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Kommentar Sexismus in BrasilienDie und sie

Andreas Behn
Kommentar von Andreas Behn

Die Massenvergewaltigung einer 16-Jährigen in Rio zeigt, wie schlecht es um Frauenrechte in Brasilien steht. Schuldig ist immer zuerst das Opfer.

Seit Monaten demonstrieren Brasilianerinnen gegen Sexismus, wie hier im November 2015 in São Paulo Foto: imago/Xinhua

B rasilien ist empört. Und versteht nicht, wo so viel Gewalt herkommt, so viel Gewalt gegen Frauen. Die Massenvergewaltigung einer 16-jährigen, die vergangene Woche publik wurde, hält das Land in Atem. Über 30 junge Männer haben die Jugendliche in einem Armenviertel von Rio de Janeiro offenbar in eine Falle gelockt, vergewaltigt und danach Videoaufnahmen des Verbrechens ins Internet gestellt.

Alle verurteilen die abscheuliche Tat, auch die kürzlich suspendierte Präsidentin Dilma Rousseff ebenso wie ihr Nachfolger, Übergangspräsident Michel Temer. Dessen Ankündigung, sofort eine Sondereinheit der Bundespolizei für die Aufklärung von Verbrechen gegen Frauen einzurichten, überzeugte niemanden. War doch eine seiner ersten Amtshandlungen, das Frauenministerium abzuschaffen. Dementsprechend wurde bei allen Protestmärschen gegen das Verbrechen auch immer der Rücktritt von Temer gefordert, der es fertig brachte, erstmals seit der Militärdiktatur (1964-1985) keine einzige Frau in sein Kabinett zu berufen.

Das einzig Überraschende an dem Fall ist die kollektive Tat: Massenvergewaltigungen sind in Brasilien nicht üblich. Doch Gewalt und sexuelle Übergriffe gegen Frauen sind üblich, ja: geradezu alltäglich. Alle wissen das, und trotz einiger Versuche, gesetzlich gegen diese Verbrechen vorzugehen, scheinen sie weitgehend akzeptiert zu sein.

Allein im öffentlichen Gesundheitssystem bittet alle vier Minuten ein Frau um Hilfe wegen eines Übergriffs. Nur in 13 Prozent der Fälle sind die Täter Unbekannte, bei fast einem Viertel der Fälle ist es der Partner. Laut der von einer brasilianischen Nichtregierungsorganisation erstellten „Landkarte der Gewalt 2015“ nimmt die Gewalt gegen Frauen im Land zu, die Zahl der Morde an Frauen stieg innerhalb der vergangenen zehn Jahre um 21 Prozent. Im Durchschnitt werden in Brasilien 13 Frauen pro Tag ermordet.

Ebenso üblich ist es, die Opfer für die Taten selbst verantwortlich zu machen. Auch die 16-jährige wurde zuerst gefragt, ob sie Erfahrung mit Orgien oder Kontakt zu Drogenhändlern habe. Es dauerte vier Tage, bis dem Ermittlungsleiter der Fall am Sonntag endlich entzogen wurde, nachdem die Anwältin über eine „Kriminalisierung“ ihrer Mandantin geklagt hatte.

Die sozialen Netzwerke machen die Vergewaltigung noch dramatischer. Hunderte haben das Video mit anderen geteilt, Millionen urteilen über das Geschehen. Zwar gab es viele Verurteilungen und Entsetzen, aber auch viel Häme, sexistische Witze, Zustimmung. In Brasilien herrscht ein Grundklima der Milde gegenüber Vergewaltigern, das oft genug zu deren Straffreiheit führt und weiteren sexistischen Aggressionen den Boden bereitet. Deshalb ist auch nur eine Minderheit wirklich empört.

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Andreas Behn
Auslandskorrespondent Südamerika
Journalist und Soziologe, lebt seit neun Jahren in Rio de Janeiro und berichtet für Zeitungen, Agenturen und Radios aus der Region. Arbeitsschwerpunkt sind interkulturelle Medienprojekte wie der Nachrichtenpool Lateinamerika (Mexiko/Berlin) und Pulsar, die Presseagentur des Weltverbands Freier Radios (Amarc) in Lateinamerika.
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