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Debatte FlüchtlingshilfeDeutschland liegt nicht in Afrika

800.000 Flüchtlinge in Deutschland? Da lohnt sich ein Blick auf das Zaire von 1994. Und auf Afrikas vorbildliche Flüchtlingspolitik.

Ruandische Kinder in einem Flüchtlingslager in Zaire 1994 Foto: imago/Rainer Unkel

Es ist 21 Jahre und einen Monat her, da ergoss sich im Herzen Afrikas der damals größte Flüchtlingsstrom der Geschichte in einen der chaotischsten Staaten der Welt. Bis zu 10.000 Menschen pro Stunde liefen Mitte Juli 1994 aus Ruanda über die Grenze nach Zaire, wie die Demokratische Republik Kongo damals hieß.

Es waren Hutu auf der organisierten Flucht vor der siegreichen Tutsi-Guerilla Ruandas, die soeben einem Völkermord an rund einer Million Menschen ein Ende gesetzt hatte. Unter den Fliehenden, nach kürzester Zeit rund 1,7 Millionen Menschen, waren unzählige Täter des Völkermordes, die geschlagene ruandische Regierung, ihre Soldaten und Milizen. Von einer „Katastrophe biblischen Ausmaßes“ sprachen die internationalen Helfer und trommelten für Hilfe.

Und die Hilfe kam. Jedes Hilfswerk, das auf sich hielt, zog ins zairische Goma. Deutschland schickte Trinkwasserexperten, die Franzosen entsandten Experten für Massengräber, die US-Luftwaffe warf Schokolade in Bananenplantagen ab.

Man kann – man muss – das kritisch sehen. Die Helfer vergaßen ob des Flüchtlingsdramas in Zaire glatt, dass jenseits der Grenze zu Ruanda weit mehr Menschen nicht geflohen waren: traumatisierte und halb totgehackte Völkermordüberlebende, herumirrende Waisen, in den Wahnsinn getriebene Kämpfer, fassungslose Menschen in einem Land voller Leichen. Für sie gab es nichts. Sie und die neue Regierung waren auf sich allein gestellt. Langfristig gesehen, fuhren sie besser. Heute, über 20 Jahre später, floriert Ruanda, aber Zaire ist als Kongo immer noch ein Elendsland voller Flüchtlinge und Milizen.

Ungemütlich nah

Aber wenn heute Deutschland fassungslos ist, weil 800.000 Menschen dieses Jahr als Flüchtlinge auf deutschem Boden landen sollen, lohnt ein Blick auf Zaire vor zwanzig Jahren. In Deutschland werden Zeltstädte errichtet, man diskutiert über die Nutzung leer stehender Kasernen, man schimpft über Elendscamps und bettelnde Kinder in Fußgängerzonen und guckt verschämt weg, wenn ratlose Ankömmlinge mit schmutzigem Elendsgepäck an Bahnhöfen rätseln, wie sie zur weit entfernten „Erstaufnahmestelle“ kommen sollen. Plötzlich ist das unerfreuliche Weltgeschehen von Syrien bis Eritrea Deutschland ungemütlich nahe gekommen.

Was wäre, würde Deutschland in Afrika liegen? Das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) hätte in Berlin nicht nur ein kleines Lobbybüro, sondern eine mächtige Behörde mit einem größeren Budget als die meisten Ministerien. UN-Bürokraten und üppig dotierte Nothelfer würden gut organisierte Flüchtlingslager aus geordneten Zeltreihen errichten, mit blauen Plastikplanen und Bataillonen von Helfern in weißen Geländewagen und Lkws: auf dem Tempelhofer Feld vielleicht, mit dem leeren Flughafengebäude als UN-Zentrale. Sie würden deutsche Hilfsarbeiter zum Mindestlohn einstellen, selbst das Hundertfache verdienen, alle Villen mieten und sich die Wochenenden in Clubs vertreiben, die für Einheimische rasch unerschwinglich würden.

Deutschland 2015 ist nicht Zaire 1994, und so bleibt dieser für keinen Akteur schmeichelhafte Vergleich reine Fiktion. Aber hat jemals ein deutscher Flüchtlingsbürokrat das „Handbook for Emergencies“ des UNHCR gelesen, die Bibel der praktischen internationalen Flüchtlingshilfe?

Bevorzugt geschützte Gemeinschaften

Durch seine 595 Seiten zieht sich ein Grundsatz: Flüchtlingshilfe wird mit den Betroffenen gemeinsam organisiert, also mit den Flüchtlingen. Das reicht von der Lagerverwaltung bis zur Ausgestaltung der Hilfe und der Sicherheit. Das Wohl der Flüchtlinge steht an oberster Stelle. Von wie vielen Flüchtlingsheimen in Deutschland kann man das behaupten? Gibt es überhaupt irgendein Beispiel dafür, dass Flüchtlinge in Deutschland ein Mitspracherecht haben?

Deutschland liegt nicht in Afrika. Daher gibt es keine mächtige internationale Organisation, die der Regierung vorschreiben kann, wie sie Flüchtlinge zu behandeln hat. In Afrika sind Flüchtlinge, sofern sie im UN-System landen, bevorzugt geschützte Gemeinschaften. In Europa sind sie der nationalen Willkür überlassen, irren von einem Land zum anderen, werden behandelt wie Treibgut und sollen froh sein, wenn man ihnen die Freiheit gewährt, unter Brücken zu schlafen.

Das war nicht immer so. Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1951, entwarfen europäische Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention. Die Bundesrepublik Deutschland hat sie unterzeichnet, die Überwachung ihrer Einhaltung obliegt dem UNHCR. „Die vertragsschließenden Staaten werden den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhalten, dieselbe Behandlung gewähren wie ihren Staatsangehörigen“, steht da. „Keiner der vertragsschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“

UN-Flüchtlingskonvention ist ohne Bedeutung

Eine Utopie? Nein, geltendes Völkerrecht. Nur weil es diese Konvention gibt, kann das UNHCR dafür sorgen, dass das bitterarme chaotische Zaire innerhalb weniger Tage 1,7 Millionen Ruander aufnimmt; und dass von Afghanistan bis Somalia die Menschen wissen, dass sie im Falle der allergrößten Verzweiflung immer noch irgendwo ein Menschenrecht in Anspruch nehmen können. Aber Deutschland liegt nicht in Afrika. Deswegen ist die deutsche Unterschrift unter die UN-Flüchtlingskonvention ohne Bedeutung, obwohl sie völkerrechtlich bindend ist.

Man sollte diesen Text 800.000-mal drucken und jedem in die Hand drücken, der als Flüchtling deutschen Boden betritt. Man sollte ihn dort öffentlich verlesen, wo Flüchtlinge rassistischen Angriffen ausgesetzt sind. Man sollte alle juristischen Hebel in Bewegung setzen, damit jeder Flüchtling ihn in Anspruch nehmen kann, der ihn braucht.

Es ist Zeit, dass Deutschland afrikanischer wird. Angefangen mit dem humanitären Völkerrecht.

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16 Kommentare

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  • Es sind halt nur wenige Völker so wohlstandverroht wie die Schlandbewohner.

  • Danke.

    • @sichtweisen:

      wer noch nie in Afrika war, sollte auch nie darüber ein Wort verlieren, auch wenn es noch so gut gemeint ist.

      Ich habe 2 Wochen in Guinea verbracht, hatte ein persönliches Interesse, und habe während dieser kurzen Zeit einen Erlebnisschatz gesammelt, den man in 1000 Seiten Text nichtmal annähernd fassen kann.

      Ganz ehrlich; wir mit unserem Schubladensystem sind diesen Menschen gnadenlos unterlegen.

      • @Werkzeugkistensitzer:

        ?

  • Mehr Selbstorganisation und Übernahme von Verantwortung durch die Flüchtlinge selbst wäre sehr hilfreich. Sie langweilen sich sowieso zu viel, weil sie legal nicht arbeiten dürfen.

    Flüchtlinge könnten die Küche ihrer Unterkünfte, die Reinigung, sogar Wachschutz usw. eigenverantwortlich betreiben. Man könnte sie auch als Helfer für die überforderten Erstaufnahmestellen in Berlin einsetzen. Natürlich nur auf freiwilliger Basis.

    • @Nase Weis:

      Ich bin mir nicht sicher, ob auf freiwilliger Basis viel zu erreichen ist. Es werden vermutlich die mitgebrachten Anschauungen, Vorurteile und Gewohnheiten ziemlich viele Widerstände erklären, sodass ich eher dazu tendiere, von Flüchtlingen zu verlangen, nach Einweisung und unter freundlich-bestimmter An-Leitung allen Bewohnern (Kinder sollten wie zuhause auch mithelfen!) der Unterkünfte einen ihnen zugewiesenen Beitrag zu leisten. Wenn sie damit zusätzlich ihr Taschengeld rechtfertigen können, bin ich der Ansicht, dass sie es mit Würde und Selbstbewusstsein entgegen nehmen können und sich weniger als Almosenempfänger zu fühlen brauchen. Und ein Appell an das Ansehen einer selbst gepflegten Unterkunft könnte auch der gewünschten Akzeptanz von aussen durchaus dienlich sein. Warum sollten sich - wie Sie sagen - die Flüchtlinge bedienen lassen, um sich andererseits darüber zu beschweren nichts zu tun zu haben?

       

      Wer sich dafür zu gut ist, könnte als Konsequenz mit einem Vermerk in seinem Antrag rechnen.

  • Nach einem halben Jahr ehrenamtlicher Mitarbeit bei der Betreuung von Refugees bin ich inzwischen sehr ernüchtert.

    Die sanitären Anlagen der Unterkunft werden so verschmutzt dass die bezahlte Reinigungskraft zur Reinigung einen Schmutzanzug tragen muss. Die Kücheneinrichtungen werden laufend mutwillig beschädigt und verschmutzt.

    Eine Selbstorganisation ist nicht erkennbar. Selbst ein von den Bewohnern gewünschtes "Sommerfest" musste ohne Mitwirkung der Refugees organisiert werden.

    Wenn schon diese einfache Formen der Organisation scheitern, wie sollen die Refugees dann die Flüchtlingshilfe organisieren?

    Und noch etwas: Der Staat Zaire und die lokalen Autoritäten haben sich an der internationalen Hilfe 1994 ganz schön bedient.

    Die Hilfsflüge mussten Überflug- und Landegbühren bezahlen und beim Start wurden noch mal bis zu 1000 "Startfreigabegebühr" an den örtlichen Flughafenchef fällig. Die Flüchtlinge selbst wurden an der Grenze selbst ebenfalls "zur Kasse gebeten" (=ausgeraubt).

    Soll Deutschland wirklich "afrikanischer" werden, Dominik?

  • Hm. Nicht alles was hinkt ist doch ein Vergleich.

    Vielleicht wäre beim hypothetischen Deutschland = Zaire doch einiges anders:

    - Die Kosten für Versorgung und Unterbringung zahlt die UN bzw. zahlen andere nicht der deutsche Steuerzahler

    - Das Versorgungsniveau ist deutlich geringer. Kein Taschengeld keine Wohnungen (die sowieso mehr als knapp sind für deutsche Arme)

    - medizinische Versorgung bezahlt nicht vom Steuerzahler und viel geringer

    - Flüchtlinge aus dem Nachbarland (!) und nicht aus anderen Kontinenten

    - Flüchtlinge die wieder gehen

    - Bürgerkriegs- und keine Wirtschaftsflüchtlinge

    • @Adreas:

      Googeln sie mal wie sich die UNO und deren Unterorganisationen finanzieren.

      Von wegen nicht der deutsche Steuerzahler.

    • @Adreas:

      Also rufen sie auf gegen Völkerrecht zu verstoßen?

       

      „Die vertragsschließenden Staaten werden den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhalten, dieselbe Behandlung gewähren wie ihren Staatsangehörigen“

       

      Warum nicht gleich Senfgas gegen Flüchtlinge einsetzen. Solche Internationalen Abkommen sind ja egal.

       

      Und wer bezahlt die UN? Genau die Mitgliedsländer, wie zum Beispiel Deutschland. UZnd woher? Nunja natürlich nicht aus Steuermitteln. Wahrscheinlich aus den Schwarzgeldkassen der CDU.

       

      Wo steht bite Flüchtlinge aus dem Nachbarland? Und welches Nachbarland? im Schengenraum ohne grenzen also alle Länder die an die EU grenzen? Nur Staatsbürger des "Nachbarlandes", sind Staatenlose Bürger keine Menschen?

       

      Wirtschaftsflüchtlinge? Ein Unwort. Was ist denn bitte ein Wirtschaftsflüchtling, jemand der keine Möglichkeit hat Geld zu verdienen und verhungern muss? Im eigenen Land diskriminiert wird und da keine Aufstiegsschangen hat? Genau dieser dreckige Abschaum sollen sie doch da bleiben wo sie sind, sie haben schließlich keinen Grund her zu kommen. Sollen sie doch da nicht durchgefüttert werden.

       

      Topp Einstellung.

      • @Sascha:

        So ein Quatsch, Adres hat genau die Punkte genannt, die den Unterschied zwischen der damaligen Situation in Zaire und der heutigen in Deutschland ausmachen. Senfgas gegen Flüchtlinge, ja genau mit diesen Antworten hilfst du ungemein deine Meinungen überhaupt ernst zu nehmen.

  • Ungeschminkte Wahrheit zur Migrationspolitik und überfälligen Gesellschaftspolitik in der Bundesrepublik und (deren) Europäischen Union:

     

    Die acht Millionen Wohlhabenden und Vermögenden, die über mehr als 70 % aller Einkommen und Vermögen in der Bundesrepublik Deutschland verfügen, sie könnten relativ (ökonomisch) problemlos und zugleich für die werktätige Bevölkerungsmehrheit kostenneutral, also: auf eigene Vermögens-Rechnung, rund zehn Millionen Menschen: NATO-Kriegs-, Vertreibungs- und EU-Wirtschafts- und Armutsopfer, mit menschenwürdigen Wohnraum und auskömmlicher Versornung aufnehmen! ---

     

    Die bundesdeutschen und europäischen Wohlhabenden und (persönlich leistungslosen Erschafts-) Reichen könnten, wenn sie nur wollten!

    • 7G
      76530 (Profil gelöscht)
      @Reinhold Schramm:

      Die Rechnung mit den Wohlhabenden geht nicht auf. Schliesslich waren jene noch nicht einmal bereit, die Kunst des Teilens mit ihren Landsleuten zu praktizieren. Dass dies nun ausgerechnet mit Fremden funktionieren soll, würde mich sehr verwundern.

      • @76530 (Profil gelöscht):

        ..., wenn sie nur wollen. ///

         

        [Natürlich wollen sie nicht, ansonsten wäre es nicht 1933 zur Errichtung der antikommunistischen, kapitalfaschistischen und staatsterroristichen Diktatur des deutschen Finanz- und Monopolkapitals (der Quandtschen und Kruppschen Monopolbourgeoisie und ihrer NSDAP) gekommen! ///

         

        Aus der zeitweiligen Niederlage (1945) hat die Bourgeoisie und deren systemtragenden Administration aus allen bürgerlichen Parteien gelernt.

         

        Heute nennt sich ihre gesellschaftspolitische und staatsmonopolistische 'Gaucksche und 'Merkelsche Staats-Einrichtung, modifiziert: "Soziale Marktwirtschaft". Natürlich, in objektiver Wahrheit: die 'Soziale Marktwirtschaft' der Bourgeoisie und Aktionäre [einschließlich deren gut-geschmierten "Sozialpartner_innen"]

  • Danke für den Artikel. Die "Industrienationen" haben sich durch ihren Waffenlobbyismus

    diese Suppe eingebrockt.

    Wir als Deutsche sollten alle Flüchtlinge zu uns einladen und

    Wiedergutmachung anstreben. Alle leeren Dörfer werden wieder bevölkert, es gibt wieder Bäckereien, die kleine Landwirtschaft blüht wieder auf.

    Ein Stückchen Land und seine Ruhe,

    da geht doch was !

     

    Tommi

    • @Tommi:

      Danke TOMMI ! Du sprichst mir aus dem Herzen!!