen größeren Handlungsspielraum. Die fast magische und überall verbreitete Zahl von 10.000 Gewaltbereiten ist so ein Beispiel. Da fragt im Nachhinein niemand mehr, wo waren die? Mit der Zahl wurde die „Welcome to Hell“-Demonstration im Vorfeld dämonisiert. Am Ende sprach die Polizei selbst von 10.000 friedlichen Teilnehmenden.
Welche Rolle haben soziale Medien gespielt?
Wir haben 800.000 Twittermeldungen ausgewertet mit dem Ergebnis: Zum Ende der Protestwoche ist die Polizei der zentrale Akteur, der den Blick auf die Ereignisse bestimmt. Auch weil ihre Tweets von Journalist*innen in großen Medien weiterverbreitet werden. Sie haben dazu beigetragen, dass es diesen Tunnelblick gab.
Im Nachhinein wurde fast nur noch über Gewalt geredet, politische Inhalte gerieten völlig in den Hintergrund. Wie konnte das passieren?
Das ist eine Frage der öffentlichen Aufmerksamkeit, die einen Ausschnitt überbelichtet von dem, was wirklich passiert ist. Wir hatten in Hamburg die größte Demo der letzten Jahre, es gab den Alternativgipfel und künstlerischen Ausdruck an vielen Stellen. Die inhaltliche Debatte ist auf der Straße nicht außen vor geblieben. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung ist sie abhanden gekommen. Das wurde durch die Verpolizeilichung des Umgangs mit dem Protest herbeigeführt.
Was meint Verpolizeilichung?
Alle, die Protest organisiert haben, wurden immer wieder auf Gewalt angesprochen, ein anderes Thema gab es nicht. Das ist eine Polizeiperspektive, eine Entpolitisierung.
Hat die Polizei den Kampf um die Deutungshoheit gewonnen?
Es gibt kein eindeutiges Ergebnis. Im Sonderausschuss war die Innenbehörde sehr erfolgreich darin, ihre Version in die Geschichtsbücher zu schreiben. In der Medienberichterstattung ist es durchmischter. Da sind einige Widersprüche gezeigt und Kritik an der Polizeiarbeit geübt worden. Die Frage ist auch: Wie sieht es in der Stadt aus, wenn sich Leute über G20 unterhalten? Da gibt es große Unterschiede zwischen Innenstadt und Außenbezirken und verschiedenen Milieus. Es existieren weiterhin zwei Versionen und es gibt keine gegenseitige Bezugnahme.
Den Report des Hamburger Instituts für Sozialforschung und des Berliner Instituts für Protest- und Bewegungsforschung finden Sie hier: https://g20.protestinstitut.eu/
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