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Debatte Braindrain in SüdosteuropaArme bilden für Reiche aus

Erich Rathfelder
Kommentar von Erich Rathfelder

Die Jungen gehen, die Alten bleiben. Die Migration aus dem Südosten Europas in den Norden ist ein echtes Problem für die Zurückbleibenden.

Europa igelt sich ein: Ein Grenzzaun, hier in Slowenien Foto: reuters

W aren es vor Jahren noch die ungelernten Arbeiter aus dem Kosovo, die Bauernsöhne aus Mazedonien oder verzweifelte Angehörige der Roma-Minderheit in Serbien, so sind es heute vor allen die gut ausgebildeten junge Menschen aus den Balkanländern, die sich auf den Weg nach Zentraleuropa machen. Zehntausende von Armutsflüchtlingen vom Balkan schreckten vor sechs Jahren – noch vor dem Flüchtlingsdrama aus Nahost und Afrika – die deutsche Politik auf. Mit der Maßnahme, die Staaten des Westbalkan zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, wurde die Armutswanderung zwar zunächst gestoppt. Politisches Asyl zu erhalten ist für diese Leute seither nicht mehr möglich.

Natürlich sollte es zu den elementarsten Rechten der Menschen gehören, frei reisen und auch alle Chancen wahrnehmen zu können, ein besseres Leben anzustreben. Die jetzt endlich ernsthaft geführte Diskussion über ein Einwanderungsgesetz oder das von Arbeitsminister Hubertus Heil vorgeschlagene Fachkräftezuwanderungsgesetz weist immerhin in eine richtige Richtung. Die Prozeduren sollen vereinfacht werden, junge Menschen vor allem aus dem Raum Südosteuropa sollen sich angesprochen fühlen. Auch Gesundheitsminister Jens Spahn will junge Menschen aus diesem Raum als Pflegekräfte und für das Gesundheitswesen insgesamt gewinnen. Vor allem das Kosovo mit der jüngsten Bevölkerung Europas und der höchsten Arbeitslosigkeit von 60 Prozent steht im Fokus seiner Überlegungen.

Die schon seit Jahren auf dem Tisch liegenden Vorschläge, an den Universitäten im Kosovo gezielt mit Sprachunterricht ergänzte Ausbildungsgänge einzurichten, die auf die Bedürfnisse der deutschen Industrie und Gesellschaft zugeschnitten sind ( so in den Bereichen Medizin und Technik), sind zwar von der Politik weitgehend ignoriert worden. Vor allem konservative Kreise haben es geschafft, den Kosovaren durch Visaregelungen die Reisefreiheit zu beschneiden. Jetzt könnte aber die gesamte Gesellschaft Kosovos profitieren. Es könnte eine Win-win-Situation für beide Seiten geschaffen werden.

Der Fachkräftemangel in Deutschland hat sich bis in das letzte Dorf auf dem Balkan herumgesprochen. Zwar ist die aus „niedrigen wirtschaftlichen Beweggründen“ hervorgehende Wanderungsbewegung heute kaum mehr relevant, doch verlassen trotzdem jährlich Zehntausende von Menschen die betreffenden Regionen. Es handelt sich nicht mehr um die Ärmsten der Armen, sondern zumeist um junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte, die nun ihr Glück in „Europa“ suchen. Vor allem auf dem Gebiet der Medizin und der Altenpflege stehen ihre Chancen schon jetzt trotz der Gesetzeshürden gut, in Deutschland angenommen zu werden.

Nach der Schule Deutschunterricht

Immer mehr intelligente und beruflich ausgebildete Menschen machen sich in Richtung Norden auf den Weg. Wenn eine Deutsch sprechende Tierpflegerin nach Baden-Württemberg verschwindet, um nach kurzer Zusatzausbildung in der Altenpflege zu arbeiten, ist ein Zeichen gesetzt. Wer ausgebildet ist und bleiben will, wird schon mitleidig angesehen. Schon in frühem Kindesalter wird der Nachwuchs auf die Auswanderung vorbereitet: Neben dem Unterricht in normalen Schulen werden nachmittags private Sprachenschulen in Anspruch genommen.

Wenn zudem das Personal der einheimischen Krankenhäuser in Bosnien und Herzegowina und Serbien dramatisch ausgedünnt wird, wenn das ohnehin durch Finanzmangel gebeutelte staatliche Gesundheitssystem deshalb zusammenbricht, dann wird der Braindrain zu einem echten Problem für die zurückgelassene Gesellschaft. Die Jungen gehen, die Alten bleiben, die betreffenden Länder fallen weiter zurück. Es ist ja die Verzweiflung über die Stagnation der eigenen Gesellschaft, die zu dieser Entwicklung geführt hat. Hunderttausende vor allem ausgebildete Bürger haben während und nach den Kriegen der 90er Jahre ihre Länder verlassen. Auch das war ein Braindrain, der die Entwicklung der politischen Systeme negativ beeinflusst hat.

Die politischen Parteien auf dem Westbalkan haben seither – bis auf wenige Ausnahmen – nicht die Entwicklung der Gesellschaft im Blick, sondern bedienen lediglich die sie stützende Klientel. Sie stellen sich als Verteidiger nationaler Interessen im Einklang mit der vorherrschenden Religion dar – ganz gleich, ob es sich um Katholizismus, um Orthodoxie oder den Islam handelt. Die so entstandenen Herrschaftssysteme achten mit Repression und Propaganda darauf, dass Bürgerbewegungen und rational denkende Politiker von vornherein chancenlos bleiben. Wenn sogar ein hoher Repräsentant einer nationalistischen kroatischen Regionalpartei in Bosnien und Herzegowina gegenüber dem Autor zugibt, dass er seine Kinder nur auf Eliteschulen schickt, um ihnen ein Leben im Ausland zu ermöglichen, führt sich das System selbst ad absurdum.

Schon in frühem Kindesalter wird der Nachwuchs in den Balkanstaaten auf die Auswanderung vorbereitet

Indem die Jugend ihr Heil in der Fremde sucht, werden diese Herrschaftsmechanismen noch gestärkt. Wenn jetzt also über ein Einwanderungsgesetz in Deutschland gesprochen wird, sollten die Folgen der Migrationsbewegung mit bedacht werden. Die Problematik des Braindrain bezeichnet das Wohlstandsgefälle in Europa. Die armen Länder bilden junge Menschen für die reichen Länder aus. Nur die reichen Länder profitieren davon. Das riecht nicht nur nach Imperialismus, das ist Imperialismus.

Wenn man ein Einwanderungsgesetz diskutiert, muss auch an diesen Zusammenhang gedacht werden. Zumindest bei den Ausbildungskosten sind finanzielle Kompensationen angebracht. Aber die Diskussion darüber muss breiter angelegt werden und regionale Besonderheiten respektieren – so die Lage im Kosovo. Grundsätzlich kann es nicht das Ziel sein, die europäischen Gesellschaften des Südostens und Ostens intellektuell völlig auszudünnen und sie den religiösen Fanatikern und Nationalisten zu überlassen.

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Erich Rathfelder
Auslandskorrespondent Balkanstaaten
Erich Rathfelder ist taz-Korrespondent in Südosteuropa, wohnt in Sarajevo und in Split. Nach dem Studium der Geschichte und Politik in München und Berlin und Forschungaufenthalten in Lateinamerika kam er 1983 als West- und Osteuroparedakteur zur taz. Ab 1991 als Kriegsreporter im ehemaligen Jugoslawien tätig, versucht er heute als Korrespondent, Publizist und Filmemacher zur Verständigung der Menschen in diesem Raum beizutragen. Letzte Bücher: Kosovo- die Geschichte eines Konflikts, Suhrkamp 2010, Bosnien im Fokus, Berlin 2010, 2014 Doku Film über die Überlebenden der KZs in Prijedor 1992.
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7 Kommentare

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  • Alte Weisheit, immer wieder gern genommen, ebenso schnell vergessen: versteht euch nicht als Gegensätze, s.g. Ausländer wie Inländer, sondern als Verbündete gegen Kapitalinteressen.

  • 9G
    99337 (Profil gelöscht)

    Mein Kompliment für diesen guten wie objektiven Artikel!

    Ursprünglich war das ja mal linkes Grundwissen, wurde aber von Teilen des linken Spektrums aufgegeben, dann von Rechten thematisch gekapert, was wiederum Linke dazu bringt, die alleinige Thematisierung des Braindrain als rechts zu bezeichnen.

    Ähnlich verläuft es teilweise auch schon mit sozialen Themen, dem eigentlichen Kern linker Politik. Besonders Ultra-Rechte kapern in Zusammenarbeit mit dem nationalen Flügel der AfD soziale Themen, Teile der Linken schieben den Einsatz für mehr Sozialstaatlichkeit in die rechte Ecke und der SPIEGEL titelt für seine bildungsbürgerliche Leserschaft gänzlich bizarr: "Trumps Planwirtschaft".

    Es ist an der Zeit, dass das linke Spektrum sich seine teils aufgegebenen Themen zurückerobert und pragmatische wie humane Konzepte anbietet. Konzepte hat die AfD nämlich nicht. Die lebt bislang einzig und allein von "Moslems raus" und der Angst der Bürger vor sozialem Abstieg.

  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Der Hinweis von @Ruhig Blut auf den Ärztemangel an der bulgarischen Schwarzmeerküste (und nicht nur dort) ist treffend. Er zeigt auf, dass früher bestehende Volkswirtschaften längst im Aussterben begriffen sind. Dass Politiker überwiegend Lobbyfuzzis sind, ist auch in diesem Land zu beobachten. Generalisten mit Blick für das Ganze sterben aus. Parteiübergreifend.

    Ein Evolutionsirrtum von einem amerikanischen Präsidenten versucht, ein großes Land wie einen Konzern zu führen. Dies ist nur die Spitze des tauenden Eisbergs.

    • @76530 (Profil gelöscht):

      Genau.

  • Ein guter Artikel, mit einem ungewohnt deutlichen Fazit.

    Das hier Beschriebene beschränkt sich nicht auf Osteuropa sondern betrifft alle Weltregionen, in denen gut Ausgebildete abwandern, um ihr Glück in reicheren, weniger korrupten, politisch stabileren Ländern zu finden. Den Migranten lässt sich daraus kein Vorwurf machen; wer von uns würde in patriotischer Selbstaufopferung anders handeln?



    Dennoch kann sich ein solcher Braindrain auf Gesellschaft und Volkswirtschaft der Zurückgebliebenen verheerend auswirken. Vor einiger Zeit lief auf Arte eine Doku über den auswanderungsbedingten Ärztemangel in Bulgarien, einem ja vergleichsweise wohlhabenden Land, der die medizinische Versorgung offenbar an den Rand des Kollapses brachte. Wie mag sich die Auswanderung der gut und kostspielig Ausgebildeten dann erst in afrikanischen Staaten auswirken? Und anders als beim Mangel an anderen Fachkräften (z.B. mit technischer, administrativer, pädagogischer Qualifikation), sind Ausfälle in der medizinischen Versorgung nur die offensichtlichsten Folgen, die als erste spürbar werden.



    Kaum weniger problematisch für die betroffenen Gesellschaften, wenn diejenigen, die das Privileg eines Studiums in Europa haben, anschließend (verständlicherweise und zu ihrem Glück und dem ihrer Familien zuhause) nicht mehr zurückkehren.

    In der deutschen Migrationsdebatte werden derartige Konsequenzen, die auch das aktuell wieder diskutierte Einwanderungsgesetz etwa nach kanadischem Vorbild nach sich zöge, kaum erwähnt. Still und heimlich wurde der Nationalismus alter Prägung von einem nicht minder abstoßenden, sich aber als liberal und weltoffen gerierenden Wirtschaftschauvinismus abgelöst. Braindrain wird als Internationalismus verbrämt, Freihandelsdiktate, Ressourcenausbeutung und aggressiver Export als Globalisierung, Ausbeutung von Armutsmigranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt als Antirassismus.



    Dabei hat Rathfelder völlig Recht, es handelt sich bei alldem um nichts anderes als Neokolonialismus.

    • @Ruhig Blut:

      „Imperialismus“ hat er geschrieben. Nun gut, in vielen Ländern des globalen Südens sind westlicher Imperialismus und Neokolonialismus wohl weitgehend deckungsgleich.

  • Altenpfleger und Braindrain bekomme ich nicht unter einen Hut.