: „Urbanes Leben ohne Autos“
SOMMERINTERVIEW Jens Kerstan, Fraktionschef der Grünen in der Bürgerschaft, über die nächste Hamburg-Wahl, Klimaschutz und Stadtbahn, Volksentscheide und Olympia
48, Volkswirt, war von 2001 bis 2008 stellvertretender Landesvorsitzender der Grünen. Seit 2002 ist er Mitglied der Bürgerschaft, seit 2008 Fraktionsvorsitzender. Kerstan ist ledig und kinderlos.
INTERVIEW SVEN-MICHAEL VEIT
taz: Herr Kerstan, seit dreieinhalb Jahren opponieren Sie gegen Bürgermeister Olaf Scholz und seine SPD. Wie groß ist der Frust?
Jens Kerstan: Wir schieben keinen Frust. Mit dem Wahlrecht ab 16 und dem faktischen Fracking-Moratorium haben unsere parlamentarischen Initiativen einen Kurswechsel der SPD ausgelöst. Auch das plötzliche Abschreiben grüner Radfahrpläne ein halbes Jahr vor der Wahl, nachdem dreieinhalb Jahre nichts passiert ist, zeigt, dass unsere Arbeit wirkt. Und auch die Verankerung der Schuldenbremse in der Verfassung zusammen mit SPD und FDP ist ein Erfolg.
Es gibt nur einen Bereich, in dem die SPD richtig hart gespart hat: Der Klimaschutzetat wurde halbiert. Für Grüne Sparen am falschen Ort?
Auf jeden Fall. Klimaschutz ist Vorsorge, darauf sollte man nicht verzichten. Am Anfang sind die Konsequenzen kaum spürbar, aber wenn der Schaden eintritt, ist das Klagen groß. Insofern ist das eine unsolide Politik der SPD.
Fordern Sie beim Autoverkehr weiterhin Einschränkungen wie Tempo 30, Umweltzone und City-Maut?
Wir Grüne sind weiterhin die Anwälte der HamburgerInnen, die unter dem Lärm und Schmutz des Autoverkehrs leiden. Und wir unterstützen diejenigen, die auf das Auto verzichten und eine flexible Mobilität wollen: Wir sind nicht gegen das Auto, sondern für die Menschen, die in der Stadt leben wollen. Dazu gehört auch, Räume für das urbane Leben zwischen den Häusern zurückzuerobern. Der Autoverkehr, so wie er jetzt organisiert ist, verhindert das.
Wie wollen Sie ihn organisieren?
Große Teile des privaten Autoverkehrs müssen rasch auf den Öffentlichen Nahverkehr verlagert werden. Die Senatspläne für ein paar Kilometer U-Bahn in 30 Jahren nützen da gar nichts. Stattdessen muss kurzfristig der Radverkehr gefördert und mittelfristig die Stadtbahn eingeführt werden. Mit diesem Verkehrsmittel kann man sehr rasch für verhältnismäßig wenig Geld viele Stadtteile anbinden. Auf den freiwerdenden Flächen und Plätze ist dann wieder Platz für urbanes Leben.
Bürgermeister Scholz und die SPD glauben, dass eine Stadtbahn nicht durchsetzbar wäre.
Die sehen Verkehrspolitik durch die Windschutzscheibe eines Autos und suchen krampfhaft nach Argumenten, um das zu beschönigen. Ich bin sicher, dass man die Menschen von der Stadtbahn überzeugen kann. Dafür brauchen wir eine breite Beteiligungskultur und anschließend einen Volksentscheid.
Einen Volksentscheid soll es auch über Olympische Spiele geben. Warum haben die Grünen dazu keine klare Meinung?
Wir haben eine sehr klare Meinung dazu: Wir wollen nicht, dass Hamburg für Olympische Spiele unabsehbare finanzielle Risiken eingeht. Ein paar Wochen Party für die Welt und anschließend jahrelang einen schweren Kater – das geht nicht. Deshalb brauchen wir konkrete Pläne, um abwägen zu können, ob der Nutzen die Kosten übersteigt oder nicht. Wenn nicht, sind wir gegen Olympia in Hamburg.
Die nächste Bürgerschaftswahl ist in einem halben Jahr. Die Hauptziele der Grünen?
In Hamburg dominiert nach fast zehn Jahren CDU-geführter Regierungen (von 2001 bis 2011) wieder die SPD.
■ Wahl 2011: Die SPD erreichte mit 48,4 Prozent die absolute Mehrheit: 62 von 121 Mandaten. Die Opposition: CDU 21,9% (28 Sitze), Grüne 11,2% (14), FDP 6,7% (9), Linke 6,4% (8).
■ Wahl 2015: Eine erneute absolute SPD-Mehrheit ist fraglich. Gefährdet ist der Wiedereinzug der FDP, offen der erstmalige Einzug der AfD.
■ Die Grünen: Wurden bislang zwei Mal – 2001 und 2011 – nach jeweils nur einer Legislaturperiode wieder abgewählt. 2015 wollen sie mit einer Doppelspitze antreten. Bei einem Mitgliederentscheid Ende September bewerben sich Parteichefin Katharina Fegebank sowie die Abgeordneten Jens Kerstan und Till Steffen um die beiden Spitzenplätze.
Klimaschutz und Ökologie, Bürgerrechte und lebendige Zivilgesellschaft, Bildung, Wissenschaft und eine Mobilität, die Lebensqualität erhöht.
Falls die SPD dann einen Koalitionspartner braucht: Haben die Grünen Bock, wieder mit den Roten zu gärtnern?
Wir wollen in vielen Bereichen eine andere Politik, als die SPD sie jetzt macht. Wenn das möglich erscheint in rot-grüner Regierungsverantwortung, werden wir das ernsthaft prüfen. Wenn die SPD in ihrer Selbstgefälligkeit aber zu substanziellen Änderungen nicht bereit ist, gehen wir in die Opposition und kämpfen weiterhin für unsere Ziele.
Erzwingen gar zu hohe Grünen-Forderungen nicht eine sozialliberale Koalition?
Wenn die FDP wieder in die Bürgerschaft kommt, wird es kein Rot-Grün geben. So billig wie die FDP können und wollen wir nicht sein.
Langfassung auf www.taz.de/!144329
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen