: Drei Christen adeln Günter Grass
■ Unionspolitiker Hintze, Hausmann und Lintner bekräftigen Kritik am Laudator des Friedenspreisträgers Kemal. Egon Bahr lobt die Fähigkeit des Schriftstellers, „die Heuchelei“ der Regierenden ohne Umschweife zu benennen
Berlin (taz) – Günter Grass hat es geschafft. Ein paar unangenehme Wahrheiten über die deutsche Asyl- und Türkeipolitik reichten aus, um die behäbige Bonner Schaubühne in hektische Aufregung zu versetzen und der aussterbenden Spezies des kritischen Intellektuellen noch einmal zu unverhoffter bundesweiter Beachtung zu verhelfen.
So schön kann Politik sein – fast fühlte man sich an längst vergangene Ratten- und Schmeißfliegentage erinnert, als noch richtig was los war im Land. Regierungssprecher Hausmann (CSU) beeilte sich, Grass' „ungeheuerliche Behauptungen“ aus seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises an Yașar Kemal zurückzuweisen. Eine „unentschuldbare Entgleisung“ erkannte Eduard Lintner (CSU). Ein Land, das so viele politische Verfolgte wie Deutschland aufnehme, brauche sich diese „plumpe Polemik von Grass nicht gefallen zu lassen“, drohte Pastor Hintze. Der CDU-Generalsekretär hatte sich bereits am Vortag mit der Bemerkung, Grass habe sich „endgültig aus dem Kreis ernstzunehmender Literaten verabschiedet“, endgültig aus dem Kreis ernstzunehmender Generalsekretäre verabschiedet. Allein der Münchner Kabarettist Dieter Hildebrandt fand es „sehr tapfer“, daß Hintze es immer wieder versuche, seinen intellektuellen Rückstand gegenüber Grass aufzuholen: „Allein, es gelingt ihm nicht.“
Bundestagsvizepräsident Ulrich Klose (SPD) bezeichnete Grass' Rede in sozialdemokratischer Ausgewogenheit als „ein wenig irritierend“ und als „intellektuelle Polemik“, die „nicht unbedingt weise“ und nicht förderlich für die Beziehungen zur Türkei gewesen sei.
Zustimmung erhielt Grass dagegen aus den Reihen der Grünen und der PDS. Die Grünen-Fraktionssprecherin Kerstin Müller sagte, die „cholerischen Reaktionen“ bestätigten, wie sehr Grass ins Schwarze getroffen habe: „Bundesregierung und CDU können es nicht ertragen, daß ihnen einer der großen Intellektuellen dieses Landes die Wahrheit sagt.“ Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende der Gruppe der PDS im Bundestag, Gregor Gysi, der in Hintzes Kritik einen „Ausdruck des tief gestörten Verhältnisses solcher Politiker zu fortschrittlicher Literatur und Kunst“ entdeckte.
Grass hatte in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche die Abschiebepraxis der Bundesregierung als „abermalige, diesmal demokratisch abgesicherte Barbarei“ bezeichnet – eine Formulierung, die die Ausländerpolitik unterschwellig in Beziehung zum Nationalsozialismus setzt. Das wirkt immer – und es ist diese Provokation, die einen Teil der Bonner Aufregung erklärt und die Eduard Lintner gleich als Verteidiger des ganzen deutschen Volkes in die Bütt steigen ließ: „Der deutschen Bevölkerung Ausländerhaß vorzuwerfen ist ein starkes Stück und eigentlich eine Beleidigung.“ Für Oskar Lafontaine ist Grass' Kritik immerhin ein Anlaß, die deutsche Abschiebepraxis zu überprüfen. Angesprochen sei dabei allerdings nicht in erster Linie der Bund, sondern die Länder. Grundsätzlich begrüßte Lafontaine, daß „ein Schriftsteller von Weltgeltung“ sich einmische.
Schwerer noch wiegt Grass' Vorwurf, die Regierung lasse seit Jahren „todbringenden Handel“ zu und habe nach der Wende selbst Panzer aus NVA-Beständen an die Türkei geliefert. Daß diese Fahrzeuge absprachewidrig auch im Krieg gegen die Kurden eingesetzt werden, ist längst erwiesen. Wie auch erwiesen ist, daß die massive deutsche Militärhilfe an den Bosporus sich in den vergangenen drei Jahrzehnten auf rund sieben Milliarden Mark summiert. So ist es kein Zufall, daß sich keiner der Bonner Echauffeure auf diesen Teil der Grass-Kritik bezieht. Denn was ließe sich dagegen sagen, außer, man dürfe die Wahrheit aus politischen Gründen nicht aussprechen? Der Altsozialdemokrat Egon Bahr sieht hier auch die Substanz der Rede: Die Türkei könnte momentan gar nicht Nato-Mitglied werden, wenn sie es nicht schon wäre. „Grass hat die Selbstverständlichkeit verbrochen, ohne diplomatische Floskeln eine Wirklichkeit zu schildern, nämlich die der Heuchelei“, sagte Bahr im Interview mit der taz.
Wesentlich gelassener als die deutschen Christdemokraten reagierte die Türkei auf die Grass-Rede. Der türkische Außenamtssprecher erklärte: „Grass hat seine eigene Meinung geäußert, er ist berechtigt dazu. Wir haben unsere eigene Meinung.“ Jörg Magenau Interview Seite 2
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen