Protest gegen fehlende Kitaplätze: Suche ErzieherIn, biete Burn-out
Trotz Rechtsanspruch warten Eltern oft vergeblich auf einen Betreuungsplatz für ihr Kind. Am Samstag gehen deshalb Berliner Eltern auf die Straße.
Mehr als dreißig Einrichtungen in Berlin-Treptow-Köpenick haben die Eltern besucht. Vergeblich. Fast täglich stellen sie sich in Einrichtungen vor. Füllen Bewerbungsbögen aus. Und treffen auf Eltern, die so verzweifelt sind, dass sie zum Schnuppertag einen Kuchen mitbringen.
Wie Raik und Katja Baugatz geht es vielen Familien in Deutschland. Seit dem 1. August 2013 haben sie einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Theoretisch. Er gilt für alle Kinder ab dem ersten Geburtstag und kann auch schon vorher greifen, wenn die Eltern arbeiten oder eine Beschäftigung suchen. Seither schaffen Städte und Kommunen im Eilverfahren Betreuungsplätze, stellen Kita-Container auf oder errichten Schnellbau-Kitas. Doch das hilft wenig, wenn das Personal fehlt. Tausende Plätze bleiben unbesetzt. Darauf hat Ende Februar auch das Verwaltungsgericht Berlin reagiert und entschieden, dass Eltern den gesetzlichen Anspruch nicht in einem gerichtlichen Eilverfahren erzwingen können, wenn den Kitas die ErzieherInnen fehlen.
In ganz Deutschland mangelt es laut Bertelsmann-Stiftung bereits an über 100.000 Vollzeitkräften. Das sagt auch Doro Moritz, Landesvorsitzende der GEW Baden-Württemberg. „In fast allen Regionen des Landes besteht ein Fachkräftemangel – auch bei uns in Stuttgart. Vor zwei Jahren fehlten uns noch etwa 200 ErzieherInnen, heute gehe ich von doppelt so vielen unbesetzten Stellen aus.“ Der Paritätische Wohlfahrtsverband schätzt, dass auch in Berlin bis zum Sommer etwa 1.500 zusätzliche ErzieherInnen gebraucht werden. Die Folge: verkürzte Öffnungszeiten in den Kitas, verzweifelte Eltern, ausgebrannte Fachkräfte.
Zwei Bewerbungen auf 18 freie Stellen
Wie prekär die Situation ist, weiß Sabine Derwenskus-Böhm. Sie ist Leiterin des Bereiches „Kinder und Jugend“ beim AWO-Kreisverband Berlin-Mitte. Notlösungen sind Alltag geworden, sagt die Bereichsleiterin: „Wir behelfen uns mit Leasingkräften von Zeitarbeitsfirmen, vergrößern kurzfristig die Gruppen oder nehmen einfach keine Kinder mehr auf.“ 18 Stellen sind in ihren Kitas seit Monaten offen, zwei Bewerbungen hat die Bereichsleiterin erhalten. Der Nachwuchs muss erst ausgebildet werden.
Bundesweit entstehen Fortbildungsprogramme für Quereinsteiger, doch diese können keine Fachkräfte ersetzen. „Auszubildende und Quereinsteiger müssen eingearbeitet werden. Sie brauchen Betreuung und sind nicht dafür da, die Lücken zu füllen“, sagt Kita-Leiterin Derwenskus-Böhm. Die Berliner Senatsverwaltung hat die Quote für Quereinsteiger, die in einer Kita arbeiten, im vergangenen Jahr erhöht. Jede dritte Fachkraft darf durch einen Quereinsteiger ersetzt werden, zuvor war es jede vierte. Doch Kompromisse sind keine Dauerlösung, findet auch Doro Moritz: „Mit der Zahl der Quereinsteiger erhöht sich schließlich auch die Arbeitsbelastung für die Beschäftigten.“ Sie geht davon aus, dass sich die Situation durch den geplanten Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule weiter verschlechtern wird.
Der Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut/TU Dortmund prognostiziert in einer Studie, dass bis 2025 etwa 300.000 von insgesamt 583.000 benötigten Kita-Fachkräften fehlen werden. Die Statistik rechnet Nachwuchskräfte in Ausbildung ein und berücksichtigt nicht erfüllte Elternwünsche, das Fachkraft-Kind-Verhältnis, ErzieherInnen, die in Rente gehen, Zuwanderung und Geburtenanstieg. „Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz hat deutschlandweit zu einem massiven Ausbau geführt, für den jetzt aber die Fachkräfte fehlen“, sagt Mario Schwandt von der GEW Bayern. Jahrelang habe die Politik versäumt, das Berufsfeld attraktiver zu machen und die Arbeitsbedingungen an die erhöhten Anforderungen anzupassen. Ein Einstiegsgehalt von etwa 2.500 Euro brutto, kaum Aufstiegschancen, Stress und Burn-out. Mit dem Fachkräftemangel spitzt sich die Lage weiter zu: Viele steigen aus dem Beruf aus oder kommen nach der Babypause nicht mehr zurück.
„Zwar werden die Ausbildungsplätze massiv erweitert, doch 25 Prozent der Schüler brechen vorzeitig ab“, sagt Mario Schwandt von der GEW Bayern. Der Grund: Die Bezahlung reicht während der schulischen Ausbildung nicht zum Leben. „Diejenigen, die durchhalten, sind nach der Ausbildung geschockt: Sie gehen in die Kitas und stellen fest, dass sie keine Zeit haben, ihre Ideen umzusetzen. Stattdessen kommen sie kaum mit dem Alltagsgeschäft hinterher.“
Von Stress bis zum Burn-out erzählt auch eine Erzieherin aus München, die nicht namentlich genannt werden möchte. In ihrer Einrichtung gibt es Platz für 100 Kinder, aufgenommen wurden nur 70. Seit Monaten hofft die Kita auf mehr Personal. Zwei Stellen sind ausgeschrieben, beworben hat sich niemand. „Wenn man hin und wieder eine Woche überbrücken muss, weil zwei Leute krank sind, geht das. Aber das ist mittlerweile Dauerzustand. Wir unterstützen uns gegenseitig so lange, bis wir zusammenbrechen“, sagt die Erzieherin.
Ein Kind pinkelt in die Hose, im Gruppenraum bricht ein Streit aus und das Telefon klingelt – bei zu wenig Personal fehlt die Zeit für pädagogische Angebote. Darunter leiden ErzieherInnen, Kinder und Eltern. „Regelmäßig sitzen Mütter und Väter vor mir, die verzweifelt sind und weinen, weil sie ihre Kinder nirgendwo unterbringen können. Das ist furchtbar“, sagt die Erzieherin. Für Familie Baugatz gibt es Hoffnung. Bei ihrem letzten Kita-Besuch hat die Leitung ihnen einen Platz in Aussicht gestellt. Allerdings erst ab Februar 2019. Am Samstag demonstrieren Berliner Eltern gegen die Situation: Start ist um 10 Uhr am Bahnhof Friedrichstraße.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil