Obdachlosenhilfe läuft: „Es geschehen wundersame Dinge“
Nicht nur während der Kälte, auch sonst kümmert sich der Senat verstärkt um Obdachlose, sagt Joachim Lenz von der Stadtmission. Es gebe aber auch mehr zu tun.
taz: Herr Lenz, die Kälte ist vorbei. Trotz zweistelliger Minusgrade scheint kein Obdachloser in der letzten Woche erfroren zu sein. War das Glück?
Joachim Lenz: Nein, das war nicht nur Glück. Zivilgesellschaft und Politik haben in dieser Krisensituation richtig gut zusammengearbeitet. Normalerweise haben wir zwei Kältebusse in der Stadt. Jetzt kamen mehrere Busse dazu. Sozialsenatorin Elke Breitenbach hat zum Beispiel ein Fahrzeug des Senats zur Verfügung gestellt. Mit diesen Bussen konnten viele Obdachlose in die Einrichtungen gebracht werden, wo sie die Schweinekälte überlebten. Wir Hilfsorganisationen haben uns auch gegenseitig unterstützt, haben uns mit Plätzen oder Schlafsäcken ausgeholfen. Wobei man auch sagen muss: Menschen sterben trotzdem.
Was meinen Sie?
Wenn es Obdachlosen richtig schlecht geht, begeben sich viele ins Krankenhaus. Stirbt dort jemand an einer Lungenentzündung, taucht er in keiner Statistik auf.
1.200 Plätze in Notunterkünften gab es in diesem Winter, so viele wie noch nie in Berlin. Reichte das aus?
Meines Erachtens schon. In unserer Notübernachtung an der Lehrter Straße hatten wir auch mal 200 Leute, obwohl die Einrichtung nur für 121 gedacht ist. Berlinweit waren die Unterkünfte aber nicht ganz ausgelastet. In den Hangars in Tempelhof gab es auch in der kältesten Nacht noch freie Plätze.
Der Senat hat also insgesamt gut reagiert?
Ja, das muss man auch mal sagen. Nicht nur jetzt, während der Kälte, auch sonst geschehen wundersame Dinge. Das Abgeordnetenhaus hat die Mittel für Obdachlosenhilfe im aktuellen Haushalt fast verdoppelt. Das ist beispiellos.
Joachim Lenz
56, ausgebildeter Pfarrer und seit 2015 Stadtmissionsdirektor. Die Berliner Stadtmission ist ein Verein unter dem Dach der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Man könnte meinen, das liege daran, dass die Sozialverwaltung in Händen der Linkspartei ist. Andererseits gab es unter der rot-roten Regierung bis 2011 kein vergleichbares Engagement.
Ich würde das nicht an einer Partei festmachen wollen. Die Sozialsenatorin schiebt Dinge an, aber auch Vertretern von SPD und CDU ist das Thema ein Anliegen. Vor allem hat der Senat in diesem Doppelhaushalt mehr Geld zu verteilen. Neu ist auch, dass das Parlament die Initiative ergreift. Es gab zum Beispiel den Vorschlag für einen Duschbus, eine fahrbare Hygieneeinrichtung für Obdachlose. Das hat niemand beantragt, auf diese Idee sind Abgeordnete selbst gekommen und haben das dann beschlossen. Auch die Diskussion im letzten Sommer über die Obdachlosen im Tiergarten hat etwas bewirkt. Es gibt jetzt einen parteiübergreifenden Konsens, etwas bewegen zu wollen. In der akuten Notsituation hat das bereits funktioniert.
Wie erfreulich.
Absolut. Die Kehrseite ist: Die Menschen, die jetzt überlebt haben, werden vielleicht in den nächsten Wochen sterben. Richtig schrecklich wird es für Obdachlose, wenn sie wieder draußen leben, es im April aber immer noch kalt und nass ist.
Die Kältehilfe soll doch in diesem Frühjahr erst Ende April enden statt wie bisher Ende März.
Ja, an der Frankfurter Allee haben wir eine große Traglufthalle, die können wir weiterlaufen lassen. Wir müssen die Menschen aber erst mal dazu kriegen, dieses Angebot anzunehmen. Das ist ja ein Grundproblem in der Obdachlosenhilfe. Viele wollen nicht in die Einrichtungen, sie sagen: Da stinkt es, da wird geklaut. Sie haben ihre Gründe, warum sie obdachlos sind, oft hat das auch mit einer verletzten Seele zu tun, mit einer psychischen Erkrankung. Wenn es richtig kalt ist, stellen die Menschen ihre Vorbehalte hintan. Aber schon jetzt, bei etwas milderen Temperaturen, kommen wieder sehr viel weniger in die Notübernachtungen. Dabei ist es draußen nach wie vor gesundheitsgefährdend.
Die Zahl der Obdachlosen in Berlin steigt seit Jahren, vor allem die der Menschen aus Osteuropa. Wie hat sich das in diesem Winter entwickelt?
Drei Viertel unserer Gäste sprechen nicht oder nicht gut Deutsch. Die meisten kommen aus Polen, viele auch aus Rumänien oder Bulgarien. Ich habe keine Zahlen, aber mein Eindruck ist schon, dass die Osteuropäer in diesem Winter noch mal mehr geworden sind.
Es gibt das Argument, dass ein Ausbau der Hilfsangebote weitere Obdachlose nach Berlin lockt. Was sagen Sie dazu?
Die berühmten Pullfaktoren … Ja, ich glaube, so etwas gibt es. Wir haben Obdachlose in unseren Einrichtungen aus Polen und Lettland, die sagen: Wir wollen nicht dorthin zurück, da hilft uns ja niemand, hier aber schon. Wir müssen das als europäisches Problem begreifen. Es gab bereits Ankündigungen der polnischen Botschaft, Sozialarbeiter nach Berlin zu holen. Da passiert meines Wissens aber überhaupt nichts. Wir als Stadtmission machen wie die anderen Betreiber keinen Unterschied zwischen den Menschen. Uns ist es gleich, welche Nationalität jemand hat.
Gerade wurde viel über die Essener Tafel diskutiert, die angekündigt hatte, vorerst keine Bedürftigen ohne deutschen Pass aufzunehmen. Macht sich eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Gruppen in den Notunterkünften bemerkbar?
Es gibt immer mal wieder Streitigkeiten zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten, Rumänen gegen Polen, Deutsche gegen Russen, so etwas. Für uns als Betreiber ist völlig klar, dass wir sofort deeskalieren. Für uns haben alle die gleichen Ansprüche. Wir beobachten aber, dass das Konfliktpotenzial insgesamt steigt. Vor einigen Monaten gab es in unserer Bahnhofsmission am Zoo so viele Prügeleien, 20 Polizeieinsätze in einer Woche, da haben wir den Laden für mehrere Tage geschlossen. Das Essen wurde nur noch durch das Fenster ausgeteilt. Ähnliches hören wir auch von anderen Betreibern.
Worauf führen Sie das zurück?
Wenn die Zahl der Bedürftigen steigt, dann geschieht das, was auch von der Essener Tafel berichtet wurde: Es kommt zu Drängeleien in der Schlange. Wenn sich Leute, denen es eh schlechtgeht, noch mal zurückgesetzt fühlen, kocht die Wut richtig hoch. Wir haben eine Sicherheitskraft mehr eingestellt, die sofort eingreift. Außerdem versuchen wir, Angebote räumlich zu entzerren, damit sich große Menschenmengen gar nicht erst bilden.
Wenn Sie sich etwas wünschen könnten, was wäre das?
Für Frauen und Kinder gibt es nach wie vor zu wenig Angebote. Gerade bei Familien wissen wir nicht, wo wir sie unterbringen sollen. Auch Obdachlose im Rollstuhl werden mehr. Die können nicht mal eben an einen Baum pinkeln, die müssen am Abend eingeweicht und aus den Kleidern geschnitten werden. Wir haben kein professionelles Pflegepersonal, das machen alles Ehrenamtliche. Da ist echte Not.
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