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Arbeitskultur in JapanTakaichi hält nichts von Work-Life-Balance

Dank seiner neuen Premierministerin diskutiert Japan wieder über „Karoshi“, den Tod durch Überarbeitung. Sie selbst gibt nicht das beste Vorbild ab.

Sie arbeitet weiter, wenn andere nicht mehr können: Japans Premierministerin Sanae Takaichi Foto: Rafiq Maqbool/ap
Martin Fritz

Aus Tokio

Martin Fritz

Japans erste Regierungschefin Sanae Takaichi hat mit ihrem Arbeitsstil eine neue Debatte über Karoshi ausgelöst, das japanische Wort für Tod durch Überarbeitung. Schon unmittelbar nach ihrer Wahl zur Vorsitzenden der Regierungspartei LDP hatte sie angekündigt, den Begriff „Work-Life-Balance“ für sich abzuschaffen.

„Ich werde arbeiten, arbeiten, arbeiten, arbeiten und weiterarbeiten“, versprach die 64-jährige Konservative. Darauf warf ihr ein Interessensverband von Karoshi-Opfern vor, ihre Haltung würde Arbeitnehmer „zu langen Arbeitszeiten zwingen und eine überholte Mentalität wiederbeleben“.

Doch kaum hatte das Parlament sie zur Premierministerin gewählt, wies Takaichi ihren Arbeitsminister an, eine Lockerung der Arbeitszeitregulierung zu prüfen. Damit meinte sie das seit 2019 geltende monatliche Limit von 45 Überstunden mit vorübergehenden Spitzen von bis zu 100 Überstunden. Die „Arbeitsstilreform“ sollte die notorisch langen Arbeitszeiten verkürzen, um Erwerbsarbeit für Hausfrauen und Teilzeitkräfte attraktiver zu machen.

Diese Begrenzungen will Takaichi nun für Beschäftigte aufheben, die länger arbeiten wollen und dabei keinen gesundheitlichen Schaden erleiden. Im Parlament kritisierten oppositionelle Abgeordnete, diese Pläne könnten zu übermäßig viel Arbeit bis hin zum Karoshi führen. Auch nach der Arbeitsstilreform kommt es in Japan immer noch zu jährlich 60 bis 80 Suiziden oder Suizidversuchen infolge von Überarbeitung.

Haare selbst geschnitten, um Zeit zu sparen

Die Debatte nahm an Fahrt auf, als die Regierungschefin am vergangenen Freitag um kurz nach 3 Uhr früh von ihrer Abgeordnetenwohnung zu einer nächtlichen Besprechung mit engen Mitarbeitern in ihren Amtssitz fuhr. Gemeinsam feilten sie im Morgengrauen an Antworten auf schriftliche Fragen von Abgeordneten für ihren ersten Auftritt vor dem Haushaltsausschuss, der um 9 Uhr beginnen sollte. Ihr Faxgerät hätte nicht gearbeitet, daher musste sie ins Amt fahren, erklärte sie später.

Aber schon bei der Sitzung erntete sie Kritik. „Wahrscheinlich haben einige Mitarbeiter die ganze Nacht an der Ausarbeitung der Antworten gearbeitet“, meinte der Oppositionsabgeordnete Takahiro Kuroiwa. Takaichi habe in den Vortagen überall mit rotem Stift Korrekturen in den Entwürfen vorgenommen, berichtete ein Beamter der Zeitung Asahi. „Sie ist wohl der Typ Mensch, der nicht ruhig schlafen kann, wenn er nicht alles selbst überprüft.“

Takaichi räumte mit müdem Gesicht ein, dass sie nicht genug schläft. Offenbar braucht sie mehr als die vier Stunden, die ihrem lebenslangen Vorbild Margaret Thatcher in einer Nacht ausreichten. Aber Takaichi setzt sich selbst so unter Druck, dass sie sich ihre Haare selbst geschnitten hat, um die Zeit für einen Friseurbesuch zu sparen.

Der LDP-Abgeordnete Ken Saito fragte sie bei der Sitzung: „Ist das nicht alles ein bisschen zu viel harte Arbeit? Für gute Leistungen braucht man auch Pausen.“ Als ein Oppositionsvertreter sie aufforderte, ausreichend zu schlafen, nickte Takaichi ihm lächelnd zu.

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10 Kommentare

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  • Die Menschen sind unterschiedlich belastbar. Ich lernte mal einen Gründer kennen, der als Meister für Aluminiumzerspanung aus einer kleinen Dorfschmiede einen 100-Mann-Betrieb entwickelte. Sein erster Lehrling wollte genauso hart arbeiten er. Der Chef hat es geschafft, der Arbeiter bekam einen Burn-Out.

  • Faxgerät?! In Japan? Ja nee... is klar...

    • @Matt Olie:

      Faxgeräte werden in Japan noch umfassend genutzt, auch wenn Sie das vielleicht überrascht.

  • Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass Personen des öffentlichen Lebens Dinge sagen können die einfach Quatsch sind. Als wäre es eine Meinung oder eine innere Einstellung ob der Mensch Schlaf benötigt. Ja und Essen muss er und durch den Wald spazieren... Manchen Leuten passen die Grundbedürfnisse des Menschen einfach nicht ins Konzept.

  • Das Problem ist nicht, dass zu wenig 'gearbeitet' wird. Eigentlich sind die Japaner und andere westlich organisierte Gesellschaften reich genug, um für alle genügend zum Überleben verteilen zu können. Eher im Gegenteil: Um des Profits im globalen Wettbewerb Willen und eben nicht um die elementaren Bedürfnisse der eigenen Gemeinschaft geht es, wenn Menschen genötigt werden, mehr zu schaffen (und das dann auch aufgrund der Überkapazitäten und weil andere noch billiger schaffen oder durch Automaten ersetzt werden) , als zur Existenzsicherung überhaupt notwendig wäre. Letztendlich hat niemand etwas davon, wenn aus Rohstoffen und Überstunden für die Tonne geschuftet wird. Selbst die Investoren werden ärmer, wenn die Marktmechanismen dadurch versagen, dass die einen zuviel herstellen und die überflüssig gewordenen früher einmal produktiven 'Mitarbeiter' sich den ganzen Überfluss gar nicht mehr leisten können, selbst die Einwohner einer Supermacht China. Der daraus folgende Stillstand wäre zwar gut fürs Klima, aber das Ende des Wirtschaftskreislaufs führt zunächst einmal zu Hunger und Elend, wenn die Menschen sich nicht mehr selbst versorgen können. Utopie oder Zukunft ?

  • Ich war mal in einer großen deutschen Werbeagentur Anfang der 2000-er beschäftigt. Kam fast jeden Monat auf fast 250-300 Stunden. 6 Tage Woche. Und am Sonntag warst du so kaputt, dass du dich nicht aufraffen konntest für dich selbst etwas zu tun. Bekam auch nur 40 Std die Woche bezahlt. Nach sechs Monaten kündigte ich mit einem Mittelfinger zu meinem Vorgesetzten.

  • Ich hab ja mein ganzes Leben lang immer gerne Manga-Comics gelesen und tue das auch heute noch, aber ich will einfach mal aussprechen was vielen sogenannten "Otakus" gar nicht bewusst ist:

    Japan hat ein massives Problem mit Rechtsradikalismus und nicht erst seit gestern!

    Die weder "liberale" noch sonderlich "demokratische" LDP ist das große Vorbild der westlichen Rechten!

    Sie ist eng mit der revisionistischen Lobby "Nippon Kaigi" verbunden. Die hauen manchmal Sachen raus, die sich selbst ein Höcke nicht zu sagen traut, völlig ungeniert von der japanischen Öffentlichkeit, deren Maß an Aufklärung und Geschichtskenntnis doch stark zu wünschen übrig lässt...

  • Ich bin gespannt, wie sich dies längerfristig entwickelt, denn, wenn die Premierministerin selbst an ihrer Haltung scheitert, könnte dies auch sein Gutes haben, weil es eben mehr als deutlich macht, dass diese Arbeitshaltung einfach Unsinn ist.

    Aber auch kulturell finde ich dies widersprüchlich, wenn man sich Prinzipien des Zen und die Relevanz der Balance ansieht und berücksichtigt, wie verbreitet dieser in Japan ist.

  • Die Herren Merz, Linnemann, Dobrindt, Spahn und Co. schwärmen sicherlich von den Vorstößen der japanischen Regierungschefin.

    Eine zutiefst gestörte Gesellschaft, die sich zu Tode arbeitet ... wofür?

  • Schlimme neue Welt. Wir alle haben gedacht, es wird besser im neuen Jahrtausend.