piwik no script img

Kundenkontakt

MORAL Alice Schwarzer will die Prostitution abschaffen. Und alle reden darüber: Politiker, Polizisten, Bordellbesitzer, Sexarbeiterinnen, Feministinnen. Nur nicht die, ohne die es gekauften Sex nicht gäbe. Aber gehören Freier nicht zur Debatte? Unterwegs in einem speziellen Milieu

Die Debatte

■ Der Appell: Im Oktober wurde in der von Alice Schwarzer herausgegebenen Zeitschrift Emma der „Appell gegen Prostitution“ veröffentlicht. Darin forderten neunzig prominente Erstunterzeichner die Abschaffung von Prostitution. Sie verletze die Menschenwürde, „auch die der sogenannt ‚freiwilligen‘ Prostituierten“. Im November stellte Schwarzer ihren Sammelband „Prostitution – Ein deutscher Skandal“ vor. Unter Protest: „Wo habt ihr eure Zahlen her?“, wurde bei der Buchvorstellung im Publikum gefragt. Gleichzeitig stieg die Zahl der Appellunterstützer: Laut Emma liegt sie mittlerweile bei mehr als zehntausend.

■ Der Gegenappell: Ende Oktober veröffentlichten Sexarbeiterinnen den „Appell für Prostitution“. Sie kritisieren die Diskriminierung von Prostituierten durch Schwarzers Forderungen. Unter anderem der Schauspieler Armin Rohde und die Grünen-Politikerin Monika Lazar unterstützen den Vorstoß.

VON ANNABELLE SEUBERT

Karl versucht nicht zu viel zu sagen, aber auch nichts Falsches. Karl ist ein Mann mit Gewissen, er weiß, was sich gehört und was nicht, und weil sich das, was er tut, nicht gehört, heißt er auch nicht Karl. So wie die anderen Menschen, die in diesem Text auftauchen werden, nicht Michael, Paul, Benjamin und Lea heißen. „Was schreibst du über mich?“, fragt einer. „Ich meine: Was genau?“ Sie sagen: „Das ist nicht fürs Protokoll“ – oder: „Bitte, lass den Wohnort weg.“

Sie haben Angst, geächtet zu werden. Denn das ist es, was Alice Schwarzer, die vergangene Woche ihre Steuerhinterziehung zugegeben hat, fordert. Seit im Herbst ihr neues Buch erschienen ist, „Prostitution – Ein deutscher Skandal“, wird darüber gestritten, ob und wie Prostitution abzuschaffen sei. Eine Forderung, die, hätte sie einen Geruch, nach Scheiterhaufen und Asche riechen würde: Ächtung.

Neunzig Prominente waren Erstunterzeichner des „Appells gegen Prostitution“ in der Emma, darunter Heiner Geißler, Wolfgang Niedecken, Maria Furtwängler. Bei Jauch und Maischberger wurde darüber diskutiert, ob das „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten“, mit dem die rot-grüne Regierung 2002 Prostitution aus der Sittenwidrigkeit geholt und Prostituierten Arbeitnehmerrechte zugestanden hat, in Wahrheit den Flatrate-Sex befördert. Es wurde darüber diskutiert, ob seit der EU-Osterweiterung der Menschenhandel mit Mädchen aus Rumänien und Bulgarien floriert – und es wurden Politiker, Feministinnen, Kriminalhauptkommissare, Bordellbesitzer und Sexarbeiterinnen eingeladen, öffentlich Stellung zu der Frage zu beziehen, wie verwerflich denn Prostitution im Allgemeinen sei. Bloß selten die, die sie in Anspruch nehmen.

Karl im Saunaclub. Erst Steak, dann nach oben

Karl kauft Sex. Er findet das verwerflich. Er findet auch sein Motiv verwerflich, dass er am Anfang dachte: „Was die kann, kann ich auch.“ Rachegefühle, ausgerechnet. Dass ihn seine Frau betrogen hat, will er nicht als Rechtfertigung verstanden wissen, höchstens als Erklärung dafür, dass er 1.000 Euro im Monat in Saunaclubs lässt. Im Samya in Köln oder im Golden Time in Brüggen, man findet viele im Großraum. Jede Woche fährt er zu einem, und niemand müsse sich vormachen, dass ein Mann wegen des Wellnessbereichs in so einen Club gehe. Wobei es schon „sehr schöne Außenanlagen“ gebe, mit Sonnenliegen und Freibad, und manchmal auch ganz gute Gesprächspartner oder Essen à la carte. Fisch, Steak, ein großes Salatbuffet.

Wenn Karl „ein Zimmer macht“, also „ein Mädchen bucht“, geht er nach oben und vereinbart mit dem Mädchen einen Preis. Vierzig, fünfzig Euro für eine halbe Stunde. „Nichts Ausgefallenes“, sagt er, „Girlfriend Sex“. Der Eintritt in den Club kostet extra. Sechzig Euro, zur Happy Hour dreißig.

Karl ist bewusst, dass ihn viele Leute verabscheuen würden, womöglich einen potenziellen Vergewaltiger nennen, wüssten sie um sein Hobby. „Weil es nicht normal ist“, sagt er, „und normal ist das, was die Mehrheit der Gesellschaft will.“ Er findet sein Verhalten ja selbst komisch. „Jetzt lass den Scheiß sein“, denke er oft, wenn er aus einem Bett kommt und ins Auto nach Hause steigt. Aber ein paar Tage später geht es wieder los, dass er will. „Wann ist meine Frau nicht da?“, überlegt er dann. „Wann kann ich hin?“ In einer Bäckerei, gegenüber dem Frankfurter Hauptbahnhof, hat er sich an den vorletzten Tisch gesetzt. Er will nicht, dass ihn jemand hört.

Eigentlich könnte er laut reden. Was er tut, ist legal. Dass er es überhaupt tut, ist der Grund, warum Karl keine Mithörer möchte. Sex für Geld. Er! Anstößig. Unmoralisch. Es ist sein Geheimnis. Er will es gar nicht richtig. Oder doch, er will es schon richtig. Jedenfalls, und das ist der Punkt: Fängt man einmal an, so erklärt das Karl – hört man nur schwer wieder auf.

Jemand verkauft Sex, weil jemand Sex kauft. Nur warum kauft jemand Sex?

Weil er Sex braucht, heißt es, wird ein Mann zum Freier, oder aus Neugier oder Zufall. „Druck ablassen.“ „Muss man mal gemacht haben.“ Nach der Messetagung mit den Kollegen im Rotlichtviertel abgestürzt. War geil.

Sind die Gründe wirklich so banal? Und gehören nicht Freier, die wissen, welche Art von Prostitution sie suchen, mit zur Debatte?

Sie wollen Intimität. Aber unverbindlich

Karl sitzt mit dem Rücken zum Fenster. Hinter ihm fahren Polizeibusse, groß wie Reisebusse, am Bahnhof vorbei. Die meisten von ihnen biegen links ab, Richtung Taunusstraße, Moselstraße, Elbestraße. Dort sind die Läden, in denen eine „WELTNEUHEIT“ oder „1000 PROGRAMME XXX EXTRA SCHARF“ versprochen werden, der Lido Night Club, das Rote Haus, das Sex Inn. Es ist die Ecke Frankfurts, in der man wahrscheinlich zu jeder Zeit auf Männer trifft, die Bier trinken, Männer, die schwanken, und Männer, die Bier spucken.

Es ist ein Teil des Elends, das Schwarzer meint. Der Ausschnitt eines Gewerbes, dessen Abgründe schwer zu ermessen sind – oral auf dem Drogenstrich: zehn bis zwanzig Euro, anal: vierzig bis sechzig. Bordelle mit Geld-zurück-Garantie. Allein die Sprache, die für Verbrechen gefunden wurde. „Frischfleisch“, „eingeritten werden“. Man begegnet ihr schnell in den Internetforen, in denen diese Recherche begann. Freier schreiben dort Berichte über den Sex mit Prostituierten, manche bewerten den „Wiederholungsfaktor“ in Prozent. Es werden Treffen organisiert, auch untereinander, und es gab dort knapp vierzig Zuschriften auf die Anfrage der sonntaz, ob Freier bereit wären, von sich zu erzählen. Junge. Alte. Monogame. Polygame. Männer mit Kindern. Männer mit „einer Menge Input“. Männer im Rollstuhl. Männer, die reflektiert erzählen. Die sich nach dem „Unverbindlichen“ sehnen, wie sie sagen, aber „auch nach Intimität“. Und wollen Intimität nicht alle? Kann man Freier verstehen?

Dass ihn viele Leute kategorisieren werden, auch das ist Karl bewusst, wenn er jetzt sagt: Seine Frau und er hatten zuletzt vor drei Jahren Sex. Sie werden in ihm einen sehen, der seinen Trieb nicht unter Kontrolle hat, einen Ehebrecher, zu stolz, um zum Paartherapeuten zu gehen, zu gewissenlos, um einzusehen, dass er Mädchen, 18, 19 vielleicht und aus Osteuropa, irreparable Schäden zufügt. Im besten Fall wird man Mitleid haben mit einem wie ihm. Wenn schon Freier, dann immerhin ein „netter“.

Und jeder Vorwurf ist berechtigt. Eigentlich sogar korrekt. Karl sieht das. Er hat bloß keine Ahnung, wie er sich ändern soll. Ende fünfzig ist er, sein Gesicht jung und sein Pullover gebügelt. In den Neunzigern war er einmal im Laufhaus, einem Bordell, in dem Freier durch die Gänge laufen und mit Frauen verhandeln dürfen. Hinterher war Karl über sich erschrocken. „Männer, die das machen, dachte ich“, sagt er, und bricht ab. Sind: pervers? Widerlich? Krank? Verroht?

Danach lief sein Leben nicht besonders glatt, aber schon glatt genug. Er heiratete spät, aber schon die Frau, von der er sagen würde, es war und ist die größte Liebe. Er hat seine Frau dafür verehrt, dass sie mit wenig zufrieden ist. Und vielleicht hat ihm gerade der ehrliche Eindruck, den sie machte, „das Weltbild zerstört“. Jedenfalls verlor sie jeden sexuellen Reiz für ihn, als das mit ihrem Ex rauskam. Und jetzt, lange nachdem Karl das erste Mal „mit zitternden Knien vor dem Eisengitter gestanden“, auf den Klingelknopf eines Clubs gedrückt und achtzig Mädchen in Bikinis oder Dessous gesehen hat – „siebzig davon, von denen ich sagen würde: richtig schön“ –, teilen sich seine Frau und er noch ein Bett.

Karl kennt jetzt Männer, die im Monat 10.000 Euro für Prostituierte ausgeben, und Männer, die, statt am Meer, ihre Urlaubstage in Saunaclubs verbringen. Er kennt jetzt Frauen, für die man LKS bekommen könnte, wie das Freier nennen: Liebeskaspersyndrom. Man hat es bei Prostituierten, mit denen ist der Sex so gut, man könnte sich fast in sie verlieben und zu CEF nehmen. Zu Clubehefrauen.

Karl kennt auch Typen, die Mädchen „wie Fleisch“ behandeln, Mädchen, die behaupten, aus Spanien oder Amerika zu sein – „nur nicht aus Rumänien“ –, und er kennt das Problem, nicht zu wissen, „ob man an eine Zwangsprostituierte gerät“.

Einmal ist Karl an eine Rumänin geraten, die sagte, sie müsse von mittags um zwölf bis morgens um sechs arbeiten und habe in der Woche einen Tag frei. Karl sagt: Ein Mädchen, „wie gemalt“.

Er murmelt: „Gewissensbisse“, „Polizei“ und „später“. Drei Worte, von denen das scheinbar harmloseste das bedrohlichste ist. Ist er zur Polizei? Ist er nicht? Erst danach? „Später“ erschwert den Versuch, Karl verstehen zu wollen, und erleichtert den, Alice Schwarzer verstehen zu wollen.

Die Debatte führt ins Nichts, meint Karl, wie sie bisher geführt wurde, mit Vokabeln, die an die Inquisition erinnern. Kein Freier wird je einen Verdacht auf Menschenhandel melden, wenn er bei einem Outing verliert. Vielleicht sogar bestraft wird wie in Schweden, Norwegen, Island oder seit Neuem in Frankreich.

Deutschland sei zu „Europas Drehscheibe für Frauenhandel“ geworden, glaubt Alice Schwarzer. Es gibt keine Zahlen, die ihre Annahme be- oder widerlegen, und von denen, die sie nennt, wird mitunter behauptet, sie fänden ihren Ursprung in ihrem Buch. Die beiden Quellen, die als verlässlich gelten, sind nicht verlässlich: Im „Lagebericht zum Menschenhandel“ des Bundeskriminalamts wurden für 2011 in 482 abgeschlossenen Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels 640 Opfer von Zwangsprostitution gelistet. Doch die Ermittler haben längst eingeräumt, dass die meisten Fälle nie bekannt werden. Und die Untersuchung über „Prostitutionskunden“ des Gesundheitsministeriums ist zehn Jahre alt. Selbst im Statistischen Bundesamt wird nur geschätzt: 400.000 Prostituierte – Schwarzer nennt bis zu einer Million – sollen in Deutschland arbeiten. Wie sich diese Zahl verbreitet hat, das weiß niemand so richtig.

Genau wie niemand so richtig weiß, was als erstes getan werden muss, um gegen Zwangsprostitution vorzugehen. Alle sind sich einig, dass das Gesetz verschärft werden muss – noch vor der Sommerpause, drängen CDU und CSU. Bloß wo fängt man an, wenn man vorhat, Menschenhandel in den Griff zu kriegen?

Im Koalitionsvertrag stehen keine konkreten Maßnahmen. Aber es gibt Pläne von Union und SPD, einen Gesetzentwurf von Union und FDP. Ihnen nach unterläge Prostitution einer Erlaubnispflicht: Wer ein Bordell besitzt oder käuflichen Sex anbietet, der braucht eine Genehmigung, die Gebühren kostet und jederzeit entzogen werden kann. Für stärkere Kontrollen müsste es der Polizei per „Betretungsrecht“ leichter gemacht werden, Zugang zu Bordellen zu erhalten. Dann könnte Flatrate-Sex verboten, könnten Arbeitsschutz- und Hygienestandards festgelegt werden und Zwangsprostituierte einfacher an ihr Aufenthaltsrecht kommen. Bislang erhalten sie es nur, wenn sie vor Gericht gegen die Männer aussagen, die sie verschleppt haben.

Das Mindestalter für Prostitution würde von 18 auf 21 angehoben und eben zur Straftat, was schwer nachzuweisen ist: Die Zwangslange einer Prostituierten wird ausgenutzt, willentlich und wissentlich. Ein „wichtiges Zeichen“, findet Familienministerin Manuela Schwesig, und die Staatssekretärin im Gesundheitsministerium Annette Widmann-Mauz glaubt, Männer würden sich mehr Gedanken „darüber“ machen, wenn sie „dafür“ belangt werden könnten.

Doch Männer wie Karl, die sagen, „achtzig Prozent in den Clubs kommen aus Rumänien oder Bulgarien“, „selbst für die Betreiber ist es schwierig, Zwangsprostituierte zu erkennen“ – machen die sich nicht schon Gedanken darüber und trotzdem weiter?

Karl sagt: „Die Suchtgefahr ist immens groß.“

Er würde sich gern mit seiner Frau vertragen und wünscht sich, dass der „Knacks“ kommt: dass er es kann. Karl will keine Affäre, keine andere Beziehung als die, die er hat. Er fühlt sich nicht wohl dabei, wenn ihm ein Mann im Club erzählt, er würde Weihnachten hier feiern, ohne Familie – und Karl denkt: „Der tut mir leid.“ Und dann: „So weit entfernt bin ich gar nicht davon.“

Würde ihn aber seine Frau, darüber hat er nachgedacht, mit einem Callboy betrügen, wäre das für Karl schlimmer als die Sache mit ihrem Ex. Warum? „Das“, er macht Pausen wo Punkte sind, „macht. Man. Nicht.“

Zweimal im Monat zahlt Benjamin Lea 200 Euro für anderthalb Stunden. Sie sei eine „Servicegranate“

Man traut Karl keine Gräueltaten zu, er würde keinen Sex zum Flatrate-Tarif erstehen oder Frauen gegenüber gewalttätig werden. Trotzdem reicht Mitgefühl ab einem bestimmten Punkt nicht mehr, um bestimmte Taten begreifen zu können.

Und vielleicht hätte es sich mit dem Freier in Düsseldorf ähnlich verhalten, er hatte sich als zuverlässig beschrieben. 44, verheiratet, Vater einer Tochter. In Mails und am Telefon hatte er das Scotti’s vorgeschlagen, ein Diner am Universitätsklinikum. Es lief „Santa Baby“ über einen Lautsprecher an der Tür, vor der Kapelle nebenan rauschte die Tram.

Doch dieser Freier stieg nie aus der Tram. Wahrscheinlich stieg er nie ein. Noch heute ist sein Handy aus.

Der zweite Freier in Düsseldorf wartete schon am Gleis, als der Zug hielt, kurz hinter einem Laufhaus. Frauen in Unterwäsche saßen an den Fenstern. Fenstern mit Nummern.

Michael ist ein aufgeräumter Mann, 49, mit Brille und Hemd, er kann Mathe und viele Daten auswendig, „zwanzig Besuche seit dem 18. 7. 2013“, sagt er, „1-mal Parksauna Residenz, 4-mal Babylon, 13-mal Acapulco, 2-mal Magnum“, auf den ersten Blick könnte er ein Karl sein. Aber Michael ist anders. Eher das Gegenteil von Karl: Ob er ein schlechtes Gewissen hat, „nein, das kannst du ganz groß schreiben.“

Er selbst hat Wolfgang Niedecken geschrieben, weil der den Appell gegen Prostitution unterzeichnet hat. Und „Tante Emma“, sagt er, „natürlich auch“.

Sex, Mord, Drogen – wie im „Tatort“

Die Debatte sieht Michael ähnlich wie Karl. Da werden Dinge vermischt, Menschenhandel mit freiwilliger Prostitution, freiwillige mit unfreiwilliger Prostitution, und die Vorurteile, dass es freiwillige Prostitution nicht geben kann, mit den Vorurteilen, dass Prostitution nur so aussehen kann wie in der Taunusstraße in Frankfurt – ein Sex-Mord-Totschlag-Waffen-Drogen-Cocktail, wie im „Tatort“.

Michael hat das Problem, dass Selbstbefriedigung für ihn nur eine „Akutlösung“ ist und seine Frau nicht mehr mit ihm schläft, seit er sie geheiratet hat. „Marriage Beijing Register Office, 2009“, schießt es aus ihm raus, Spätsommer, er kann die Uhrzeit abrufen. Michaels Frau kommt aus China, er habe sie in einem Datingportal kennengelernt, sei hingeflogen – eine Woche später entschieden sie sich, zusammen zu sein. Er sagt: „entschieden“.

Michael war allein und über eine Enttäuschung mit Ende zwanzig nie wirklich hinweg. Jetzt war er Mitte vierzig, „was soll da noch kommen?“

Über ihn würden die Leute vermutlich sagen, dass er „keine abgekriegt“ und „es nötig“ hat. Seine Frau gestand ihm bald, dass sie ihn für einen „farmer“ hielt, als er sie in Peking besuchte. Einen Bauern. Sie rückte dann auf dem Sofa weg, wenn er versuchte, sie zu berühren.

Er hat das Gefühl, benutzt worden zu sein. Dass sie aus ihrem Land wollte und „alles erreicht hat“, sagt Michael. „Nur vielleicht nicht den richtigen Partner.“ Als er sie danach gefragt hat, hat sie nicht geantwortet.

Michael beschäftigt sich darum viel mit Zeitfenstern. „Ich terminiere es nach der Arbeit“, sagt er, und man wundert sich langsam, warum „es“ so selten ausgesprochen wird, als Fremdkörper identifiziert wird – und gleichzeitig wie eine Nebensächlichkeit klingen soll, die es noch schnell zu erledigen gilt wie der Einkauf fürs Abendessen.

Michael lässt sich am Eingang eines Saunaclubs Schlüsselbund und Kärtchen geben, er legt seine Kleider in den Spind, zieht sich den Bademantel an, duscht, und trinkt zwei Kaffee im „Kontaktraum“. Manchmal beschwert er sich, dass die Musik zu laut ist und fast nur „Grauköpfe“ da sind. Er sieht Männer in seinem Alter, minus zehn, plus zehn Jahre, andere über siebzig. Frauen zwischen 18 und über vierzig. Es gefällt ihm, dass er nicht werben muss. „Man sucht aus“, sagt er.

Michael stellt sich nicht vor die Frauen und mustert. Er stellt sich vor. Er fragt nach ihren Namen. Er hat kein Beuteschema – über kaufmich.com oder poppen.de verabredete er sich einmal „mit einer Dame“, weil er auf den Fotos, die er von ihr sah, ihre Hände mochte. Mit ihr quatschte er zwei Stunden über Karl May und Winnetou, bevor es losging.

Wie Karl ist Michael im „Bereich“ gelandet, weil er den Sex vermisst hat. Anders als bei Karl, der, Hamlet im Wahn ähnlich, entschieden in sein Leid gestolpert ist, war Michael aber hauptsächlich neugierig. Das zeigt sich daran, dass Michael nimmt, „was gerade geht“. Doggy, 69, oral. „Es wird auch gefordert“, sagt er – die Damen hätten mitunter Spaß.

Es zeigt sich auch an den Gedanken, die sich Michael über die Mädchen macht. Tür zu. Tür auf. Duschen. Tür auf. Tür zu. „Wollen die nicht nein sagen oder können die nicht sein sagen?“ Und: „Macht es trotzdem Spaß?“

Eine Frau hat er gesehen, die hatte einen blauen Striemen am Schenkel. „Stressbedingt, hat sie gesagt.“

Stressbedingt? „Ja.“

Vier „Motivmuster“ wurden in einer Studie der Bundeszentrale für politische Bildung zur „männlichen Nachfrage nach käuflichem Sex“ von 2013 festgestellt: sexuelle, soziale und psychische – und die „subkulturelle Erotisierung des Feldes“. Während Michael, der sagt, „ich suche schon die Gefahr“, wohl die Subkultur reizt – das Magische am Kontaktraum, die aufgeladene Stimmung fern von Akten und Büroklammern, dazu „kein Werben, kein Aufschub“, wie in der Studie steht – hat Karl wohl „soziale Motivmuster“: Er will Nähe.

„Psychische Motivmuster“ haben beide: Sie sind gekränkt vom Leben, von ihren Entscheidungen und sich. Der Unterschied besteht darin, dass Karl irgendwie daran glaubt, die Dinge in seinem Privatleben ließen sich wieder regeln, und er sich – vielleicht ja – dementsprechend Prostituierten gegenüber verhält. „Für die perfekte Illusion gehört das Küssen dazu“, sagt er. Oft geht er zu Prostituierten, die seiner Frau „eigentlich ähnlich“ sind.

Über Michael hängt die halbe Hoffnungslosigkeit dieser Welt. „Ob ich sie liebe? Ich glaube nicht“, sagt er, und wirklich: Was soll da noch kommen?

Seine fünfzig Euro steckt er einem Mädchen zwar nach der halben Stunde auf dem Zimmer zu, weil er das am Spind, wo alle zusehen können, erniedrigend findet. „Für sie und für mich“, erklärt er allerdings, und betont das „und“.

Das Gesetz

■ Reform I: Ende 2001 verkündete die erste rot-grüne Bundesregierung das Prostitutionsgesetz, das zu den liberalsten der Welt zählt. Es sollte Prostituierten den Zugang zu Kranken-, Renten- und Arbeitsversicherung erleichtern, sie sollten ihre Löhne gerichtlich einklagen können. Am 1. Januar 2002 trat das Gesetz in Kraft. Davor galten Verträge über sexuelle Dienstleistungen als „sittenwidrig“.

■ Reform II: Nachdem Prostitution in Frankreich verboten wurde, löste Schwarzers Kampagne auch in Deutschland eine Debatte darüber aus, ob das liberale Gesetz und die EU-Erweiterung den Frauenhandel aus Osteuropa befördert. Die Große Koalition plant darum eine Reform. Im Fall „erkennbarer Zwangsprostitution“ sollen Freier bestraft werden. Eine Erlaubnispflicht für Bordelle ist vorgesehen, das Verbot von Flatrate-Sex und ein gelockertes Aufenthaltsrecht für Zwangsprostituierte.

So viel „angstbefreiter“ und „ruhiger“ Michael sein mag, wenn er nach Hause kommt und das Übliche murmelt, Überstunden, im Stau gestanden – die Bezahlung ist ihm unangenehm. Bedeutet sie doch: Was ich mir wünsche, schenkt mir niemand. Etwas fehlt.

Macht ihn das zu einem gedankenlosen Freier, oder zu einem gnadenlosen? Er verachte Männer, sagt Michael, die „für nix alles wollen“. Aber was ist mit Männern, die blaue Striemen am Schenkel nicht deuten?

Würde Paul? Er ist Ende zwanzig und wirkt in dieser Recherche wie der lockerste Freier. Paul hat nicht viel dazu zu sagen, warum er für Sex bezahlt. Eine Stunde, ein Bier. Er schaut aber am häufigsten auf die Notizen, die in einem Pub entstehen, „schreib in der Nähe von Düsseldorf, das reicht.“

Paul kriegt regelmäßig „Schübe“, dann geht er zu einer „Hobbyhure“ und manchmal auf einen Parkplatz. „Das ist so wie: Ich hab Bock auf ein Eis“, sagt er, „oder einen Döner. Irgendwann kommt der Hunger halt wieder.“

Er macht seine Dates spontan aus, er hat da seine Nummern. Er glaubt nicht, dass er eine Kompensation für irgendwas sucht. Es koste nun mal, „wenn gerade nichts anderes da ist“. Seine Freundin ist ihm fremdgegangen, fünf, sechs Jahre waren sie zusammen, und drei Jahre ist sie ihm hinterhergelaufen, aber für ihn war das damit erledigt. Er sagt, es macht ihm nichts aus.

Für Paul ist Prostitution eine Gewohnheit, von der seine Freunde und seine Familie nichts ahnen. „Aus Respekt oder so“ sagt er lieber nichts. Er ist sich nicht sicher, mit wie vielen Frauen er geschlafen hat. Mehr als sechzig auf jeden Fall. Mehr als siebzig. Paul fragt: „Ist das eklig?“

Zum ersten Mal in einem Bordell war er mit 16, einfach, weil es ihn gepackt hat. Wie Michael ist Paul aus Neugier eingestiegen. Paul wollte gar nichts, und auch heute will er wenig. Er macht zwei Wochen Urlaub im Jahr und sonntags die Wäsche. Er ist entweder zu jung oder zu unbedarft, um ausgiebiger zu hinterfragen, weshalb er für Sex bezahlt, und damit so etwas wie Alice Schwarzers fleischgewordene Vision einer Gesellschaftsapokalypse. Männer, für die die Schritte vom Schlimmen zum Nächstschlimmeren, vom Bordell zum Straßenstrich zum Drogenstrich unter Umständen klein sind. Männer, die sagen, „war scheiße, rein, raus, fertig“ – können denen die Elendsfälle noch etwas anhaben; Fälle, wie sie im Landgericht Berlin verhandelt werden?

3. Dezember 2013, 4. Große Strafkammer, Saal 501. Neben den Holzbänken und unter dem Kronleuchter sitzt Adrian O. in einer Glaskammer – dicht an das Loch der Scheibe gedrückt, durch das ein Dolmetscher die Worte des Richters übersetzt.

Adrian O., 33, schmal, aus Constanta, wird schwerer Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger, Ausbeutung von Prostituierten, Zuhälterei und besonders schwere räuberische Erpressung vorgeworfen. Mit der Loverboy-Methode soll er vier Mädchen, zwei davon sechzehnjährig, aus Rumänien gelockt und an die Escort-Agentur „Geile Modelle“ vermittelt haben. Er hat ihnen Liebe vorgespielt.

Das Mädchen, das in der Agentur zu „Susi“ wurde, brachte er „am 19.02.2007 mit dem PKW nach Berlin“, steht in der Anklageschrift, „wo er ihr den Ausweis abnahm und eröffnete, dass sie sich fortan prostituieren müsse“. Eines der beiden sechzehnjährigen Mädchen sei unter geile-modelle.de als „Alexandra24h“ angeboten worden. Mit bis zu 12 Freiern täglich soll sie geschlafen haben, „meistens ohne Kondom, weil dies so gewollt gewesen sei. Sie habe selbst dann gearbeitet, wenn sie ihre Monatsblutung hatte. Der Angeschuldigte O. habe ihr dann einen Schwamm gegeben.“ Er soll ihr außerdem jeden Tag zwei Gramm Kokain gegeben, sie „meistens auf den Kopf und die Seiten ihres Oberkörpers geschlagen“ und ihr gesagt haben, sie solle Kunden „blasen bis zum Ende“. Nach ihrem Fluchtversuch „richtete er eine Schusswaffe auf sie und sagte: ‚Wenn ihr leben wollt, müsst ihr arbeiten.‘ “

„Susi“ und „Alexandra“. Kann es nicht sein, dass solche Mädchen plötzlich auf einem der Parkplätze stehen, auf denen Paul manchmal steht?

Michael hätte theoretisch mit ihnen in Kontakt kommen können. Für „Alexandra“ wurde zusätzlich auf kaufmich.com geworben – dem Portal, über das er die Dame buchte, mit der er über Winnetou sprach.

Adrian O. wurde noch im Dezember zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, doch der Prozess bleibt komplex, nicht nur, weil neben den Betreibern der Escort-Agentur weitere Mittäter angeklagt waren. Auch weil das Mädchen, das „Susi“ genannt wurde, zwischenzeitlich nach Rumänien zurückgekehrt war – und, laut Anklageschrift, „aufgrund einer finanziellen Notlage ihrer Mutter“ wieder nach Berlin kam, um sich zu prostituieren. Freiwillig. Freiwillig?

„Freiwillig, was machen Menschen schon freiwillig?“, fragt Benjamin, nicht weit vom Landgericht – weiter südlich, ein Kaufhaus in Berlin-Schöneberg –, aber meilenweit von diesem Fall entfernt. „Sitzen Sie hier freiwillig und arbeiten?“

Benjamin, 39, ist einer der ersten Freier, die sich im Freierforum gemeldet haben, um über ihre Erfahrungen zu reden – und der erste Freier, der siezt. Er hatte ein Foto von sich geschickt, um sich zu erkennen zu geben, Lederjacke, Ledermütze, ein Porträt bis knapp über die Schultern. Zum Café kam er im Rollstuhl – Verkehrsunfall mit 17, er war Beifahrer. Er wollte längst weg gewesen sein. Die Disco war langweilig.

Was er und Lea haben, ist eine Geschäftsbeziehung, von der sie, so glaubt Benjamin, womöglich mehr profitiert als er. Seit August trifft er fast ausschließlich Lea, sie kommt zu ihm, dann raucht sie eine, dann raucht er eine, „und dann fängt’s an.“ Zweimal im Monat zahlt er ihr 200 Euro für anderthalb Stunden. Lea, sagt er, ist eine „Servicegranate“.

Vielleicht hat Benjamin ein bisschen das LKS. Das Liebeskaspersyndrom. Lea ist schön und gepflegt und, „sagen wir: 34“. Am liebsten sind ihr die „Eintagsfliegen“, meint sie – weiter östlich, ein Kaufhaus in Berlin-Tiergarten – und dass ihr von Anfang an klar war: „Ich geh’ da in ’ne Rolle rein.“ Da wird nichts vermengt.

Lea hat studiert und in einer Beratung gearbeitet, wo sie „wegrationalisiert“ wurde. Lea hatte dann „die Dollarzeichen in den Augen“, deshalb in einer Escort-Agentur angefangen und später eine eigene Homepage angelegt. Sie ist selbstständig, zahlt Steuern als Gewerbetreibende. Sie ist auch gern Dame, sagt sie, sie reist gern und geht gern schick aus.

Deutschland sei zu „Europas Drehscheibe für Frauenhandel“ geworden, glaubt Alice Schwarzer

Früher ließ sich Lea für zehn Tage buchen und flog mit Männern nach Asien oder in die Karibik. Heute macht sie das kaum noch, nach so einem Trip sei nur noch wenig mit ihr anzufangen.

Man müsse offen sein. Attraktiv. Ein bisschen hemmungslos. Angespannte Situationen lockern können. „Routine entwickelst du nur beim Gummiüberziehen“, sagt Lea. Sie hat Grenzen. Sie bricht auch Dates ab. Sie merkt sich keine Gesichter. Das sei so ein Selbstschutz von ihr: „Ich lasse nie Revue passieren, was am Abend zuvor war.“

„Verstehen Sie“, sagt Benjamin, „das Einzige, was die an mir interessiert, ist mein Geld.“ Es wird immer so getan: „Männer begehren. Frauen lieben.“ Machtgefälle, dass er nicht lacht. Es sind doch so gut wie immer die Frauen, die wählen. Also, in der realen Welt. „Wenn sich Männer verlieben, läuft das ins Leere.“

Benjamin hat kein Mitleid mit Prostituierten. Er will auch selbst keines. Einsam ist er, ja, sicher, Typ soziales und psychisches Motivmuster, „aber wenn Sie mit 19 von der Freundin gesagt bekommen, sie will gern zum Strand, aber mit dir im Rollstuhl funktioniert das leider nicht, wenn Sie nur noch Kontakte in die Szene haben, wenn der Beziehungsmarkt ein Wettbewerb ist und Sie davon ausgeschlossen sind – dann bezahlen Sie halt.“

Mag sein, dass Männer, die aus Frust Freier geworden sind, menschlicher argumentieren können als die, die „es mal ausprobieren“ – und in der Aufregung vergessen könnten, wo Brutalität beginnt. Aber fast alle Freier, die in diesem Text aufgetaucht sind, verlagern Menschliches in die Prostitution: Probleme. Karl versöhnt sich nicht. Michael trennt sich nicht. Benjamin traut sich nicht.

Kein Scheiterhaufen, keine Asche. Keine Ächtung

Für das Gesetz bedeutet das: Eine Reform wäre sinnvoll, die Erlaubnispflicht, ein höheres Mindestalter, gelockerte Bedingungen beim Aufenthaltsrecht. Doch selbst wenn Bordelle zu zertifizierten Fachbetrieben würden, wären Zwangsprostituierte noch schwer von Armutsprostituierten oder sich freiwillig Prostituierenden zu trennen. Man müsste jede fragen, warum sie das macht – und ihr glauben. Man müsste Hinweisen folgen, in Freierforen und in Sexportalen. Eine anonyme Meldestelle einrichten für Freier mit Skrupeln.

Für die Gesellschaft bedeutet es die Fähigkeit zur Unterscheidung. Und somit eine Anstrengung: Dass man Freier, solche mit Skrupeln, nicht als Gegner sieht. Kein Scheiterhaufen, keine Asche. Keine Ächtung.

Lea sagt, sie hält sich schwammig, was ihren Beruf angeht. Eventmanagement, so was. Ihr Vater hat es bemerkt, sie haben das einmal besprochen und dann nicht mehr. Er hat gesagt, es ist ihm lieber so, als dass sie jemandem „auf der Tasche liegen“ muss. Sie will keinen Menschenhandel. Sie will keinen Zwang.

Sie will kein Tabu. „Ja, Alice“, sagt Lea. „Ja. Ja. Ich hab’s mir ausgesucht, dieses Metier.“

Benjamin sagt: „Alice Schwarzer hat kein Problem mit Prostitution. Die hat ein Problem mit männlicher Sexualität.“ Er will die Rechnung für den Kaffee zahlen, das sei er ja gewohnt: zu zahlen. „Mir wäre es fast egal, wenn das alle wüssten. Ich wünschte, ich müsste mich nicht rechtfertigen. Verstehen Sie?“, fragt er.

„Verstehen Sie das?“

Annabelle Seubert, 28, ist sonntaz-Redakteurin

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen