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Paul Mason über das EU-Referendum„Nur ein linker Brexit macht Sinn“

Großbritannien sollte die EU verlassen – aber nur im Fall einer Labour-Regierung, meint der Kapitalismuskritiker Paul Mason. Unter den Tories droht der soziale Kahlschlag.

Der EU-Ausstieg ist nicht nur in Großbritannien ein heiß diskutiertes Thema: Demonstranten in Athen Foto: Reuters / Yannis Behrakis
Nina Apin
Interview von Nina Apin und Martin Reeh

taz: Herr Mason, am Donnerstag stimmt Großbritannien über den Brexit ab. Sie sind prinzipiell dafür, aber nicht jetzt. Warum?

Paul Mason: Auf lange Sicht ist es eine gute Idee für Großbritannien, die EU zu verlassen. Wir müssen unsere Stahl­industrie retten. Die EU will das nicht. Außerdem sind wir von Europas unablässiger Forderung, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, betroffen. Eine linke Labour-Regierung würde deshalb mit der EU-Kommission kollidieren. Dann käme der Moment, in dem ein Brexit nötig werden könnte.

Im Guardian haben Sie geschrieben: „Bitte lasst uns in der EU bleiben, weil wir sonst Neoliberalen wie Boris Johnson ausgeliefert sind.“

Es ist ein Unterschied, ob wir aus der EU austreten, wenn wir eine linke Regierung haben, oder ob wir es jetzt tun. Boris Johnson steht bereit, die Tories zu übernehmen – also der Mann, der als Exbürgermeister weite Teile von London privaten Investoren überlassen und die staatliche Kontrolle über die Bildungseinrichtungen zerstört hat. Nach dem Brexit wären unsere Rechte als EU-Bürger weg, und die Tories könnten die Zeit bis zur nächsten Unterhauswahl nutzen, um unsere Staatsbürgerrechte zu beschneiden.

Dennoch: Mit einem Brexit unter der Federführung von Labour-Chef Jeremy Corbyn würden Sie eine nationale Lösung als Antwort auf die Globalisierung wählen.

Wenn wir es nicht schaffen, die Globalisierung zu retten, indem wir den Neoliberalismus untergraben, dann gibt es nur ein Element, das Macht über multilaterale Organisationen hat: der Nationalstaat und darunter die Kommunen. Wir sollen das globalisierte System als vorderste Front unserer Demokratie verteidigen. Aber wenn diese Front überrannt wird, etwa wenn China seine Währung entwertet und Stahl zu Dumpingpreisen nach Europa schickt, dann ziehen wir uns hinter die nationalen Grenzen zurück. Und sagen: Eines Tages werden wir zur Globalisierung zurückkehren. Aber jetzt müssen wir verhindern, dass durch Massenimport billigen Stahls Zehntausende arbeitslos werden und sich dem rechten Spek­trum anschließen.

Warum ist die Stahlindustrie ein so großer Streitpunkt in der Brexit-Debatte?

In Großbritannien sind rund 40.000 Menschen in der Stahlindustrie beschäftigt. In einigen Städten ist sie der einzige Arbeitgeber. Diese Orte sind nicht wohlhabend, aber es geht ihnen besser als den meisten Städten. Die rechtspopulistische UKIP hat bereits große Gewinne in den früheren Industriezentren in Wales erzielt. Ich will nicht, dass diese Partei das frühere Kernland der Arbeiterklasse kontrolliert.

Im Interview: Paul Mason

ist ein vielfach ausgezeichneter britischer Journalist und Autor. Er arbeitete für die BBC, dann als Wirtschaftsjournalist beim Channel 4 und als Kolumnist für den Guardian. „Postkapitalismus: Grundrisse einer kommenden Ökonomie“ heißt sein jüngstes Buch, das im April bei Suhrkamp erschien.

Corbyn ist so weit links, dass er kaum Chancen hat, britischer Premier zu werden. Da ist die Frage eines linken Brexit doch eine rein theoretische.

Corbyn wird es in der Tat schwer haben, die Wahlen zu gewinnen. Aber nicht, weil er zu links ist, sondern wegen Schottland. Im vorigen Jahr sind 188.000 Menschen in England und Wales Labour beigetreten und haben damit die Größe der Partei verdoppelt. In Schottland sind 60.000 bis 70.000 Menschen der Scottish Na­tio­nal Party (SNP) beigetreten, von denen fast alle früher Labour unterstützt haben. Logisch wäre es, wenn sie sich zusammenschlössen.

Aber das Problem ist: Rechte Nationalisten in England mögen die schottischen Nationalisten nicht. Und daraus ergibt sich eine No-Win-Situation für Corbyn. Je mehr er dafür wirbt, dass eine fortschrittliche Regierung mit Labour und SNP möglich ist, desto mehr werden sich manche Leute in England abwenden. Trotzdem ist ein Labour-Sieg in England und Wales möglich.

Sie sind ein notorischer Optimist. Dabei wird ein Hoffnungsträger der Linken links der Sozialdemokratie nach dem anderen klein gemacht. Syriza hat vor einem Jahr eine Art Kapitulationserklärung unterschrieben. Waren die Griechen nicht auf die Auseinandersetzung vorbereitet?

Ihr Fehler war zu glauben, was ihnen Hollande und Renzi gesagt haben: „Ein guter Euro ist möglich.“ Niemals würde man sie aus der EU rauswerfen, es würde einen erträglichen Kompromiss geben. Dass die Eurozone Deutschland und den nordeuropäischen Staaten dazu dient, die Politik mit dem Euro zu steuern, hat Syriza unterschätzt.

Sind Sie für den Grexit?

Wenn Griechenland könnte, sollte es die Eurozone verlassen. Aber Griechenland liegt am äußersten Rand der EU, nur zwei Grenzkontrollen vom „Islamischen Staat“ entfernt und neben einer Türkei, die nicht mehr nach unseren Regeln spielen will. Wir müssen uns bei Griechenland um mehr sorgen als nur um den Euro. Deshalb war es richtig von Syriza, an der Regierung zu bleiben. Wenn eine linke Regierung Griechenland an die Rechte zurückgeben würde, wäre das Chaos wohl noch größer als ohnehin schon.

Der nächste Konflikt steht in Spanien vor der Tür, falls Podemos die Wahlen gewinnt.

Das wird nicht geschehen, weil die PSOE nicht mitspielt. Sie hat nicht verstanden, dass der Neoliberalismus ein sinkendes Schiff ist. Sie wird mit ihm untergehen. Dazu braucht es vielleicht erst eine weitere Wahl. Podemos regiert aber in drei großen Städten. Sozialdemokraten in ganz Europa werden sich das ansehen und sich fragen: Warum haben wir das nicht gemacht? Warum haben wir nicht zu den großen IT-Firmen gesagt, wir besitzen jetzt die Daten? Warum haben wir nicht Airbnb oder Uber rausgeworfen?

Nur die deutsche Linke steckt in der Dauerdepression. Warum?

Ihr habt 4 Prozent Arbeitslosigkeit, die Griechen haben 25 Prozent und ­Kinder, die keinen Führerschein machen, weil sie nie ein Auto besitzen werden. Ihr werdet jetzt auch die Schattenseiten erleben, weil nach Deutschland Millionen Flüchtlinge gekommen sind. Und es werden weitere Millionen kommen, wenn in Europa nicht entschieden wird, sie auf die Staaten zu verteilen. Die deutsche Linke und die Mitte wissen nicht, wie sie sich dazu verhalten sollen.

In Deutschland existiert eine Form von grünem Linkssein. Das ist sehr liebenswert und attraktiv, solange es keine Krise gibt. Aber für die 10 oder 12 Prozent, die die Alternative für Deutschland wählen, hat diese Form des ­Linksseins keine Antwort. Die Linke und die Sozialdemokratie sollten sich den Rest von Europa anschauen, um dort Antworten zu finden.

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8 Kommentare

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  • Der "Unterschied" den es macht, ob England unter einer linken oder unter einer rechten Regierung austritt, lässt sich in Monaten ausdrücken, fürchte ich. In Monaten, die ein einzelner Stahlarbeiter an seinen zwei Händen abzählen kann.

     

    Briten wie Mason brauchen gar nicht auf die Schotten runter sehen. Sie selbst sind schuld, wenn Labour auch unter Corbyn auf keinen grünen Zweig kommt. Wenn das Vertrauen in eine Struktur erst mal zerstört ist, kann man es nicht einfach dadurch wieder aufbauen, dass man ein paar Gesichter austauscht.

     

    Mit den selben Recht, mit dem die Briten der EU nicht trauen, trauen die Schotten London nicht. Leider suchen sie ihr Heil zunächst mal in der Flucht. Erst später wollen sie den Kurswechsel probieren. Sie probieren also genau den "taktischen Rückzug", den Mason propagiert.

     

    Ich verstehe das. Der erste Schreck beim Aufwachen ist immer der Schlimmste. Und lange ist es ja noch nicht her, dass auch die meisten Labour-Anhänger den Neoliberalismus für eine Art Wunderelixier gehalten haben. Falsch ist die Flucht trotzdem. Eine Rückkehr nämlich wird nicht möglich sein. Man kann nicht zurückkehren an einen Ort, der nicht mehr existiert.

     

    Nach dem Brexit wären vor dem Austritt anderer Staaten. Wenn aber die EU-Rechte der Bürger erst einmal "weg" sind, ist unendlich viel Zeit, auch ihre Staatsbürgerrechte zu beschneiden. Dann wird es erst mal lange sehr viel schlimmer werden, bevor es wieder besser werden kann.

     

    Übrigens: In der Politik ist es immer ein Fehler, sich auf Versprechungen zu verlassen. In der Politik bieten nämlich selbst Verträge nur eine sehr bedingte Sicherheit. Versprechungen sind völlig wertlos. Die Syriza-Führung hat das vermutlich auch gewusst. Sie hat nur keine andere Wahl gehabt. Der Austritt war schlicht keine Option für sie. Und die europäische "Linke" ist ja leider nicht bereit gewesen, sich mit ihr zu solidarisieren. Ihre Fleischtopf-Träume waren ihr wichtiger.

  • Mir scheint, die Briten haben so gar nicht verstanden, worum es in dieser Sache geht. - Wir steigen aus, wann es uns gefällt, weil wir Briten sind, tri-tra-talla. Und wenn es schief läuft, dann kommen wir zurück. Dumm-di-dumm. - Wusste nicht, dass das Inselklima so hart aufs Gehirn schlägt, wie es bei den derzeitigen Äußerungen der Briten zu vermuten gilt. Macht Dauerregen doof? - Sollte es zum Austritt aus der EU kommen, was ich nicht hoffe, dann gilt es wirklich, die kalte Schulter zu zeigen. Dauerhaft. Die Briten sind verrückt genug und erfinden bestimmt irgendwas Neues.

    • 5G
      571 (Profil gelöscht)
      @proppo:

      Es ist die Boulevardpresse.

      Die "funktioniert" dort noch besser als bei uns.

  • Guter Mann!

    Vertseht viel und kann's erklären.

  • Masons Vorstellungen von Labour sind etwas anachronistisch oder die Erfahrungen mit "New Labour" und der Agenda 2010 schon wieder vergessen. Corbyn hin oder her...

  • Es ist verlogen nur unter einer bestimmten Regierung für den Brexit zu sein, erst recht wenn die Bedingung eine Corbin-Labour ist.

     

    1) Es wird ab und zu gewählt, wäre Corbin-Labour an der Macht, wäre Sie auch irgendwann weg.

     

    2) Wer sich ein bisschen, ein bisschen-bisschen mit UK auskennt, der weiß das UK immer Wirtschaftsliberaler war, ist, und bleiben wird als der Kontinentaleuropäische EU-Mainstream.

  • 3G
    33523 (Profil gelöscht)

    Dr. Marlboro: Zigraretten sind gesund, aber nur wenn Sie Marlboro rauchen!

  • 5G
    571 (Profil gelöscht)

    Draußen ist draußen.

    Und damit Cameron auch. Was danach kommt, weiß keiner, vermutlich wie bisher, mal die Tories, mal Labour.

    So what?