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Verdrängungsopfer Ali Gülbol„Ich habe erlebt, was Justiz bedeutet“

Ali Gülbol ist ein Symbol des Kampfs gegen Gentrifizierung. Ein Gespräch über alte Heimaten, neue Wohnsituationen und seine Kandidatur für die DKP.

Ali Gülbol im Hof des Hauses in der Lausitzer Straße, aus dem seine Familie zwangsgeräumt wurde Foto: Amélie Losier

taz: Herr Gülbol, Sie wollen im September auf der Liste der DKP ins das Bezirksparlament von Friedrichshain-Kreuzberg einziehen. Wie kommt es zu Ihrer Kandidatur?

Ali Gülbol: Ein Kollege hat mich gefragt, ein ganz netter, freundlicher Mensch. Ich habe dann ein paar Treffen der DKP besucht. Das sind Leute, mit denen ich mich gut verstehe, wir sind einer Meinung, menschlich und politisch.

Was erwarten Sie davon, Bezirksverordneter zu sein?

Ich weiß, dass man dort mehr Arbeit hat, als man bewegen kann. Aber ich denke, dass man da politisch wenigstens mitmischen kann. Man muss sich engagieren, man muss was tun, um was zu verändern. Für seine Interessen.

Was sind denn Ihre Interessen?

Wir haben versucht, uns was aufzubauen, und jemand anders hat uns das versaut

Die Interessen, die jeder Bürger hat: Man möchte gut wohnen, gut arbeiten und gut leben. Dafür muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen. Aber das passiert im Moment nicht.

Vor drei Jahren wurden Sie und Ihre Familie aus Ihrer Kreuzberger Wohnung zwangsgeräumt. War das der Moment, durch den Sie politisiert wurden?

Ich war immer schon politisch interessiert, aber ich war nicht mittendrin. Jetzt bin ich dabei, ich mache jetzt mit. Ich habe am eigenen Leib erlebt, was Politik bedeutet, was Justiz bedeutet.

Gegen Ihre Räumung haben Sie lange vor Gericht gekämpft, aber am Ende verloren. Was war das für eine Erfahrung?

Der Mensch: Ali Gülbol wurde 1971 in Berlin geboren und wohnt seit seiner Geburt in Kreuzberg, wo er gemeinsam mit drei Brüdern, seinen Eltern und einer Tante aufwuchs. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Die Tochter studiert in Frankfurt, die Söhne wohnen noch zu Hause. „Wir müssten die mal rausschmeißen, aber wir sind zu nett“, sagt Gülbol.

Die Zwangsräumung: Am 14. Februar 2013 wurde die Familie Gülbol aus ihrer Wohnung in der Lausitzer Straße 8 zwangsgeräumt. Der erste Versuch, die Gülbols zu räumen, war im Oktober 2012 durch eine Blockade verhindert worden – zum ersten Mal in Berlin und damit ein großer Erfolg für das Bündnis „Zwangsräumung verhindern“, das Gülbol unterstützte. 2006 war das Haus zwangsversteigert worden, der neue Eigentümer verlangte mehr Miete. Einen jahrelangen Rechtsstreit verloren die Gülbols und wurden fristlos gekündigt. (mgu)

Ich habe das erst später verarbeiten können. Das war schon eine riesige Enttäuschung, ein riesiger Einschnitt. Ich hätte das nie für möglich gehalten, dass so etwas passieren kann. Dass Unrecht vollzogen wird, per Gesetz. Und dann ist das passiert, und ich habe mich gewehrt und sehr viel Solidarität erfahren, was mir auch viel Kraft gegeben hat. Ich war mir lange sicher, dass alles noch gut ausgehen würde.

Dann kam es anders. Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich wusste, es muss weitergehen. Es geht immer weiter. Das ist ein Kampf, das ist nicht einfach. Das ganze Leben ist nicht einfach, das ist normal. Damit muss man umgehen. Die Sicherheit hab ich immer: Egal wenn die Scheiße bis zum Hals steht, dann muss man lächeln und weitermachen.

Seit der Räumung wohnen Sie und Ihre Familie wieder in der Wohnung Ihrer Eltern, und zwar drei Stockwerke über Ihrem alten Zuhause. Wie fühlt sich das an?

Ja, ich wohne noch immer hier, was ein bisschen komisch ist. In der Wohnung, in der ich jetzt wohne, bin ich aufgewachsen, das ist mein Zuhause. Aber es ist komisch, dass jetzt in meiner Wohnung auf einmal andere Leute wohnen.

Was sind das für Leute?

Ach, die sind eigentlich ganz nett. Aber die wohnen in meiner Wohnung. (lacht)

Wissen die denn um die Geschichte der Wohnung mit der Räumung?

Na ja, es ist so: Eigentlich habe ich ja keine Lust, mit denen zu reden. Aber ich habe erfahren, dass Freunde von denen auch bei der Blockade dabei waren. Das ist schon komisch. Und die wollten auch den Dialog mit mir. Aber was soll ich mit denen reden? Hallo, du wohnst in meiner Wohnung? (lacht)

War das geplant, dass Sie längerfristig in die Wohnung Ihrer Eltern zurückziehen?

Nein. Der Plan war, schnell was anderes zu suchen. Wer wohnt schon gern bei seinen Eltern? Aber wir haben nichts anderes gefunden, nicht in Kreuzberg. Und woanders möchte ich nicht hin. Ich möchte hierbleiben, solange es geht.

Mit der vorigen Wohnung, die Sie auch selbst renoviert hatten, hatten Sie sich etwas Eigenes aufgebaut.

Genau. Das ist jetzt wieder weg. Man ist wieder abhängig vom Wohlwollen der Eltern. Ich bin wieder Sohn. Vater und Sohn gleichzeitig.

Haben Sie das Gefühl, dass sich die Wohnsituation in Kreuzberg seit Ihrer Räumung noch weiter verschlechtert hat?

Auf jeden Fall, es wird immer schlimmer. Unsere Hausärztin musste aus ihren Räumen raus, viele unserer Freunde ziehen weg, nach Spandau oder Alt-Tempelhof.

Haben Sie zu diesen Freunden noch Kontakt?

Weniger. Sie kommen schon noch oft nach Kreuzberg, aber dann ärgern sie sich, dass sie jetzt in Spandau wohnen. Sie haben Heimweh. Und die Fahrerei, die nervt sie. Es gibt schon auch Freunde von uns, die freiwillig weggezogen sind, die sich ein Haus gekauft haben in ­Rudow oder Buckow. Aber das wäre nichts für mich. Zu ruhig, zu langweilig, jeder ist für sich.

Sie sind in Kreuzberg geboren und aufgewachsen. Was gefällt Ihnen hier so gut, dass Sie nicht wegziehen wollen?

Die Möglichkeiten. Du kannst leben, wie du willst, und niemand stört sich daran. Es ist locker. Du kannst zu jeder Tageszeit rausgehen, und es sind immer Menschen auf der Straße, es ist sicher.

Ist es das denn noch, auch im Görlitzer Park zum Beispiel?

Ja, auf jeden Fall, auch mit den Dealern. Die nerven zwar, aber das sind arme Schweine, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Und die sind ja nicht von allein dorthin gekommen.

Und der angeblich gekippte Kotti?

So ein Quatsch, Kotti ist sicher. Gut, die Geschäftsleute stört das vielleicht, dass da ein paar arme Penner rumlaufen, weil das angeblich die Kunden verschreckt, aber die Leute gehen gern zum Kotti. Das stört niemanden. Das sind arme, abgestürzte Menschen, die niemanden stören wollen.

Was ist mit den nordafrikanischen Taschendiebbanden, von denen in den Medien die Rede ist?

So ein Quatsch. Ich habe noch von niemandem gehört, der beklaut wurde, das sind fast alles Gerüchte. Das wird nur erzählt, damit es einen Grund gibt, diese Leute zu vertreiben.

Was halten Sie von den türkischen Gewerbetreibenden, die jetzt nach der Polizei rufen?

Das sind Spinner. (lacht) Was wollen die denn, wollen die wieder eine Diktatur? Dann sollen die nach Saudi-Arabien gehen, wenn die so was haben wollen. Die wohnen hier in Berlin, in Kreuzberg, die sollen sich mal glücklich schätzen. Glücklich, diese Freiheiten haben zu dürfen.

Gibt es auch Dinge, die besser geworden sind in Kreuzberg im Vergleich zu der Zeit Ihrer Kindheit oder Jugend in dem Kiez?

Die soziale Durchmischung. Eine Zeit lang hattest du hier in Kreuzberg ja nur Türken, da ist es schon in Ordnung, wenn sich das mehr durchmischt. Eben bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Leute noch freiwillig wegziehen. Das gab es ja viel, gerade bei den konservativen Türken, die gesagt haben: Jetzt bin ich was Besseres, jetzt zieh ich weg aus Kreuzberg, kauf mir ein Häuschen. Das ist okay. Aber dass Leute jetzt gezwungen werden wegzugehen, finde ich nicht mehr schön.

Ihre Eltern sind Ende der sechziger Jahre nach Berlin gekommen. Wie war das am Anfang, hier zu wohnen?

Hier im Haus waren wir die einzige türkische Familie. Vorher haben wir an der Mariannenstraße gewohnt, aber das Haus ist abgerissen worden. Wir hatten eine Außentoilette, die wir mit vier anderen Familien geteilt haben, das war eine Katastrophe. Keine Dusche, keine Badewanne. Mit der Zeit hat mein Vater dann alles renoviert, nebenbei, die Wohnung war jahrelang eine Baustelle. Als ich so zehn, elf Jahre alt war, musste ich auch immer mithelfen: Kohlen schleppen, mit meiner Mutter auf den Markt gehen.

Warum sind Ihre Eltern nach Berlin gekommen?

Mein Vater hat in der Türkei eigentlich schon gut Geld verdient, ich weiß nicht, wie er auf die Idee gekommen ist. Na ja, er ist angeworben worden, hat gedacht, da verdiene ich mal ein bisschen mehr Geld, dann gehe ich wieder zurück. So wie es alle gedacht haben. Er ist dann noch mal kurz zurück in die Türkei, aber da gefiel es ihm dann nicht mehr. Er hat hier auf dem Bau gearbeitet und auch schnell gelernt, war dann eine Fachkraft und hat gut Geld verdient. Dann kamen wir, und es war klar, dass das deutsche Schulsystem besser ist, also sind sie noch länger hiergeblieben.

Und heute?

Heute pendeln meine Eltern: den Sommer hier, den Winter in der Türkei. Jetzt würde mein Vater am liebsten ganz hierbleiben, aber das geht ja nicht: Wir sind hier und seine Enkelkinder.

Zur Zeit Ihrer Räumung waren Sie sehr viel in den Medien. Wie war das für Ihre Familie?

Es war belastend. Die war gar nicht einverstanden damit, dass ich so viel mit den Medien gesprochen habe. Meine Frau hat gesagt: Hör auf damit. Für sie war es so, dass sie das immer wieder durchleben musste, was uns passierte, wenn ich mit jemandem darüber gesprochen habe. Auch meine Kinder wollten mit den Medien nichts zu tun haben.

Aber für Sie war es anders?

Ja. Ich habe das so gesehen: Wenn ich das Glück habe, in der Öffentlichkeit zu sein, dann muss man das nutzen. Für mich war das eine Chance.

Hat da bei dem Rest Ihrer Familie auch Scham eine Rolle gespielt?

Genau. Die meisten schämen sich, dass ihnen das passiert ist, und verstecken sich deswegen. Und ich wollte zeigen: Nein, das ist nicht unsere Schuld, wir müssen uns deswegen nicht schämen. Wir haben versucht, uns was aufzubauen, und jemand anders hat uns das versaut. Das habe ich auch beim Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ mitbekommen: Wie die Leute ­sagen, nein, ich will keine Medien, ich schäme mich. Dann muss man sagen: Nein, du musst offensiv damit umgehen, es ist nicht deine Schuld. Aber klar, es wird dir immer gesagt: Wenn du aus der Wohnung geschmissen wirst, dann ist es deine Schuld.

Juristisch war die Räumung wasserdicht. Die Mieterhöhung wurde vor Gericht bestätigt, ebenso die fristlose Kündigung. Haben die Ereignisse Ihren Blick auf die Justiz verändert?

Ja, sehr. Ich habe immer gedacht, die Gesetze sind für die Menschen gemacht. Aber im Gegenteil, jetzt sehe ich es so: Die Justiz dient denen, die die Macht und das Geld haben. Das habe ich mir anders vorgestellt. Dass da Interessen dahinterstehen, dass so entschieden wird, wer recht hat und wer nicht, das habe ich so nicht gedacht.

Sie haben nach der Räumung auch noch Ihren Beruf gewechselt.

Ja. Ich hatte mich ja selbstständig gemacht als Malermeister, aber als ich dann geräumt worden bin und die ganze Sache hier lief, hatte ich keinen Kopf mehr für meine Selbstständigkeit. Jetzt arbeite ich als Hausmeister in dem Flüchtlingsheim in der Motardstraße in Spandau. Ich dachte erst mal, das ist vorübergehend, bis ich einen besseren Job habe oder zurück in die Selbständigkeit gehe. Aber da bin ich jetzt hängen geblieben und mache das auch ganz gerne, bis jetzt jedenfalls.

Was gefällt Ihnen an der Arbeit?

Es gibt zwar viel zu tun, weil das Haus in sehr schlechtem Zustand ist, aber viele der Leute, die da wohnen, sind sehr freundlich. Ich spreche auch Arabisch, weil meine Familie aus der Grenzregion bei Syrien kommt. Eigentlich aber hoffe ich ja, dass es den Job nicht ewig gibt, dass die Heime wieder schließen müssen, weil es keine Flüchtlinge mehr gibt. Das ist ja eine Katastrophe, was da gerade passiert auf der Welt.

Ihre Eltern waren zwar keine Flüchtlinge, aber die Erfahrung, fremd in Deutschland zu sein, haben Sie auch gemacht. Verändert das Ihren Blick?

Auf jeden Fall, ich weiß ja, wie es ist, wenn man als Fremder wahrgenommen wird. Auch jetzt noch. (lacht) Oh, der spricht ja ganz gut Deutsch, sagen Leute zum Beispiel, wie lange bist du denn schon hier? Und dann gibt es natürlich ein paar Trottel, die sagen: Wann gehst du wieder?

Trifft Sie das noch?

Ach, das geht hier rein und da raus. Ich denke dann nur, die Leute sollten sich mal ein bisschen informieren.

Glauben Sie, die neu ankommenden Flüchtlinge werden mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben wie diejenigen, die vor ihnen kamen? Oder werden das andere Geschichten?

Das werden andere Geschichten. Ich erlebe das selbst, dass Leute aus Syrien oder Palästina, die schon länger hier sind, dass die sagen: Ey, ich hab hier mein Leben lang gekämpft, hab nie Aufenthalt bekommen, und die Syrer, die jetzt kommen, die kriegen das sofort.

Gibt es da Neid?

Ja, da gibt es Neid, und dann denk ich: Ey, seid ihr doof? Das ist doch Blödsinn, so zu reden. Man darf sich nicht spalten ­lassen.

Haben Sie sich schon immer als Linker verstanden?

Ja, ich glaube schon, vielleicht nicht so bewusst. Einige meiner Verwandten sind Linke, die sind auch in den 80ern geflohen aus der Türkei, weil sie Linke sind. Irgendwie liegt das in meiner Natur, in dem Sozialen, links zu sein. Alles andere geht für mich nicht.

Wie erleben Sie die aktuelle Situation in der Türkei?

Das ist eine Katastrophe, das beschäftigt mich sehr. Das ist ein Diktator. Am Anfang war das ja nicht so klar, der hat sich als Demokrat ausgegeben, und er hat für manche Leute auch Gutes getan, aber jetzt ist klar, was er eigentlich will. Für mich ist das ein Hitler. Mit einem Freund rede ich schon nicht mehr, weil der immer noch zu Erdoğan hält.

Wie stellen Sie sich Ihr Älterwerden vor?

Auf jeden Fall in Kreuzberg. Zu pendeln, so wie meine Eltern, könnte ich mir auch vorstellen, aber nicht zu lange. Nach spätestens sechs Wochen will ich immer wieder zurück.

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1 Kommentar

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  • Sollte Ali Gülbol tatsächlich zum Bezirksverordneten gewählt werden, wird er vermutlich rasch herausfinden, dass es nicht nur eine Chance ist, wenn "die Medien" sich mit einem abgeben. Er wäre der erste Politiker, der auch nach Jahren noch "frei von der Leber Weg" reden würde. "Die Medien" stürzen sich schließlich ganz besonders gern auf jeden interpretierbaren Satz, der von einem Menschen kommt, dessen Parteizugehörigkeit ihnen nicht gefällt. Und Ali Gülbol hat so einige Sätze dieser Art im Angebot.

     

    Bis es so allerdings weit ist, muss er natürlich versuchen, seine traumatischen Erlebnisse ("Ich hätte das nie für möglich gehalten, dass so etwas passieren kann.") in aller Öffentlichkeit zu verarbeiten. Entsprechende Kompensationsversuche sind immer noch besser als Scham und das Einigeln in der Opferrolle. Vor allem auch für alle anderen, die seine Entwicklung mitverfolgen.