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Kommentar Flüchtlingscamp in CalaisDer „Dschungel“ muss weg

Rudolf Balmer
Kommentar von Rudolf Balmer

Lager in Calais wurden schon öfter geräumt. Gebracht hat das nie was. Stattdessen sollte Frankreich die Flüchtenden über den Ärmelkanal lassen.

Glücklich beim Abschied von Calais – es geht weiter nach Großbritannien Foto: ap

D er Anschein der Rechtmäßigkeit soll in Calais gewahrt bleiben. Zwar ist noch nicht bekannt, wie die französische Justiz über die Frage urteilen wird, ob mit der Räumung des Lagers Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt werden – namentlich für Minderjährige. Vielleicht wird sie einem Teil der humanitären Einwände sogar stattgeben. Trotzdem zweifelt niemand in Frankreich daran, dass die gerichtlichen Beschwerden der Flüchtlingshelfer letztlich nur aufschiebende Wirkung haben werden.

Der Gerichtsentscheid kann jedoch dazu genutzt werden, einmal mehr dem polizeilichen Vorgehen die Aura einer Legitimität zu verleihen. Das Spiel auf Zeit hat immerhin einen konkreten Vorteil: Die Mehrzahl der heute schätzungsweise 7.000 bis 10.000 Menschen sollen laut Regierungsangaben in Aufnahmezentren in ganz Frankreich untergebracht werden. Dort sollen sie dann einen ordentlichen Asylantrag stellen.

Erstens wollen die Bewohner des Camps aber nicht nach Frankreich, sie wollen nach Großbritannien. Zweitens existieren die Aufnahmezentren zumeist nur auf dem Papier. Zwar gibt es unzählige leer stehende Ferienlager oder stillgelegte Kasernen. In manchen Orten aber regt sich massiver Widerstand. Wenn jetzt die Bulldozer nicht gleich die Hütten und Zelte samt den prekären Infrastrukturen dem Erdboden gleichmachen, bleiben nur ein paar Tage mehr zur Vorbereitung.

Wunschdenken von Politikern: Ungelöste Flüchtlingsprobleme in Calais dürfen kein mehr Thema sein

Der französische Staat ist entschlossen – ob mit brutaler Härte oder mit gerichtlich verordneter Humanität –, den „Dschungel“ zu räumen. Spätestens vor den Wahlen im kommenden Frühling dürfen ungelöste Flüchtlingsprobleme am Ärmelkanal kein Thema mehr sein. Das ist allerdings nur das Wunschdenken von Politikern. Jedes Mal, wenn in den vergangenen 15 Jahren auf britisches Drängen hin bei Calais die Lager geräumt wurden, entstanden wenig später neue.

Warum muss eigentlich Frankreich die Flüchtenden in Calais aufhalten und dafür die Sisyphusarbeit übernehmen? Es würde reichen, wenn Frankreich den Vertrag aufkündigte, der Paris die Einreisekontrolle auf französischer Seite des Kanals aufbürdet. Aus der Sicht der Briten wäre das unfair – aber was ist angesichts der menschlichen Tragödie am Ärmelkanal und vor allem aus der Sicht der Flüchtlinge noch Recht und Unrecht?

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Rudolf Balmer
Auslandskorrespondent Frankreich
Frankreich-Korrespondent der taz seit 2009, schreibt aus Paris über Politik, Wirtschaft, Umweltfragen und Gesellschaft. Gelegentlich auch für „Die Presse“ (Wien) und die „Neue Zürcher Zeitung“.
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24 Kommentare

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  • Und Britain sollte die Flüchtenden über den Kanal lassen!

  • Danke für den Kommentar. Mir kommt das Vorgehen der französischen Regierung in Calais so vor. als wolle sie in Komplizenschaft mit Gtoßbritanniens Regierung den Calais Dschungel als Zeugenschaft ihres menschen- und völkerrechtlichen Versagen und Verschuldens vor der Weltöffentlichkeit auslöschen, anstatt sich selber vor nationalen und internationalen Gerichten per Selbstanzeige ihres Unvermögens anzuklagen? - Was angesichts ermittlungsunwilliger Staatsanwalschaften, klageunwilliger Gerichte alerdings eine vergebliche Müh der Wahrheits- und Rechtsfindung wäre - Sind Frankreich, England, Deutschland, Russland, den USA, Iran, Saudiarabien, katar, Bahrain doch, neben anderen, Interventionspartei im Syrienkonflikt in besonderer Weise der Genfer Flüchtlingskonvention, Haager Landkriegsordnung unterworfen, Mit- Verursacher an Strömen von Kriegsgeflüchteten aus dem Nahen, MIttleren Osten, Nordafrika

    • @Joachim Petrick:

      Im Zusammenhang mit dem Dschungel von Calais gibt es kein menschen- oder völkerrechtliches Versagen oder Verschulden. Daher ist vollkommen unklar, weshalb irgendjemand angeklagt werden sollte.

       

      Im Übrigen trägt Deutschland keine wie auch immer geartete Verantwortung für die derzeitigen und kommenden Konflikte im Nahen Osten oder in Nordafrika.

  • "Erstens wollen die Bewohner des Camps aber nicht nach Frankreich, sie wollen nach Großbritannien."

    https://www.youtube.com/watch?v=2uQtClWgL-Q

     

    Die Flüchtlinge bringen vor allem die LKW Fahrer gegen sich auf, weil sie, siehe Video, auch nicht davor zurückschrecken, diese in Gefahr zu bringen, indem sie mit ganzen Bäumen versuchen, diese zum Anhalten zu zwingen.

    • 1G
      12294 (Profil gelöscht)
      @Jens Frisch:

      "(W)as ist angesichts der menschlichen Tragödie am Ärmelkanal und vor allem aus der Sicht der Flüchtlinge noch Recht und Unrecht?"

  • Dann darf man aber England nicht vorwerfen, wenn sie sich auch nicht mehr an "Recht und Gesetz" halten wollen, wenn dies nach dem letzten Satz keine große Rolle mehr spielen soll. Vielleicht fliegt man die Leute dann ohne Verfahren wieder nach Frankreich zurück oder gleich an den Ausgangsort der Flucht??

     

    Man kann doch schlecht fordern, Recht und Gesetz zu vergessen, aber eben nur für die Hälfte der Beteiligten.

  • ist ja bemerkenswert der letzte Satz.

  • Ein paar Anmerkungen:

     

    1. Durch die ungehinderte Weiterreise wird das Flüchtlingsproblem nicht gelöst sondern nur verlagert.

     

    2. Die Regelungen zur Freizügigkeit gelten nicht für Flüchtlinge.

     

    3. Es ist nicht ersichtlich, weshalb durch eine Räumung gegen Menschenrechte oder Grundfreiheiten verstoßen werden sollte.

     

    4. Warum muss Frankreich die Arbeit übernehmen? Weil es die geschlossenen Verträge und Regelungen (Dublin, Vertrag England-Frankreich) vorsehen.

  • Was passiert dann wohl mit den Flüchtlingen in England? Sie werden in den nächsten Zug zurück nach Frankreich gesetzt. Das kann wohl dann doch keine Lösung sein.

  • Nicht räumen ist auch keine Lösung.

  • Das Freizügügkeitsgesetz gilt nur für EU-Bürger - aus berechtigten Gründen.

  • "Stattdessen sollte Frankreich die Flüchtenden über den Ärmelkanal lassen."

     

    Und warum? Ist Frankreich etwa ein unsicheres Ankunftsland, dass man auch von dort "flüchten" muß?

    Irgendwann ist mal genug mit der Hofierung sog. Flüchtlinge.

    • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

      "Hofierung sog. Flüchtlinge"

       

      Da bleiben Sie uns leider Ihre Umschreibung dieser Menschen schuldig. Und jetzt nicht kneifen!

      • @Sapasapa:

        Wer nicht als Flüchtling anerkannt ist, ist kein Flüchtling.

        • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

          Wer auf der Flucht ist, ist ein Flüchtling.

          • @cursed with a brain:

            Schön. Dann kann ich jetzt ja auch nach Monaco oder Luxemburg flüchten.

          • 1G
            12294 (Profil gelöscht)
            @cursed with a brain:

            Immer diese Knack-und-Back-Definitionen... Flucht impliziert ja für gewöhnlich Flucht VOR etwas. Und wenn das etwas dann nicht mehr bedrohlich ist, ist die Flucht zu Ende.

             

            Wenn es nicht irgendwo weg- sondern irgendwo hingehen soll, dann ist das m.E. keine Flucht.

          • 1G
            12294 (Profil gelöscht)
            @cursed with a brain:

            Auf der Flucht vor oder auf der Flucht nach?

        • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

          Yo, eine äußerst technokratische Antwort. Die würde einigen Beamten Freudestränen abringen.

           

          Wie ist denn die Situation in Calais?

  • "Stattdessen sollte Frankreich die Flüchtenden über den Ärmelkanal lassen." Und stattdessen sollten Griechenland und die Türkei alle Flüchtenden nach Deutschland (oder Frankreich) lassen, oder? Flüchtlingsproblem dadurch verlagert? - Ja. Flüchtlingsproblem dadurch gelöst? - Nein.

  • Was würde es Frankreich denn bringen den Vertrag aufzukündigen? UK würde sofort den Tunnel schliessen sobald sich die Menschenmassen in Bewegung setzen.

  • Es wäre ja schön, wenn der Verfasser auch nur ein Mal dort gewesen wäre. Es kontrollieren sowohl die Franzosen als auch die Briten bei der Ausreise auf französischem Boden, ebenso wie es in UK ist, dort kontrollieren die Briten und auch die Franzosen, wenn man UK verlässt. Nur, dass die Franzosen gern Bummelstreik machen...

    Was ist die Grundlage für den Wunsch des Verfassers? "Jeder macht, was er will und frech kommt weiter?"

  • Baut denn England nicht gerade höchstselbst einen Zaun, um die Flüchtlinge in Calais aufzuhalten? Was nutzt es die Flüchtlinge ausreisen zu lassen, wenn England die gar nicht haben will?