Bootsflüchtlinge aus Nordkorea: Kims Totenschiffe
Fischerboote treiben an Japans Küste an: An Bord finden sich skelettierte Leichen, Überlebende sind selten. Die Schiffe machen vielen Angst.
Von diesem Schicksalen ist kaum jemand mehr berührt als Ryosen Kojima. Der Chefpriester des Tosen-Tempels kümmert sich seit Jahren um die sterblichen Überreste der Fischer, die mit ihren maroden Booten auf der Halbinsel Oga hoch im Norden Japans stranden. Wenn Kojima die buddhistischen Sutren für die Verstorbenen rezitiert, dann sind ihm Herkunft und Nationalität egal. Daher stehen die Urnen mit der Asche der acht Nordkoreaner gemeinsam mit anderen Totengefäßen auf einem Tisch hinten im Tempel. Lediglich die cremeweiße Stoffbespannung der Schachteln für die Urnen und der fehlende Namensanhänger verraten, dass die eingeäscherten Toten nicht identifiziert werden konnten.
Schon seit fünf Jahren landen solche Totenschiffe aus Nordkorea vor allem im Herbst und Winter an der Küste im Norden Japans, die der koreanischen Halbinsel zugewandt ist. Dabei ist das Japanische Meer zwischen beiden Ländern über 1.000 Kilometer breit. „Wahrscheinlich fällt der Schiffsmotor aus, dann treiben Westwind und Strömungen die Boote über mehrere Monate nach Japan ab“, sagt ein Offizier der Küstenwache. Auch schlechtes Wetter und schwerer Seegang könnten eine Rolle spielen. „Der Winterozean ist sehr rau, daher finden wir jetzt mehr Wracks“, sagt der Offizier. Eine Obduktion von zwei Leichen ergab, dass die Menschen ertrunken waren.
Aber im vergangenen Jahr ist die Zahl der angeschwemmten Geisterboote an der westjapanischen Küste um knapp das Doppelte gegenüber dem Vorjahr gestiegen. 104 Totenschiffe und 35 Leichen wurden gezählt, so viele wie noch nie. Einige der Toten wurden aus dem Wasser gefischt oder am Strand gefunden. Wie diese Menschen starben und warum sie in Seenot gerieten, war schon immer rätselhaft. Doch diesmal sorgt die politische Krise um die Atom- und Raketenrüstung von Nordkoreas Diktator Kim Jong Un dafür, dass die Spekulationen über die Geisterschiffe ins Kraut schießen. „Niemals zuvor hat es ein Jahr mit so vielen unbekannten Leichen gegeben“, stellte Chefpriester Kojima vom Tosen-Tempel fest. „Ich frage mich, was da los ist.“
Geisterschiffe sind im Japanischen Meer nichts Neues
Dabei sind Geisterschiffe entlang der koreanischen Ostküste beileibe kein neues Phänomen. In den 1960er- und 70er-Jahren waren es allerdings vornehmlich südkoreanische Kutter, die scheinbar spurlos vom Meer verschluckt wurden. Insgesamt 3.500 Fischer verschwanden in jenen Jahren. Für Südkoreas damalige Militärregierung war der Fall eindeutig: Nordkoreanische Soldaten haben die Fischer auf offener See entführt. Dass möglicherweise auch freiwillige Überläufer unter den Verschollenen waren, passte nicht ins Kalte-Kriegs-Narrativ der damaligen Zeit.
Der 2012 übergelaufene Nordkoreaner Kim Hun war laut eigenen Angaben während seiner zwanzigjährigen Militärlaufbahn an 160 Entführungsmissionen beteiligt. Im Februar 2017 legte er ein Geständnis ab. Südkoreanische Fischer seien bis in die 1980er-Jahre begehrte Ziele für Pjöngjang gewesen: einerseits weil sie fernab auf hoher See besonders wehrlos sind. Andererseits boten sie dem Regime wertvolle Informationen: „Fischer kennen meist die lokale Topografie wie ihre Westentasche.
Ryosen Kojima, Priester
Für Nordkorea war es vor allem wichtig, möglichst viel über die genaue Bodenbeschaffenheit des Meeresgrundes und der Küste in Erfahrung zu bringen“, sagte Kim. Im Falle einer möglichen Invasion des Nordens sollte die Information genutzt werden, um geeignete Anlegeplätze für die Marineflotte zu bestimmen.
Die Angst vor Entführungen kommt wieder hoch
Tatsächlich wurden fast 3.000 der zwischen 1965 und 1985 entführten südkoreanischen Fischer wieder freigelassen – nachdem sie zuvor eine Propagandatour durch das vermeintliche sozialistische Paradies erhalten hatten. Das Kalkül von Staatsgründer Kim Il Sung: Die Fischer sollten nach ihrer Rückkehr von der Überlegenheit des Nordens berichten – und so einen Volksaufstand im Süden auslösen, dessen Ziel eine Wiedervereinigung unter nordkoreanischer Fahne sein sollte. Daraus ist nichts geworden. Doch noch immer gelten laut Angaben des UN-Büros für Nordkoreas Menschenrechtsverletzungen in Seoul 516 entführte Südkoreaner als vermisst.
Auch für viele japanische Küstenbewohner steigt die Angst, dass Nordkorea wieder Japaner übers Meer entführen wolle. Schon vor vier Jahrzehnten verschwanden 17 japanische Staatsbürger, darunter die 13-jährige Megumi Yokota. Geheimagenten des Kim-Regimes verschleppten sie nach Nordkorea. Dort mussten sie Spionen die japanische Sprache und Lebensweise beibringen. Besonders groß ist die Angst vor Entführungen in den Orten, in denen Boote mit Überlebenden an Bord ankamen. Insgesamt wurden im Vorjahr 42 Nordkoreaner lebend gefunden, auch ein Rekord.
Im Städtchen Yurihonjo in der Präfektur Akita zum Beispiel stoppte die Küstenwache im November ein Boot mit acht Fischern. „Sind es Spione?“, titelte die Lokalzeitung. „Wahrscheinlich wollten sie jemanden entführen“, sagte die 66-jährige Anwohnerin Mariko Abe der New York Times. Auch Japans Premierminister Shinzo Abe vermutete öffentlich, es seien Spione. Doch der Nordkorea-Spezialist Satoru Miyamoto, ein Politologe von der Universität Seigakuin in Saitama, hält dies für unwahrscheinlich: „Spione würden mit besseren Schiffen kommen“, kommentierte er. Bei Befragungen berichteten einige Überlebende, sie seien in schlechtes Wetter geraten und hätten Motorprobleme gehabt. Dann seien sie nach Japan abgetrieben worden.
Aber viele Japaner bezweifeln diese Erklärung. „Der Gedanke, dass ich diesen illegalen Eindringlichen über den Weg laufe, macht mir Angst“, sagt eine Bewohnerin der Insel Awashima vor der Küste der Präfektur Niigata. Die japanischen Insulaner sind es nicht gewohnt, dass ungebetene Besucher übers Meer kommen.
Ihre Sorge wurde im November bestätigt, als die Küstenwache vor der Nordinsel Hokkaido ein 14 Meter langes Fischerboot vollgestopft mit Diebesgut stoppte. Auf einer Metallplakette stand: „Koreanische Volksarmee, Militäreinheit Nr. 854“. Unter Deck waren ein Fernseher, eine Waschmaschine, ein Motorrad, eine Klimaanlage und ein Generator versteckt. Die zehn Männer an Bord gestanden im Verhör, sie hätten eine unbewohnte Hütte auf einer vorgelagerten Insel geplündert. Dabei hatten sie selbst die Klinken und Scharniere der Türen abgeschraubt und aufs Boot gebracht.
Die Überlebenden wollen wieder nach Hause
Sie seien im September vom nordkoreanischen Hafen Chongjin aufgebrochen, um Tintenfische zu fangen, erzählten die Männer, die nach eigenen Angaben Soldaten waren. Die vielen Lampen auf dem Schiff, mit deren Licht sich die Tiere nachts nach oben locken lassen, schienen diese Geschichte zu bestätigen. Nach etwa einem Monat auf See sei das Ruder gebrochen und ihr Boot nach Japan getrieben. Drei der zehn Männer wurden schließlich festgenommen, als sie versuchten, mit ihrem Boot aufs offene Meer zu fliehen. Andere Überlebende von Geisterschiffen wurden von den japanischen Behörden eingesperrt, bis sie abgeschoben werden. Angeblich wollen alle zurück in ihre Heimat.
Seit seiner Machtübernahme setzt der 34-jährige Kim Jong Un verstärkt darauf, die Nahrungsmittelengpässe vor allem durch Fischereiprodukte zu stabilisieren. Einerseits bietet das Meer für das von Dürren und Überschwemmungen heimgesuchte Land eine wetterunabhängige Nahrungsquelle. Andererseits bildet der Export von Tintenfischen und Königskrabben nach China eine der wenigen Einnahmequellen für ausländische Devisen. In einem Leitartikel der nordkoreanischen Parteizeitung Rodong Sinmun vom November 2017 heißt es: „Fischerboote sind wie Kriegsschiffe, sie schützen das Volk und das Heimatland.“
Die südkoreanische Handelskammer schätzt, dass Nordkorea im Jahr 2016 rund 196 Millionen Dollar durch Fischereiexporte verdient hat. Die US-Regierung geht gar von bis zu 300 Millionen Dollar aus. Seit August 2017 jedoch stehen diese Exporte auf der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrats. Der Nordkorea-Experte Marcus Noland vom Peterson Institute for International Economics glaubt, dass die nordkoreanischen Fischer seither versuchen würden, auf offener See ihre Ladungen auf Boote unter ausländischer Flagge umzuladen, um den Sanktionen zu entgehen.
„Sie sind Menschen wie wir“
In einem nordkoreanischen Fischereibetrieb hatte auch die heute 48-jährige Choi Yeong Ok gearbeitet, bevor sie 1998 aus dem Land geflohen ist. „Wahrscheinlich verunglücken viele Fischer bei Schlechtwetter“, vermutet sie, die einst als Kapitänin eine Bootsmannschaft von sechs Seeleuten führte. Damals seien sie fast bei jedem Wetter in See gestochen, und wenn sie jetzt zurückblickt, erinnert sie sich an mehrere lebensbedrohliche Situationen. Die nordkoreanischen Boote besitzen weder Navigationssysteme noch leistungsstarke Motoren, zudem gilt es die strengen Produktionsvorgaben der Vorgesetzten einzuhalten. Laut Choi Yeong Ok gibt es jedoch noch einen weiteren Grund, warum manche nordkoreanische Seeleute hohe Risiken in Kauf nehmen würden: um ihre politische Treue unter Beweis zu stellen.
Die Stadtverwaltung im japanischen Oga fühlt sich jedenfalls verantwortlich für das menschliche Strandgut aus Nordkorea. Sie hat die Toten einäschern lassen, aber einige Finger- und Fußnägel aufgehoben, damit sie sich mit Hilfe ihrer Erbsubstanz später identifizieren lassen. All dies in der stillen Hoffnung, dass Nordkorea die Kosten dafür übernehmen wird. Angeblich hat Nordkorea über einen Kommunikationskanal des Roten Kreuzes bereits verlangt, die Asche der Fischer zurückzubekommen.
Chefpriester Kojima vom Tosen-Tempel hat damit schon Erfahrung. Vor fünf Jahren hatte er die sterblichen Überreste an einen Vertreter einer Organisation der Nordkoreaner in Japan übergeben. Falls Nordkorea die Asche der neuen Toten nicht zurücknehmen sollte, kommen die Urnen in ein Grab für namenlose Seelen. „Sie sind Menschen wie wir“, meint Priester Kojima. „Aber sie haben niemanden, der nach ihrer Asche schaut.“ Vom Friedhof aus ist der endlose Pazifik zu sehen, dessen Strömung die Toten in ihren Geisterschiffen an Japans Gestade getragen hat.
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