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Kommentar EU und tote FlüchtlingeDas Ende der Rettungslüge

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Die „oberste Priorität“ von Frontex ist nicht die Rettung von Flüchtlingen – sondern deren Abschreckung. Dabei werden Tote in Kauf genommen.

Frontex-Mitarbeiter bei der Abschiebung eines Flüchtlings von Lesbos in die Türkei Foto: ap

S eit Jahren versichern Europas oberste Grenzschützer von Frontex, die Rettung von Flüchtlingen habe für sie „oberste Priorität“. Dass, so viel lässt sich sagen, war gelogen. Denn 2014, als vor Lampedusa immer mehr Schiffe mit Dutzenden, teils Hunderten Menschen untergingen, da wurde anders entschieden. Wäre Rettung Frontex'„oberste Priorität“ gewesen, hätte die Agentur nicht darauf gedrängt, Italiens Marineschiffe von dort abzuziehen, wo die Schiffbrüchigen waren: vor der Küste Libyens.

Dies geschah, wie britische Wissenschaftler nun gezeigt haben, aus nur einem Grund: weitere Flüchtlinge von der Überfahrt abzuschrecken. Hier lag die „oberste Priorität“. Dass deswegen mehr Menschen sterben könnten, das hatte Frontex vorausgesagt. Ausschlaggebend war es für die EU nicht. Und Frontex behielt recht: Die Todeszahlen stiegen im vergangenen Jahr in eine nie dagewesene Höhe.

Wie berechnend im Mittelmeer vorgegangen wurde, lässt nichts Gutes für die Zukunft hoffen. Ein Jahr lang war es um die Flüchtlingsroute um Lampedusa still geworden. Das Fluchtgeschehen hatte sich auf die Ägäis und den Balkan verlagert. Italien konnte durchatmen. Nach der Einigung zwischen der Türkei und der EU hat diese Zeit nun ein Ende. Für Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten wird der Weg über das kriegsgeschüttelte Libyen wieder zur Option – für jene aus subsaharischen Staaten sowieso.

Es ist kein Zufall, dass heute vor allem private Initiativen vor Libyen die Seenotrettung übernehmen – allein 115 Schiffbrüchige nahmen am Sonntag Schiffe des deutschen Vereins „SOS Méditeranée“ und von Ärzte ohne Grenzen an Bord. Die EU hat dort andere Pläne als Leben zu retten: Heute will sie mit libyschen Militärs über eine Ausweitung ihrer Militärmission Eunavfor verhandeln.

Was seit dem Sturz Gaddafis als Tabu galt, kommt jetzt wieder auf die Agenda: Wie schon die Türkei soll nun auch das Bürgerkriegsland von der EU aufgehaltene Flüchtlinge zurücknehmen.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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6 Kommentare

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  • ... Danke für diesen erhellenden und aufklärenden Kommentar!

     

    Die Realität ist meiner Meinung nach noch beschämender für Europa als ich dachte.

     

    Und wir wollen ... eine Werte-Gemeinschaft ... das christliche Abendland ... sein? - Da kann ich nicht mal mehr darüber lachen.

  • Sehr geehrter Herr Jakob,

     

    vielen Dank für Ihren Kommentar. Die von Ihnen angesprochene "Lüge" muss endlich ein Ende haben. Die obersten europäischen Institutionen müssen sich endlich eingestehen, dass wir eine wirksame und stringente Grenzsicherung (auch im Mittelmeer) benötigen. Die reflexhafte und sich stets wiederholende Änderung der jeweiligen Einsatzpolitik kurz nach der Veröffentlichung von weiteren Hiobsbotschaften führt am Ende sehenden Auges zur absichtlichen Versenkung einzelner Schiffe durch die Schlepper zur Erzwingung von Lockerungen.

  • 1G
    1714 (Profil gelöscht)

    Was soll denn dieser Kommentar? Die armen Flüchtlinge werden jeden Abend in unser Nachtgebet aufgenommen! Es gilt, die europäischen (wahlweise abendländischen) Werte zu verteidigen und all' die Geflüchteten gefährden eben diese Werte, sie sind arm und können nix konsumieren, also keinen Umsatz erzeugen. Sie haben oft eine andere Religion, igittigit, wie schrecklich! Und wenn die alle Begrüßungsgeld bekommen, können wir uns nur noch alle drei Jahre ein neues Auto leisten, wie furchtbar. Wenn alle aus Afrika und sonstwo weglaufen - wem sollen wir dann unsere Waffen verkaufen? Also vernichten sie unsere Arbeitsplätze.

    • @1714 (Profil gelöscht):

      Voltaire rotiert nach diesem Kommentar im Grabe....

  • Rettungsaktionen vor der Küste Libyens führen am Ende nur dazu, dass die Flüchtlinge in immer kleineren, seeuntüchtigen Booten aufs offene Meer hinaus fahren, um sich retten zu lassen. Dadurch könnte die Zahl der Todesopfer sogar noch steigen. Ein Rücknahmeabkommen, wie es heute von Italiens Ministerpräsident Renzi vorgeschlagen wurde, könnte die Zahl der Ertrunkenen ähnlich stark sinken lassen wie vor Griechenland.

    • @Maike123:

      Renzi ist ein Lichtblick für Italien nach Berlusconi. Interessant waere es, die von Renzi gewuenschte Wirtschafts- und Haushaltspolitik anhand eines Vergleichs der entsprechenden Politik der EU mit der in den USA zu vergleichen.